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Die Kolumne von Christoph Hein | Von Pferderennen und Wohnungsknappheit


Münster, 18. Juni 2023
stellen Sie sich vor, in Münster würde das Preußenstadion abgerissen, um auf dem Gelände Wohnungen zu bauen. Wohlgemerkt – neu gebaut würde es nicht werden. Die frisch Aufgestiegenen müssten, mit einer Gnadenfrist von einem Jahr, sehen, wo sie blieben, wo sie spielten.
So ähnlich läuft es gerade in Singapur. Dort nämlich wird die Pferderennbahn abgerissen werden. Am 5. Oktober 2024 soll der einhundertste Grandprix auf der Bahn ausgetragen werden. Danach kommen die Planierraupen und Kräne. Denn die Regierung des strengen Stadtstaates hat beschlossen, dass auf dem Gelände in der Größenordnung von rund 200 Fußballfeldern Wohntürme gebaut werden. Das Hobby des kleinen Mannes, Pferdewetten, wird gegen die Wohnungsnot ausgespielt – auf Münster übersetzt also: kein Fußballstadion, sondern Mietskasernen.
Die Pferderennen sind mehr als ein Hobby der Superreichen: Neben den Rennställen sind Hunderttausende Singapurer betroffen, die viel Geld in Wetten auf den Ausgang der rund 550 Rennen jährlich pumpen, dazu natürlich Stallburschen, Pferdemädchen, Händler, die Betreiber der Wettbüros, Kantinenwirte, Reinigungspersonal und Gärtner. Das Ganze ist ein Traditionsgeschäft: Das erste Rennen war im Jahr 1843 in der damals noch britischen Kolonie abgehalten worden.
Nun kann man sagen, Wetten sei des Teufels und der Rennsport sei eine Qual für die Tiere. Darum aber soll es hier nicht gehen. Sondern darum, dass Singapur überaus pragmatisch handelt, für manche auch hartherzig, für manche brutal. Bekannt und zu Recht laut kritisiert wird das mit Blick auf die drakonischen Strafen im Kleinstaat – sie reichen über das Schlagen Gefangener in britischer Tradition bis zum Erhängen, übertrifft ihr Besitz an Rauschgift ein Mindestmaß.
Der Druck ist immens
Mit Blick auf die Rennbahn hat die Regierung entschieden, dass das Schaffen von Wohnraum eine höhere Priorität genieße als der Erhalt der Grünfläche, das Wetten als Hobby der ärmeren Schichten – die Reichen und Superreichen können in einem der beiden Luxuscasinos zocken – oder die Arbeitsstellen, die am Geschäft mit den Vierbeinern hängen. Nun wird die Entscheidung umgesetzt. Ruck, zuck, fertig. Die Verkündung flatterte morgens über die staatlichen Zeitungen in die Briefkästen.
Der Druck, der auf der Regierung lastet, ist immens. Die Menschen murren über den Wohnungsmarkt. Und bald stehen Wahlen in Singapur an. Also gilt es für die Partei, die seit Singapurs Unabhängigkeit 1965 die Geschicke hier führt, Handlungsfähigkeit zu beweisen. Die Anhänger der Rennbahn zählen weniger als die Wohnungssuchenden.
Die Mieten in der asiatischen Wirtschaftsmetropole stiegen seit dem Ausklingen von Corona sprunghaft. Der Anstieg trifft vor allem die Ausländer, die Expats. Seinen eigenen Bürgern bietet Singapur eine Grundversorgung: Sie können sich dank hoher Zuschüsse des Staates schon in sehr frühem Alter eine Eigentumswohnung in den Anlagen der Behörde Housing Development Board (HDB) sichern.
Gut 80 Prozent der Bürger des Stadtstaates besitzen dank der weitblickenden Regeln ein eigenes Dach über dem Kopf. Gerade die neueren dieser „HDB“ sind winzig und werden als „shoe boxes“ belächelt. Selbst Ikea hat sich in Singapur auf die geschickte Möblierung von Wohnungen eingestellt, die nur 30 Quadratmeter messen. Aber: Wer so wohnen darf, ist vor Mietpreissprüngen geschützt. Sie treffen erst die obere Mittelschicht, die ihr HDB vermietet, und sich selbst auf dem freien Wohnungsmarkt tummelt – wo sie wiederum auf zahlungskräftige Ausländer trifft.
Ungewöhnlich deutliche Warnung
Wer aber auf dem freien Markt mieten will, der hat nun ein Problem: Sogar die Deutsche Handelskammer in der Tropenmetropole setzte sich zur Wehr. „Die Mitarbeiter deutscher Firmen in Singapur sind von steigenden Mieten unter Stress gesetzt“, titelte daraufhin die staatliche Zeitung „The Straits Times“. Das war eine für das Blatt ungewöhnlich deutliche Warnung. Denn immerhin arbeiten in Singapur rund 2.100 deutsche Firmen, mehr als 8.000 Deutsche leben auf der reichen Insel der sechs Millionen Einwohner.
Für den sprunghaften Anstieg gibt es viele Gründe. So werden Mietverträge in Singapur in der Regel fest über zwei Jahre geschlossen. Im Folgevertrag bleibt meist alles beim Gleichen, mit Ausnahme einer stark schwankenden Miete. Natürlich machte sich das Ansteigen der Geschäftstätigkeit am Ende von Corona bemerkbar. Während der Pandemie waren – wie in anderen Ländern auch – zahlreiche Singapurer in ihre Heimatstadt zurückgekehrt, beanspruchten ihre eigenen, bislang vermieteten Wohnungen und Häuser und warfen die Mieter heraus – was in Singapur sehr schnell geht.
Zudem wird die hoch entwickelte Tropenmetropole Opfer ihrer eigenen Attraktivität. Das Niederschlagen der Demokratie-Bewegung in Hongkong durch China trieb viele Gutverdiener auf die im Vergleich freier erscheinende Äquatorinsel. Die harte Quarantänezeit und der Handelsstreit mit Amerika ließen Firmen wie BASF oder DHL stillschweigend ganze Führungsetagen aus dem chinesischen Hongkong verlagern.
Zugleich senden die Vorstände nun wieder mehr Mitarbeiter aus Europa, Amerika oder Indien nach Singapur, weil der rigide Stadtstaat nach Anfangsschwierigkeiten bewiesen hatte, dass er selbst mit einer Pandemie umzugehen weiß. Der Wohnraum wurde enger, allein der Preis reguliert ihn. Der Druck stieg wie in einem Dampfkochtopf.
50 Prozent Mieterhöhung?
Satte 44 Prozent der deutschen Arbeitgeber erklärten in der Untersuchung der Außenhandelskammer, dass aufgrund der nun unvorhersehbaren Wohnsituation „psychische Probleme und eine geringere Arbeitsleistung bei den Mitarbeitern zu beobachten sind“. Es kam noch dicker: Die Umfrage ergab auch, dass 43 Prozent der befragten deutschen Unternehmen wegen der steigenden Kosten und Schwierigkeiten bei der Suche nach Mitarbeitern eine Verlagerung bestimmter Geschäftsbereiche aus Singapur in andere Länder – insbesondere Malaysia, Vietnam und Thailand – in Betracht zögen.
Die Europäische Handelskammer in Singapur sekundierte den Deutschen: Nach einer ihrer Umfragen erklärten sieben von zehn befragten Firmen, sie seien auf einen Wegzug aus Singapur vorbereitet, wenn die Kosten weiter stiegen. Die Hälfte der befragten Ausländer gaben an, ihre Mieten seien 2022 oder 2023 um mehr als 40 Prozent angehoben worden. Laut der staatlichen Urban Development Authority (URA) hat der durchschnittliche Mietpreis im vergangenen Jahr knapp 30 Prozent zugelegt. In den vergangenen drei Jahren sei er um 42 Prozent gestiegen.
„Die Hälfte der befragten Unternehmen geht davon aus, dass die Mieten 2023 um weitere 30 bis 50 Prozent steigen werden, während 16 Prozent sogar mit einem Anstieg von mehr als 50 Prozent rechnen“, heißt es. 50 Prozent Mieterhöhung? Das ist in einem Markt wie Singapur, in dem der Mietzins vollkommen frei verhandelbar ist, keineswegs unmöglich.
Ein Wort wie „Mietpreisbremse“ ist im Englischen unbekannt, in Singapur würde man darüber den Kopf schütteln, könnte man es übersetzen. Auch „Wucher“, Gesetze, ihn zu untersagen, oder gar Hausbesetzungen sind in Singapur unbekannt. Viele Immobilienbesitzer lassen ihre Wohnungen oder Geschäftsräume durchaus für viele Monate leer stehen, weil sie dann auf einen sprunghaften Anstieg der Einnahmen spekulieren.
Kein Sand mehr zu bekommen
Der Mieter ist in jeder Hinsicht der Verlierer: Nach deutscher Einschätzung gehen viele Immobiliengesellschaften jahrelang miserabel mit ihren Mietern um – Versprechen werden nicht eingehalten, Handwerker nicht geschickt, Anrufe kaum beantwortet. Zugleich hat sich die Bautätigkeit auf der Insel wie auch im Rest der Welt nicht in dem Maße entwickelt, wie die Regierung es versprochen hatte.
Zwischenzeitlich war kein Sand mehr zu bekommen, um die Wohntürme hochzuziehen, weil Länder wie Vietnam oder Indien ihn nicht mehr lieferten. Zum einen brauchten sie ihn selber. Zum anderen geschieht der Sandabbau oft illegal und schädigt Flüsse oder Strände. Deshalb hat sich Singapur schon vor Jahren eine „strategische Sandreserve“ zugelegt – sie mündete in einem riesigen Sandberg, der wie eine Superdüne hinter hohen Zäunen am Rande des Stadtzentrums liegt.
Nun also rollen bald die Bagger auf die Rennbahn. Neue Wohntürme werden in den Tropenhimmel wachsen. Junge Familien werden sich freuen. Was mit den 700 Pferden in Kranji geschehen soll, ist noch unklar. Vielleicht wird das eine oder andere auch auf einer westfälischen Weide ein Gnadenbrot bekommen. Die Tiere dürften bald billig zu haben sein.
Herzliche Grüße
Ihr Christoph Hein
Über den Autor
Christoph Hein ist in Köln geboren und in Münster aufgewachsen. Er hat an der Uni Münster studiert, hier promoviert und während seines Studiums für die Westfälischen Nachrichten und den WDR gearbeitet. Im Jahr 1998 fing er bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung an, zunächst als Korrespondent in Stuttgart. Ein Jahr später ging er als Korrespondent erst für Südostasien und China, ab 2008 für den Süden Asiens einschließlich des Pazifikraums nach Singapur. Dort wurde auch seine Tochter geboren, die inzwischen in Münster studiert. Christoph Hein hat zahlreiche Bücher publiziert, zuletzt mit „Australien 1872“ einen Bildband über einen deutschen Goldsucher auf dem fünften Kontinent.
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