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Die Kolumne von Christoph Hein | Es geht um mehr als Tore
Guten Tag,
Fußball-Deutschland trägt erneut Trauer, nachdem die deutschen Damen am Donnerstag in der Vorrunde der Weltmeisterschaft in Ozeanien kläglich ausgeschieden sind. Gut, dass wenigsten die Preußen aufsteigen konnten. Fußball in Deutschland ist vielfältig, immer eine Schlagzeile wert.
Gut 18.000 Kilometer weiter südöstlich, im Pazifik, sind vergleichbare Schlagzeilen keine Selbstverständlichkeit. Die Fußballweltmeisterschaft der Frauen in Australien und Neuseeland war ein Wagnis: Denn „Down Under“ lieben die Menschen Rugby, und in alt-englischer Tradition fiebern sie beim Cricket mit. Aber Fußball? Und dann noch Frauenfußball?
Ja. Aber nur Schritt für Schritt. Denn der Weg in die Herzen der Aussies und Kiwis ist lang und beschwerlich. Was sind die drei beliebtesten Sportarten in Neuseeland? „Rugby“, sagt Josh. „Rugby und Rugby. Ok, vielleicht noch Netball“, schiebt der Verkäufer im Sportgeschäft Rebel in Neuseelands Hauptstadt Wellington nach. „Aber seit hier unsere Ferns spielen, ist Fußball plötzlich ein Thema.“
Ferns, so lautet der Spitzname der Neuseeländerinnen, so wie die Australierinnen in ihrer Heimat die Matildas sind, angelehnt an die heimliche Nationalhymne und den davon abgeleiteten Anti-Kriegsong „And the Band played Waltzing Matilda“ von Folkpoet Eric Bogle. Inzwischen seien die Trikots der Neuseeländerinnen im größten Sportgeschäft Wellingtons ausverkauft, sagt Josh. „Wir sind einfach eine Sportnation. Und jetzt interessieren wir uns gerade für Fußball, weil wir die Weltmeisterschaft hier haben.“
Gelebte Integration und Anerkennung
Ob dieses Interesse nach dem Ausscheiden der Neuseeländerinnen in der Vorrunde noch eine lange Halbwertszeit hat, bleibt abzuwarten. Anders auf der großen Insel im Nordwesten, in Australien. Dort schwappt eine Welle der Begeisterung über die Ostküste mit ihren Großstädten Melbourne, Sydney und Brisbane.
Vielleicht auch, weil es eben doch nicht nur um Fußball geht. Zumindest den Athletinnen geht es auch um Gleichberechtigung, um gelebte Integration und Anerkennung, die sich dann natürlich auch in Geld berechnen lässt.
Alle australischen und neuseeländischen Spielerinnen fordern, sobald sie vor die Medien treten, gleichen Lohn für gleiche Arbeit: Sie wollen dieselben Chancen wie die kickenden Männer, dieselben Prämien. Die aber definieren Sponsoren und Verbände als Wechselwährung für Aufmerksamkeit. An der mangelt es den Frauen weiter.
Und so steht die australische Verteidigerin Ellie Carpenter nach dem letzten Training vor dem finalen Vorbereitungsspiel gegen Frankreich und einer Pressekonferenz gemeinsam mit ihrem Trainer verloren am Lieferanteneingang des Marvel-Stadions in Melbourne.
Gegen die eiskalte Luft verkriecht sie sich in die türkis-grüne Daunenjacke der Nationalmannschaft, die Sporttasche über der Schulter. Neben ihr friert die Pressesprecherin des australischen Teams, Ann Odong. Während die Lastwagen auf der sechsspurigen Straße an ihnen vorbeirauschen, warten die beiden auf ein Uber-Taxi.
Erste Internetseite für Frauenfußball in Ozeanien
Niemand nimmt Notiz von der Fußballerin, die nach zwei Olympischen Spielen nun ihre zweite Weltmeisterschaft für Australien bestreitet. Niemand will ihr Autogramm. Niemand feuert sie wenigstens im Vorbeigehen an. Während männliche Kollegen im Rest der Welt mit ihren Lamborghinis protzen, übt das Nationalmalmannschafts-Duo am Rand der Schnellstraße Geduld.
Dabei sind Carpenter und Odong Aushängeschilder, wie es keine besseren für die Mannschaft, aber auch den Frauenfußball geben kann: Das Bild der in ihrem Jubel auf dem Platz extrovertierten 23-Jährigen begrüßt einen schon am Flughafen Sydney: Am Gepäckband wirbt die Kreditkartengesellschaft mit dem Konterfei der einzigen australischen Fußballerin des „Team Visa“.
Während die Blondine von der Industrie als Werbeikone entdeckt wird, ist Odong als Vorbild der Vereinten Nationen (UN) unterwegs: Die Tochter von Flüchtlingen aus Uganda gründete mit „Women’s Game“ die erste Internetseite für Frauenfußball in Ozeanien. Die UN nutzen die afrikanische Australierin als Integrationsvorbild.
Es ist ein langer Kampf auf allen Ebenen. 2015 hatten die Matildas ihr Trainingslager verlassen, um im sportbesessenen Australien endlich dieselbe Bezahlung wie für die Männer zu erzwingen. „Wir haben das Spiel verändert. Natürlich bekommen wir mehr Preisgeld, aber das ist nur der erste Schritt. Wir liegen immer noch weit hinter den Männern zurück“, moniert Carpenter auf einer Pressekonferenz, während sie ihre Hände mit den in den Teamfarben Gold und Grün lackierten Fingernägeln faltet.
Respekt für die Ureinwohner
Und dann schwingt in den multikulturellen Ausrichter-Ländern auch immer die Frage der Integration mit: Natürlich kommt die Frage, wie viele Spielerinnen Wurzeln als Māori oder Aborigines haben.
Dass die eingewechselte Australierin Mary Fowler von Manchester City, deren Mutter aus Papua-Neuguinea stammt, mit zwei Treffern die Zuschauer begeisterte, hilft vielen indigenen Völkern auf dem Fünften Kontinent mehr, als manche Weiße glauben mögen. Auch über Sam Kerr, die unbestrittene Anführerin der Australierinnen, hält sich das Gerücht, sie sei Aborigine; dabei stammt ihre Mutter aus Indien.
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Auch der Weltfußballverband Fifa bemüht sich erkennbar, den Ureinwohnern während des Turniers Respekt zu zollen: Die Städte werden mit ihren englischen Kolonialnamen, aber auch mit denjenigen der Aborigines und Maori bezeichnet – Sydney heißt im Weltfußball derzeit Gadigal, Auckland auf Neuseeland Tāmaki Makaurau.
Die Fifa verkündet, sich von einem Rat aus sechs Vertretern der First Nation der australischen Ureinwohner und der Māori aus Neuseeland beraten zu lassen. Die Entsandten der „Traditional Owners“ Australiens begrüßen Zuschauer und Spieler vor dem Anpfiff. Und nicht nur die amerikanische Mannschaft wurde auf Neuseeland mit dem traditionellen pōwhiri willkommen geheißen, um ihr auf Zeit dieselben Rechte zu verleihen, die die Gastgeber besitzen.
Die Australierinnen hatten sich schon bei ihrem Spiel gegen Neuseeland während der Olympischen Spiele in Tokio gegen allen Widerstand der Offiziellen mit der schwarz-roten Fahne der Aborigines ablichten lassen. Die Neuseeländerinnen zeigten den Kniefall, um gegen Rassismus zu protestieren.
Sie saß an der Supermarktkasse
Der Mut zum Widerstand gegen ihnen zugedachte Rollen kommt nicht von ungefähr. Viele Spielerinnen dieser Generation haben sich mit unglaublicher Kraft nach oben gearbeitet: Die Neuseeländerin Ria Steinmetz etwa, geboren im südpazifischen Samoa mit seiner langen deutschen Geschichte, ist nur eine von drei polynesischen Fußballspielerinnen bei dieser Weltmeisterschaft.
Die 24-Jährige mit dem auffallenden Kurzhaarschnitt trägt 17 Tattoos, unter anderem sind auf dem Rücken ihre Küche auf dem Rücken und der Zitronenbaum im Haus ihrer Großmutter abgebildet. Auch aufgrund ihrer Herkunft von der entlegenen Insel habe ihr über Jahre das Selbstvertrauen für die Nationalmannschaft gefehlt, erzählt sie freimütig. Zwischenzeitlich hatte sie sogar ganz mit dem Fußball aufgehört und saß an der Supermarktkasse.
Ihre Mittelfeldkollegin Olivia Chance hat zehn Jahre das Leben einer Nomadin gelebt, bevor sie in Dunedin auflief: England, Schottland, Island, Australien und Florida heißen ihre Stationen – in Neuseeland zählte sie nie zu den Sportgrößen. Und dass Hayley Raso, die druckvolle Stürmerin der Australierinnen, eine bunte Haarschleife zur Erinnerung an ihre Großmutter trägt, kommt nicht nur bei Seniorinnen im konservativen Fünften Kontinent gut an.
Die australische Sportsoziologin Fiona Crawford hat gleich ein Buch über den „Matilda-Effekt“ geschrieben, das mit seinem grellgelben Einband derzeit in jeder australischen Buchhandlung ausliegt. Eigentlich beschreibt der Name das Phänomen, die Forschungsleistungen von Frauen zu übersehen – im Fußball sei zu lange dasselbe geschehen, nur eben auf sportlicher Ebene, moniert Crawford. Nun aber ändere sich alles.
„Wir haben unser Land inspiriert“
Das war einige Wochen, bevor das australische Fernsehen einen Zuschauerrekord verzeichnen sollte: Das vorentscheidende Spiel der Matildas, bei dem sie Kanada mit einem vier zu null vom Platz fegten, um in die K.O.-Runde einzuziehen, wurde von rund 2,4 Millionen Zuschauern, fast einem Zehntel aller Australier, verfolgt.
Erstmals haben mehr als zwei Millionen auf dem Fünften Kontinent das Spiel einer Frauenmannschaft im Fernsehen gesehen. Und es kommt noch besser: Die Frauen traten mit ihrem Spiel gegen das zeitgleiche Cricket-Team der Australier bei den Ashes an – noch vor Monaten wären die Damen in der Zuneigung der Zuschauer chancenlos gewesen.
Die neuseeländische Kapitänin Ali Riley hatte nach ihrem Ausscheiden für die richtige Einordnung gesorgt: „Da kullern jetzt so viele Tränen, dabei sollten wir alle stolz sein. Wir haben unser Land inspiriert. Ich hoffe, dass viele kleine Mädchen nun mit dem Fußballspielen beginnen. Wir haben die Tür für sie geöffnet.“
Herzliche Grüße
Ihr Christoph Hein
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Christoph Hein
… ist in Köln geboren und in Münster aufgewachsen. Er hat an der Uni Münster studiert, hier promoviert und während seines Studiums für die Westfälischen Nachrichten und den WDR gearbeitet. Im Jahr 1998 fing er bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung an, zunächst als Korrespondent in Stuttgart. Ein Jahr später ging er als Korrespondent zunächst für Südostasien und China, ab 2008 für den Süden Asiens einschließlich des Pazifikraums nach Singapur. Dort wurde auch seine Tochter geboren, die inzwischen in Münster studiert. Nach einem Vierteljahrhundert im indo-pazifischen Raum gerade zurückgekehrt, lebt er nun wieder in Münster und baut für die F.A.Z. einen Newsletter zur Weltwirtschaft auf. Christoph Hein hat zahlreiche Bücher publiziert, zuletzt mit „Australien 1872“ einen Bildband über einen deutschen Goldsucher auf dem fünften Kontinent.
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