Die Kolumne von Anna Stern | Eine Hommage ans Cinema

Porträt von Anna Stern
Mit Anna Stern

Guten Tag,

gerade ist so ein bisschen Sommerloch. Im Theater im Pumpenhaus läuft erst Ende August wieder etwas. Ähnlich sieht es im Stadttheater aus. Das nächste Konzert im Gleis 22 ist am 25. August. Wie wäre es mit Kino? Da gibt es auch im Sommer die ganze Palette von Romantik bis Thriller, gute Unterhaltung, garniert mit Popcorn, herrlich! Aber Kino kann viel mehr sein als das.

Lassen Sie mich aus ganz persönlicher Perspektive hier eine kleine Hommage an ein ganz besonderes Kino in Münster ausbreiten, das Cinema an der Warendorfer Straße, das für mich Bildungs-, Arbeits- und ja, Lebensort geworden ist. Zugleich ist das eine Hommage an Jens Schneiderheinze und Thomas Behm, die das Cinema von 1997 bis 2018 betrieben haben.

Kennengelernt habe ich die beiden als Kinomacher Anfang der Neunzigerjahre. Da zeigten sie schon seit einigen Jahren von sonntags bis mittwochs Filme im Cuba an der Achtermannstraße, unter recht improvisierten Umständen. Ganz zu Anfang saß das Publikum auf Klappstühlen und schaute auf eine mobile Leinwand. Später gab es dann sogar recht bequeme Holzschalensitze, und Jens hatte eine Rolltheke gebaut, an der nicht nur die Karten, sondern auch Süßkram und Getränke verkauft wurden.

Schon damals präsentierten die beiden Filme, die weit ab vom Hollywood-Mainstream lagen und andere Perspektiven und Stimmen sicht- und hörbar machten: Regisseur:innen aus West- und Ost-Europa, Afrika, Indien, Mittel- und Südamerika, mit kritischen, queeren und subversiven Themen.

90 Minuten, die dich komplett involvieren

Das sollte auch nach dem Umzug an die Warendorfer Straße so bleiben. Jens und Thomas übernahmen das Cinema, das dort schon seit 1981 existierte (eine ausführliche Geschichte des Cinema finden Sie hier) und gaben ihm ein ganz eigenes und unverwechselbares Gesicht.

„Was ich nach wie vor an Kino toll finde“, sagt Thomas, „ist, dass es auf niederschwellige Weise Identitäten schaffen und fremde Lebensweisen näherbringen kann. Du kannst anderen Menschen bei ihren Leben zuschauen.“ Und Jens ergänzt: „Und das in 90 Minuten, die dich komplett involvieren.“

Über filmische Geschichten Verständnis für andere Lebensweisen entwickeln, das ist eine besonders schöne und wirksame Form von kultureller und auch politischer Bildung, die ich mit dem Cinema verbinde. Und mit dem Verein für kommunale Filmarbeit „Die Linse“, den Jens und Thomas nun seit 1989 betreiben. Ich erinnere mich an die Linsen-Filmreihe „50 Jahre Israel – 50 Jahre Palästina“ von 1998. Auch damals war das Thema angesichts der andauernden Spannungen ein gewagtes Unterfangen. Schon ein Jahr später lehnten es die palästinensischen Filmemacher:innen ab, an einem gemeinsamen Projekt teilzunehmen, weil, so Jens, „sie nicht für einen Frieden stehen wollten, den es nicht gibt.“

Für mich und sicher auch für viele andere Münsteraner:innen war die Reihe ein Geschenk, ein Bildungsgeschenk: Da gab es Spiel- und Dokumentarfilme, die tief eintauchen ließen in die Geschichte des Landes. Die, je nachdem, wer sie erzählte, eine andere war. Genau das machten die Filme immer wieder deutlich und an Einzelschicksalen nachvollziehbar: „Beide Geschichten müssen gleichzeitig erzählt werden“, betonen Jens und Thomas.

So ist zum Beispiel der Unabhängigkeitstag, an dem 1948 die Vereinten Nationen mehrheitlich für die Errichtung eines eigenen israelischen Staat stimmten, heute ein Feiertag für die jüdische Bevölkerung, die nach Verfolgung und Ermordung durch Nazideutschland auf eine sichere Heimat hoffte. Bei der palästinensischen Bevölkerung dagegen heißt der Tag „Nakba“, Katastrophe, denn dieser Tag besiegelte, dass sie nicht zurückkehren konnten in ihre enteigneten Häuser, auf ihr Land.

Woher das Wissen? Aus dem Kino

Im Jahr 1999 lebte ich mit einem Stipendium für mehrere Monate in Israel. Egal, ob es in den Diskussionen um Hintergründe zu Theodor Herzl ging, zur West Bank, zum Sechstagekrieg, ich konnte zumindest mitreden. Und immer wieder darauf angesprochen, woher ich das denn alles wisse, kam die für meine Gesprächspartner:innen sehr überraschende Antwort: „Aus dem Kino.“ Die Qualität des Programms wurde übrigens immer wieder ausgezeichnet, zwei Mal war das Cinema das beste Kino Deutschlands, seit 2001 war es immer unter den Top 10.

Das Cinema sollte für mich auch zu einem inspirierenden Arbeitsort werden. Mein erstes Projekt waren die Avantgarde-Filmreihen in den Zweitausenderjahre. Zwar hatte ich eine Zeitlang in der Filmklasse der Kunstakademie studiert, doch von vielen filmgeschichtlich wichtigen, experimentellen Werken hatte ich nur gelesen, gesehen hatte ich sie nicht.

Walter Ruttmanns „Berlin. Die Sinfonie der Großstadt“ von 1927, Maya Derens „Meshes of the Afternoon“ von 1947 (mit dem sie als erste Frau in Cannes den Grand Prix International gewonnen hatte), das experimentelle Kino der australischen Filmemacher:innen Arthur und Corinne Cantrill aus den späten Sechziger- und frühen Siebzigerjahren, das waren für mich nur Namen und ein paar Stills.

Warum also nicht eine Reihe entwerfen, in der experimentelle Filme nicht nur gezeigt, sondern auch in einen künstlerischen und gesellschaftlichen Kontext gesetzt würden, um damit Filmkunstgeschichte erlebbar zu machen? Die „Linsen“ Jens und Thomas waren und sind immer offen für Filmvorschläge unterschiedlichster Menschen, Gruppen und Initiativen aus Münster.

Der Verein unterstützte mich als filmvermittelnde Anfängerin bei der Auswahl der Filme und übernahm alles, was hinter solch einer Reihe steckt: die Akquise von öffentlichen Geldern, die Ausleihe der Filme, die Werbung und Ankündigung.

Sprechende Japanlampe

Wer das Cinema und darin den kleinen Saal „Die Kurbelkiste“ kennt, weiß, dass dort links und rechts der Leinwand große weisse Japanlampen aus Papier hängen, die beim Einlass sanft leuchten. Ich kaufte eine große Japanlampe und bearbeitete sie so, dass ich meinen Kopf hineinstecken und durch einen Spalt hinausschauen konnte.

Ansonsten ganz in schwarz gekleidet und so gut getarnt im schummrigen Licht, stellte ich mich am ersten Filmabend der Reihe zwischen die anderen Lampen. Das kleine Grüppchen Interessierter, das sich eingefunden hatte, erlebte dann zu seiner Erheiterung und Überraschung eine sprechende Lampe, die ihnen etwas über Walter Ruttmann erzählte.

Die australischen Filmemacher:innen Arthur und Corinne Cantrill, die damals schon weit über 60 und 70 Jahre alt waren, konnte ich tatsächlich ins Cinema einladen, aber auch nur, weil sie sich gerade auf einer Europa-Kino-Rundreise befanden.

Das betagte Paar reiste mit ihren schweren 16-Millimeter-Filmrollen im Gepäck und übernachtete in unserer damaligen Wohnung in der Sternstraße. Einen ganzen Tag lang saßen die beiden in unserer Küche und reinigten die Filmstreifen liebevoll und gründlich, bevor sie abends im Cinema gezeigt wurden. Ein anachronistisches und anrührendes Bild, das ich nicht vergessen werde. Am nächsten Tag brachten wir die beiden samt Filmrollen zum Zug nach Amsterdam.

Ein weiteres Linsen-Highlight, das 2003 zum ersten Mal im Cinema stattfand, war das Projekt „Globale Stadt“. Es steht zugleich für den Anspruch, den Jens und Thomas mit ihrer kommunalen Filmarbeit im Verein „Die Linse“ verwirklichen: Mit Kino einen Begegnungsraum und Diskursort für gesellschaftlich relevante und brisante Themen schaffen.

„Wir müssen uns die Hoheit über Themen zurückholen und dürfen sie nicht Presse und Politik überlassen“, so Jens und Thomas. „Globale Stadt“ sollte dem negativen Tenor der medialen Berichterstattung über Geflüchtete etwas entgegensetzen. Der Fokus lag (und liegt ja meist immer noch) darauf, was geflüchtete Menschen von der hiesigen Gesellschaft und vor allem von den Sozialsystemen in Anspruch nehmen.

Exotisierende und folkloristische Momente

Das Projekt sollte den Blick umdrehen und zeigen, was sie der Gesellschaft geben, um wie vieles reicher auch unser Alltag in Münster ist durch die vielen verschiedenen Geschichten, Facetten, Perspektiven, die Geflüchtete einbringen. Und so konnten sich Teams aus Filmemacher:innen und Protagonist:innen melden, mit der Idee, letzteren eine Bühne zu geben.

Es wurden berührende Abende mit filmischen Portraits, mit Lieblingsfilmen der Protagonist:innen, mit Essen und Tanz. Gemeinsam mit dem Filmemacher Joachim Wossidlo steuerte ich ein Porträt von Djahan Bahrainian bei, dem Betreiber von „Peperoni-Gemüsekultur“ auf der Wolbecker Straße, den sicher viele Leser:innen kennen.

Nicht nur Jens und Thomas dachten aber auch kritisch über exotisierende und folkloristische Momente der ersten Staffel nach, die Geflüchtete als Stellvertreter:innen ihrer Kultur feierte, aber eben auch darauf begrenzte und markierte. Das Konzept wurde immer wieder verändert bis hin zur aktuellen Reihe „Leinwandbegegnungen“, die von Menschen mit und ohne Fluchterfahrung gemeinsam kuratiert wird.

Und noch ein letztes Beispiel, an dem deutlich wird, dass und wie Jens und Thomas Kino, Stadt und Stadtraum zusammendenken. Jens hatte schon länger die Vision, Stummfilme an ungewöhnliche Orte zu bringen, die mit dem Inhalt des Films in Dialog treten können, und mit Livemusik zu verbinden.

2009 entstand daraus das Projekt „Stummfilm in der Stadt“, bei dem auch ich mitarbeitete. Da lief Chaplins „The Great Dictator“ im Plenarsaal des LWL-Landeshauses, Merian C. Coopers und Ernest B. Schoedsacks „Chang: A Drama of the Wilderness“ im Elefantenhaus im Zoo, eine frisch restaurierte Fassung von Manfred Noas „Nathan der Weise“ in der Erphokirche an der Ostmarkstraße (mit Livemusik an der Kirchenorgel) und Fritz Langs „Frau im Mond“ im LWL-Planetarium, mit einer mitreißenden Einführung durch den damaligen Planetariumsleiter Björn Voss.

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Mein Favorit aber wurde das Revival von Ruttmanns „Berlin – Sinfonie der Großstadt“ im Parkhaus Engelenschanze. Hier hatten wir das Glück, dass das flache rechteckige Brunnenbecken im Erdgeschoss renoviert werden sollte und deshalb ohne Wasser war. Das Becken nutzen wir als Zuschauerraum und stellten Stühle hinein, die Leinwand ließen wir von einer der Brücken hinunter, der Projektor stand auf einem Autodach im ersten Stock.

Bedingung für die Vorführung war, dass der Betrieb des Parkhauses weiterlaufen durfte. Erst waren wir damit nicht so wirklich glücklich, doch erzeugte gerade das magische Momente des Ineinanderfallens von Gegenwart und Vergangenheit, wenn im Film die Oldtimer durch Berlin sausten und zeitgleich oberhalb der Leinwand ein Auto langsam über die Brücke fuhr.

Kongenial begleitete das Münsteraner Theaitetos Trio den Film und erzeugte musikalisch eine intensive, konzentrierte Stimmung. Am Ende hatten die knapp hundert Besucher:innen leuchtende Augen und applaudierten frenetisch. Und Jens’ Vision war einmal mehr Wirklichkeit geworden.

Das Cinema hat sich trotz aller Trends und Krisen als erstaunlich robust und langlebig erwiesen. Zusammen mit dem Schlosstheater überlebte es das große Kinosterben in Münster, das mit der Inbetriebnahme des Cineplex am Hafen einsetzte.

Wer sich erinnert: Es waren einmal elf Kinos mit elf Sälen in Münster, über die Stadt verteilt, unter anderem das Apollo, das Metropolis und das Roland am Bahnhof, das Fürstenhof, das Stadt New York, das Kino Dingsbums in der Winkelgasse.

Das Cinema hat immer wieder finanzielle Krisen überwunden, teils auch mit der Hilfe vieler Münsteraner:innen. Und ist immer noch am Start, trotz Netflix, Amazon Prime und Corona. Doch für mich (und sicher auch für viele andere Fans) ist mit dem Verkauf des Cinema zum 1. Januar 2019 an die Gebrüder Ansgar und Anselm Esch, die bereits seit vielen Jahren das Schloßtheater und das Cineplex betreiben, eine Ära zu Ende gegangen.

Ein geniales Jubiläumsprogramm, hoffentlich

Die Gründe für den Verkauf sind vielfältig und komplex. Wer Jens und Thomas kennt, weiß, dass sie sich jahrzehntelang selbst ausgebeutet haben, um die Qualität ihres Programms zu halten und immer neue Projekte zu entwerfen. Die wurden dann oft von anderen umgesetzt, da die beiden mit Buchhaltung, Geschäfts- und Personalführung mehr als voll ausgelastet waren.

Jetzt können sie als „Linsen“ und Privatleute ihre Ideen selbst realisieren. Und das sind zunehmend Kinoaktionen an anderen Orten, wie das Schaufensterkino oder Kino im Rieselwärterhäuschen. Oder natürlich das Viertelfest, das sie initiiert haben und weiter mitorganisieren. Oder auch die Organisation eines einjährigen Arbeitsstipendiums der Martin-Roth-Initiative für geflüchtete iranische Filmschaffende, damit diese ihre Filmprojekte an einem sicheren Ort realisieren können.

Nächstes Jahr wird der Verein „Die Linse“ 35 Jahre alt. Da lassen sich die beiden sicher ein geniales Jubiläumsprogramm einfallen, auf das ich mich jetzt schon freue.

Nicht zuletzt werden sie nun auch selbst wieder zu begeisterten Zuschauern: „Früher musste ich Filme notgedrungen auf kommerzielle Verwertbarkeit hin ansehen. Konnten wir uns diesen Film im Cinema ‚leisten’?“, so Thomas im Rückblick. „Jetzt kann ich Filme wieder ganz anders genießen.“

Ein Hinweis zur Transparenz: Der Verein „Die Linse“ bezahlte meine Arbeit mehrmals mit einem veritablen Bildungsgutschein, nämlich mit einer Jahresfreikarte fürs Cinema. Wie viele inspirierende Filme habe ich zusammen mit meinem Partner gesehen, in die wir sonst vielleicht nicht gegangen wären, da wir mit wenig Geld auskommen mussten. Wie oft hieß es: „Hey, es ist zwar schon spät, aber da läuft ein total skurriler Film im Cinema, nur ein Mal, sollen wir nicht…?“ – „Ja, sollen wir!“

Also, einfach mal reinschnuppern, denn auch unter der neuen Programmgestalterin des Cinema, Maria Minewitsch, bleibt das Programm des Cinema engagiert, anspruchsvoll und multiperspektivisch. Und Popcorn gibt es auch.

Herzliche Grüße
Ihre Anna Stern

Porträt von Anna Stern

Anna Stern

… ist unter anderem Performance-Künstlerin. Sie lebt und arbeitet seit 30 Jahren in Münster. Sie studierte an der Kunstakademie Münster, später an der Berliner Universität der Künste, wo sie aktuell Vertretungsprofessorin am Institut für Ästhetische Bildung und Kunstdidaktik ist.

Die Kolumne

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