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Die Kolumne von Marion Lohoff-Börger | Die spendable Großtante der Masematte
Guten Tag,
kennen Sie die Wörter „jovel“, „schofel“, „Seegers“ und „Kaline“? Ja, das ist Masematte, werden Sie sagen und gehören somit, herzlichen Glückwunsch, zu den durchschnittlichen Menschen in Münster, die einen Mindestwortschatz von vier Wörtern Masematte haben. Vielleicht kommt noch „Leeze“ und „meimeln“ hinzu, dann sind es sechs. Aber wissen Sie auch, dass Masematte keine Geheimsprache, sondern eine Sondersprache ist, die ihren ursprünglichen Wortschatz mit dem Holocaust fast gänzlich verloren hat?
Genau deswegen sprechen wir heute bei der ursprünglichen Form vor 1945 von der Primär- und ab den Fünfzigerjahren von der Sekundärmasematte. Beim dem Begriff Pseudomasematte geht es um aktuelle Neuerfindungen von Masemattewörtern. Zu diesen Neologismen gibt es eine Menge kritisch anzumerken, aber heute soll es um eine hochinteressante, weil geschichtsdokumentierende Spendersprache der Masematte gehen, und zwar um das Jiddische.
Viele der ursprünglichen Masemattesprecher:innen waren Menschen jüdischen Glaubens und verloren ihre Heimat oder noch viel schlimmer ihr Leben durch den brutalen Antisemitismus der Nationalsozialisten.
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Die Masematte ist eine Sondersprache, die sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts in einigen kleinen Vierteln Münsters entwickelt hat, weil die neue preußische Gesetzgebung den ursprünglichen (aus verschiedenen Gründen) „mobilen“ Status einiger Menschen zu „sesshaft“ änderte. Also siedelten sich diverse Menschen – nicht ganz freiwillig – in Münster an und wurden beargwöhnt und nicht sonderlich willkommen geheißen.
Diese Personengruppe entwickelte eine eigene Sprache, die sich aus ihren Herkunftssprachen zusammensetzte. Neben dem Rotwelschen, einer alten Räubersprache aus dem Mittelalter und dem Romanes, der Sprache der Sinti:zze und Rom:nja, ist das Jiddische die Spendersprache, die fünfzig Prozent des Wortschatzes der Masematte geprägt hat.
Die Masematte reizt unter anderem damit, dass ihre Wörter komplett fremd klingen. Wir können sie nicht wie beim Hören von Dialekten ableiten, wie zum Beispiel im Plattdeutschen „kieken“ für „gucken“ . Das ist vermutlich der Grund dafür, warum man im bürgerlichen Münster glaubte, dass es sich dabei nur um eine Geheimsprache mit kriminellen Hintergründen handeln konnte. Menschen, die man nicht verstand, gerieten schnell unter Generalverdacht, etwas Verbotenes im Schilde zu führen. Dass die „Kaline“ eine Frau oder eine Braut ist, der „Gallach“ ein Priester und der „Schauter“ ein Mann, das kann und konnte nur erahnen, wer ausgeprägte Hebräischkenntnisse und ein wenig Fantasie besaß.
Um zunächst das verwandtschaftliche Verhältnis der Masematte zum Jiddischen zu beschreiben, würde ich salopp sagen: Das Jiddische ist die spendable Großtante der Masematte, weil sie sie zur Hälfte mit Worten versorgt, für den sogenannten Mutterwitz, und weil sie für einen umgangssprachlichen, ironisch-schnoddrigen Duktus sorgt.
Millionen geretteter Bücher im Yiddish Book Center
Jiddisch hat slawische Einflüsse, der Wortschatz und auch die Grammatik sind aber wie im Deutschen. Gleichzeitig wird sie mit dem hebräischen Alphabet und von rechts nach links geschrieben. Daher ist es für Deutsche leichter, das gesprochene Jiddisch zu verstehen als das geschriebene. Nebenbei bemerkt, ist das Jiddische sogar die engste verwandte westgermanische Sprache des Deutschen, sie ist ihr ähnlicher als das Englische oder Niederländische. Die Masematte war im Gegensatz dazu immer eine mündlich überlieferte Sprache und ist in dieser Hinsicht dem Romanes ähnlicher.
Das Jiddische entstand mit Beginn unserer Zeitrechnung im Rheinland. Dort entwickelten die Menschen jüdischen Glaubens aus ihrer Herkunftssprache dem Hebräisch-Aramäischen eine Sprache, die sich an die deutschen Dialekte anpasste. Die Menschen nannten sich „Aschkenasim“. Das Hebräisch-Aramäische behielten sie sich für religiöse Zwecke vor und sprachen im Alltag hauptsächlich Jiddisch.
Mit den ersten Pogromen gegen Menschen jüdischen Glaubens im Mittelalter zog es viele von ihnen nach Osten, in den polnisch-russischen Raum. Dort entwickelte sich das Jiddische zu einer vielfältigen Kultur. Es gab Theaterstücke, Zeitungen und Bücher auf Jiddisch. Und selbstverständlich eine eigene Musikrichtung, die Klezmermusik.
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Wie in Deutschland wüteten die Nationalsozialisten auch in Osteuropa und verschleppten und ermordeten Menschen jüdischen Glaubens. Die, die vorher fliehen konnten, gingen oft ins Exil in die USA und nahmen ihre kulturellen Schätze mit. Vermutlich eine der einzigen Schreibmaschinen mit jiddisch-hebräischer Sprache aus dem Deutschland der Dreißigerjahre steht im Jüdischen Museum von Westfalen in Dorsten. Wenn Sie sich für jiddische und jüdische Kultur interessieren, lohnt sich ein Besuch des Museums.
In den Achtzigerjahren, zu der Zeit als viele Exilanten aufgrund ihres Alters ihr Erbe hinterließen, fing ein junger Mann namens Aaron Lansky in den USA an, die Schätze jiddischer Kultur, die ja fünfzig Jahre vorher mit ins Exil genommen wurden, zu sammeln. Das waren vor allem Bücher.
Nur durch sein großes Engagement entstand das heutige Yiddish Book Center in Amherst . Seine Gründungsgeschichte ist spannend und unterhaltsam zu lesen in Aaron Lanskys Buch „Outwitting History. The amazing adventures of a man who rescued a million yiddish books“. Das gibt es auch im deutschen Buchhandel, aber nur auf Englisch.
Als 2018 mein erstes Buch „Mehr Massel als Brassel. Endlich Masematte verstehen und einen toften Lenz hegen“ erschien, nahm ich Kontakt zum Yiddish Bookcenter auf. Tatsächlich steht mein kleines Buch heute dort. Und für die Zukunft nehme ich mir vor, die Leute von dort einmal nach Münster einzuladen, damit sie die Großnichte des Jiddischen, die Masematte, näher kennenlernen.
Leo Rostens geniales Wörterbuch des Jiddischen
Ein weiterer, richtig guter Lesetipp in Sachen Jiddisch ist das Buch von Leo Rosten „Jiddisch. Eine kleine Enzyklopädie“. Rosten erklärt das jiddische Sprachgut anhand von Anekdoten und Witzen. So wird der Sprachwitz des Jiddischen und auch der jüdische Humor auf wunderbare Weise lebendig. Beim Lesen bekommt man intuitiv ein Gefühl für die jiddische Sprache, die Art der Wortbildung und das jiddische Lebensgefühl.
Diese Art und Weise des humorvoll schnoddrigen Sprachgebrauchs mit einer gehörigen Portion Mutterwitz finden wir hier in Münster tatsächlich auch in der Masematte. Sie macht sie so herzlich, rotzig und selbstironisch zugleich. Nehmen wir allein diesen Satz, in dem übrigens alle kursiv gedruckten Wörter aus dem Jiddischen stammen:
„Wenn die Kalinen mit ‘ner Paze auf der Leeze durch die Bendine peseln, dann meimelt dat ömmes in Münster.“ (Wenn die Frauen mit dem Schirm auf dem Fahrrad durch die Gegend fahren, dann regnet es sicherlich in Münster).
Meine Begeisterung für Leo Rostens Ansatz ist, wie Sie vielleicht schon bemerkt haben, immens: Von ihm stammt zum Beispiel eine weiterführende Bedeutungserklärung für das Masemattewort „kochum“. Das Wort bedeutet in der Masematte „klug“ und „schlau“, im Jiddischen heißt es „Chóchem“ und bezeichnet eine kluge, weitsichtige und gelehrte Person. Man müsse auch kein Intellektueller oder Rabbiner sein, so Rosten, um ein „Chóchem“ zu sein, dieser Ausdruck sei auch für Schuster, Barbiere oder Händler passend.
„Auch manche Weise des Talmud hatten sehr bescheidene Berufe“, so Rosten. Den Witz, den Rosten dazu erzählt, möchte ich Ihnen nicht vorenthalten: „Ein junger chochem erzählt seiner Großmutter, er wolle Doktor der Philosophie werden. Die bubbe strahlt. ‚Großartig! Aber was für eine Krankheit ist Philosophie?‘“
Die Geschichte des Jiddischen in Israel
Ich denke, dass wir uns von dieser Art und Weise der Vermittlung von Sprache in Münster in Sachen Masematte inspirieren lassen sollten. Das Buch von Rosten gibt es im Buchhandel, wird aber auch oft – nicht nachvollziehbar für mich – antiquarisch zum Kauf angeboten.
Viele Menschen, die heute in den USA nach ihren familiären Wurzeln suchen, stoßen auf das Jiddische und haben großes Interesse daran, mehr zu erfahren. Aber wie ist es mit dem Jiddischen und dem jiddisch-kulturellen Leben in Israel? Findet man dort Spuren? Nach der Gründung des Staates Israel 1947, wollten viele das Jiddische als Nationalsprache durchsetzen. Das gelang nicht. Der Staat lehnte das Jiddische ab und Hebräisch wurde zur Landessprache.
Der Grund für die aktive Ablehnung war, dass das Jiddische als eine Sprache des Exils und des Leidens verstanden wurde. Dazu kam, dass sie auch noch eng mit dem Deutschen verwandt war, der Sprache der Nazis. Für viele ältere Menschen jüdischen Glaubens war das niederschmetternd, als sie endlich im gelobten Land eintrafen. Hebräisch war die heilige Sprache, das wurde von allen akzeptiert, aber das Jiddische war doch die Sprache des Herzens und das Ergebnis eigenständiger und kreativer jüdischer Entwicklungen im Exil.
Bis heute sprechen einige, besonders ältere Menschen in jüdisch-orthodoxen Siedlungen wie dem Jerusalemer Stadtteil Mea Shearim noch Jiddisch. Auch in Münster sprechen hauptsächlich ältere Menschen Masematte. Ab und zu erzählen mir Personen aus Münster, dass sie sich bei Aufenthalten in Israel aufgrund ihrer Masematte-Kenntnisse recht gut verständigen konnten. Ob ich das glauben soll? Oder handelt es sich hierbei schon um eine Erhöhung und damit verbundene Legendenbildung, die ihren Ausdruck in netten Anekdoten findet?
Vielleicht ist es Ihnen auch schon passiert, dass Leute aus dem Ruhrgebiet oder dem Rheinland ein wenig hämisch, als hätten sie uns Geheimniskrämer aus Münster überführt, behaupten, sie würden „unsere Masematte“ entgegen unserer vermeintlichen Erwartungen sehr gut verstehen.
Der Grund dafür liegt darin, dass das Jiddische Einzug in viele deutsche Dialekte, wie beispielsweise ins Kölsche, ins Ruhrgebietsplatt, aber auch ins Berlinerische oder in den Wiener Dialekt gehalten hat. Wörter wie Maloche, Zaster oder Malessen sind allgemein bekannt und werden in der Umgangssprache oft benutzt. Auch für diesen Umstand hat sich jemand die Mühe gemacht und ein Wörterbuch entwickelt, das allerdings nur noch antiquarisch erhältlich ist. Heidi Stern brachte im Jahr 2000 das Buch „Wörterbuch zum jiddischen Lehnwortschatz in den deutschen Dialekten“ heraus.
Ein jiddisches Wort, das sich großer Bekanntheit erfreut, und das ich selbst in der Vergangenheit immer ohne Vorbehalte witzig-ironisch verwendete, ist das Wort „Mischpoke“. Die „mischpóche“ ist laut Leo Rosten etwas Heiliges und Besonderes in der Welt des jüdischen Denkens. Es sei die alles umfassende Familie jüdischer Menschen mit gemeinsamen Werten und einer großen Gastfreundschaft. Der abfällige Gebrauch als Synonym für „unangenehme Verwandtschaft“ sei nach Leo Rosten auf „vulgären Antisemitismus zurückzuführen, der zahlreiche jiddische Begriffe nicht nur missverstanden, sondern auch bewusst in aggressiver Weise verdreht hat.“ (Rosten, S. 412-413).
Das war für mich eine bittere neue Erkenntnis. Aber auch hier wird mehr als deutlich, wie uns die Beschäftigung mit der Masematte bereichern kann. Wir werden durch das kritische Reflektieren der Kulturform Masematte für so viele Dinge sensibler. Das sehe ich als Geschenk und Herausforderung an und bin deswegen so engagiert darin, das Bewusstsein der Münsteraner Stadtgesellschaft zu verändern.
Masematte: clever und anarchisch
Spannend erscheint mir am Ende meiner heutigen Kolumne noch zu erwähnen, dass die Masemattesprecher:innen das hebräische (nicht das jiddische) Zahlensystem für den Handel benutzten. Im Jiddischen ist das Zählen an das Deutsche angepasst (eijnß, zwei, draj, fir … ). Die deutsche Zahlensprechweise ist komplizierter und verwirrend, denn wir sprechen den Einer vor dem Zehner. Einundzwanzig, statt twentyone, wie im Englischen und eben auch im Hebräischen.
Im Hebräischen sind die Zahlen zudem an das Alphabet angelehnt: Aleph ist der erste Buchstabe und entspricht der „eins“, Beta der zweite, dann kommen gimmel, dahlet, he … und so weiter. Die Zahlen in der Masematte heißen „olf“, „bes“, „kimmel“, „dollar“, „hei“. Viel einfacher und weniger verwirrend wird die Zählweise dann bei den höheren Zahlen. „Jut-bes“ ist die elf und so weiter. 21 heißt also auf Masematte logischerweise: kaff-olf. Es gab einmal eine Initiative in Deutschland, die das grundsätzlich ändern wollte, aber mit dem Anliegen gescheitert ist.
Das haben die kochumen Seegers und Kalinen in Münster für sich anders entschieden. Mein Fazit lautet heute und auch sonst: Masematte ist eben die cleverere Sprache und Anarchie pur.
Herzliche Grüße
Ihre Marion Lohoff-Börger
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Marion Lohoff-Börger
… ist die Frau mit der Masematte und den alten Schreibmaschinen. Auf letzteren schreibt sie Gedichte und verkauft diese in ihrem Atelier an der Wolbecker Straße 105 als Postkarten. Die Masematte möchte die freie Autorin in Münster zu einem lebendigen Sprachdenkmal machen und versucht, dieses mit Kursen, Vorträgen, Lesungen, Büchern und Artikeln für Zeitungen und Onlinemagazine umzusetzen. 2021 stellte sie beim Land Nordrhein-Westfalen den Antrag „Masematte als Immaterielles Kulturerbe“, der abgelehnt wurde mit dem Hinweis, die Stadtgesellschaft Münster müsse sich noch mehr für dieses Kulturgut engagieren.
Die Kolumne
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