- Newsletter
- Kolumnen
- Kolumne von Ruprecht Polenz
Die Kolumne von Ruprecht Polenz | Die Grenzen des Bürger:innenrats
Guten Tag,
einen schönen Sonntag wünsche ich Ihnen.
Zu den Vorteilen des Wochenendes gehört für mich, dass ich in aller Ruhe zum Zeitunglesen komme. Leider ist im Augenblick wenig Erbauliches dabei, und wenn ich mir die Meinungsumfragen ansehe, haben viele denselben Eindruck.
Die Zufriedenheit mit der Arbeit der Regierung und den politischen Parteien lässt – freundlich formuliert – zu wünschen übrig. Das Vertrauen in die politischen Institutionen nimmt ab.
Es ist deshalb nicht nur naheliegend, sondern notwendig, darüber nachzudenken, wie diese wachsende Kluft zwischen „uns hier unten“ und „denen da oben“ geschlossen werden kann.
Eine Idee sind sogenannte Bürger:innenräte. Ganz normale Bürger:innen sollen sich in Räten zusammenfinden. Losgelöst von verkrusteten Strukturen, parteipolitischen Bindungen und ohne Verpflichtungen gegenüber irgendwelchen Gruppen sollen sie nach Lösungen für anstehende Probleme suchen. Wer im Rat mitarbeiten darf, soll nicht durch Wahlen, sondern durch das Los entschieden werden.
Am vergangenen Donnerstag haben auf Einladung von RUMS im Localhost Expert:innen darüber gesprochen, was ein Bürger:innenrat auf lokaler Ebene in Münster bewegen könnte – und was nicht. Ich will der Frage nachgehen, wie das auf der Bundesebene aussieht. Denn dort gibt es seit ein paar Wochen einen Bürger:innenrat, der Empfehlungen zur Rolle des Staates in Ernährungsfragen vorlegen soll.
Wie verbindlich sollen die vom Bürger:innenrat vorgeschlagenen Lösungen sein? Schließlich haben wir gewählte Parlamente mit eigenen Kompetenzen. Hier gehen die Meinungen auseinander.
Ziemlich weitgehend sind die Vorstellungen der Letzten Generation, die Bürger:innenräte als Instrument sehen, um den Klimaschutz voranzubringen. In der Erklärung der Gruppe heißt es:
„Die Regierung soll öffentlich zusagen, die mit den im Gesellschaftsrat erarbeiteten Maßnahmen verbundenen Gesetzesvorhaben in das Parlament einzubringen. Außerdem soll sie die für die Maßnahmen und Gesetzesvorhaben nötige Überzeugungsarbeit im Parlament leisten und die Gesetze nach Verabschiedung in einer beispiellosen Geschwindigkeit und Entschlossenheit umsetzen. Das ist ein Prozess, der echte gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht und das Vertrauen in unsere Demokratie stärkt.“
Es liegt auf der Hand, dass mit diesem Vorschlag die repräsentative Demokratie ausgehebelt würde. Regierung und Parlament würden zu Ausführungsorganen von „Gesellschaftsräten“ degradiert, wie die Letzte Generation diese ausgelosten Gremien bezeichnet.
So weit geht der gemeinsame Antrag von SPD, Grünen, FDP und Die Linke nicht, den der Bundestag am 10. Mai gegen die Stimmen der CDU/CSU angenommen hat.
Es wurde ein Bürger:innenrat zum Thema „Ernährung im Wandel: Zwischen Privatangelegenheit und staatlichen Aufgaben“ eingesetzt. Seine Beratungsergebnisse sollen „dem Deutschen Bundestag als Handlungsempfehlungen in Form eines Bürgergutachtens“ vorgelegt werden. Unter Federführung des Ausschusses für Ernährung und Landwirtschaft sollen neun weitere Ausschüsse an den Beratungen beteiligt werden.
Damit erfährt das „Bürgergutachten“ deutlich mehr parlamentarische Aufmerksamkeit als die Umweltgutachten des Sachverständigenrats für Umweltfragen oder die Gutachten des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Lage, die lediglich der Bundesregierung vorgelegt werden.
Die Begriffe „Bürgerrat“ und „Bürgergutachten“ suggerieren, dass hier ein Gremium für uns alle beraten hätte. Denn schließlich sehen wir uns alle als Bürgerinnen und Bürger. Aber dieser Anspruch wird weder durch das Auswahlverfahren der 160 Mitglieder eingelöst, noch durch die Organisation des Beratungsverfahrens, das viel Raum für externe Einflussnahme bietet.
Jeder Einwohner und jede Einwohnerin Deutschlands ab 16 Jahren soll die gleiche Chance erhalten, zur Teilnahme an der Bürgerlotterie eingeladen zu werden, so die Grundannahme. Als Mitwirkungschance dürften das allerdings nur die 20.000 angesehen haben, die tatsächlich eingeladen wurden. Ihr Partizipationsversprechen an alle 83 Millionen Deutsche können Bürger:innen-Räte nicht einlösen.
Als Kriterien für die Stichprobenauswahl dienten nur das Bundesland, die Gemeindegröße des Wohnorts, Alter, Geschlecht, höchster Bildungsabschluss und die „Einstellung zu einer themenbezogenen Frage“, das heißt, ob man sich vegetarisch oder vegan ernährt. Nicht gefragt wurde danach, ob man nach einer bestimmten Diät lebt, überwiegend selbst kocht oder hauptsächlich in der Kantine isst. Auch andere, für das Ernährungsverhalten wahrscheinlich wichtigere Faktoren, wie Höhe des verfügbaren Einkommens oder Größe des zu versorgenden Haushalts, spielten – warum eigentlich? – keine Rolle.
Undurchsichtiges Losverfahren
Von den 20.000 eingeladenen Personen blieben nur die 2.220 Personen im Rennen, die sich auf die Einladung hin zur Mitarbeit bereiterklärt hatten. Es liegt nahe, dass sich vor allem diejenigen gemeldet haben, denen das Ernährungsthema am Herzen liegt. Aber dann sind die 2.220 Personen keine repräsentative Stichprobe mehr.
Um aus dieser verzerrten Gruppe die 160 Teilnehmer:innen für den Bürger:innenrat auszuwählen, wurden 1.000 (!) Stichproben mit jeweils 160 Personen gebildet. Daraus hat dann die Bundestagspräsidentin in einer öffentlichen Sitzung aus 1.000 Nummern in drei Schritten eine Nummer gezogen. So kam der als „ausgelost“ bezeichnete erste Bürger:innenrat des Bundestags zustande.
Anders als das Verfahren suggeriert – „Deutschland im Kleinen“ – können die so bestimmten Bürger:innen für niemand anderen sprechen, als sich selbst.
Aber selbst das ist nicht sicher, denn sie sollen durch allerlei Hilfestellungen und Expert:innen angeleitet werden
„Bei der Konzeption der Durchführung ist darauf zu achten, dass die Teilnehmenden im Rahmen des Auftrags des Bürgerrates hinreichenden Einfluss auf die inhaltliche Schwerpunktsetzung nehmen können“, so der Antrag. Es geht also nicht um autonome, sondern angeleitete Entscheidungen, die der Rat treffen soll.
Beeinflussung durch Expert:innen
Entscheidender noch, als die Frage, wie der Bürger:innenrat zusammengesetzt wird, ist deshalb, wer ihn „anleitet“, und was genau darunter zu verstehen ist.
„Der Bürgerrat wird durch die Stabsstelle Bürgerräte der Bundestagsverwaltung unterstützt, die den mit der Durchführung beauftragten externen Dienstleister anleitet“, heißt es dazu beim Bundestag.
Der externe Dienstleister, der die Arbeit des Bürger:innenrats moderieren soll, wird also seinerseits dazu angeleitet. Außerdem sollen 16 Expert:innen helfen, die in einem wissenschaftlichen Beirat zusammengefasst werden. Sie sollen von den Fraktionen des Bundestages „möglichst im Konsens“ benannt werden.
Außer zu den Ernährungsthemen muss dieser Beirat auch zu der Frage wissenschaftlich auskunftsfähig sein, „welche Rolle der Staat im Hinblick auf Bildungsangebote in Schulen im Hinblick auf Ernährungsthemen spielen soll, ob er steuerliche Vorgaben machen oder bei der Preisbildung eingreifen soll“.
Fazit: Anders als es das Auswahlverfahren behauptet („Deutschland im Kleinen“) sind Bürger:innenräte nicht demoskopisch repräsentativ. Ihre Arbeit wird extern angeleitet und ist nicht wirklich autonom. Sie entsprechen eher sehr aufwendig konstruierten Fokusgruppen. Als solche können sie, wie andere Think-Tanks auch, wertvolle Impulse für die Politik geben.
Um deutlich zu machen, dass sie nicht für DIE Bürger:innen in Deutschland sprechen, sondern nur für die 160 Menschen, die dem Rat angehören, sollten zu jedem Thema mindestens zwei Räte eingerichtet werden. Beide sollten sich gleichzeitig und völlig unabhängig voneinander mit demselben Thema beschäftigen. Die unterschiedlichen Ergebnisse wären kein Nachteil, im Gegenteil. Die Umsetzungsverantwortung dafür verbleibt bei Parlament und Regierung.
Die Parteien müssen Partizipationsforen einrichten
Aber was tun, wenn Bürger:innenräte für das eingangs beschriebene Partizipationsdefizit keine Lösung sind? Der Schlüssel liegt in einer repräsentativen Demokratie vor allem bei den politischen Parteien. Sie müssen ihre Arbeitsweise verändern, und ihren grundgesetzlichen Auftrag wieder ernst nehmen.
In Artikel 21 des Grundgesetzes heißt es: „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit.“ Da steht nicht: „Die Parteien ersetzen die politische Willensbildung des Volkes.“ Parteien müssen sich also bei ihrer Willensbildung viel mehr darum kümmern, was in der Bevölkerung über die politischen Probleme gedacht wird.
Weil auch Parteien keine Gedanken lesen können, müssen sie viel mehr und vor allem regelmäßig mit möglichst vielen Menschen sprechen, analog und digital. Es ist eine Bringschuld aller Parteien, dazu die geeigneten Gesprächs-, Diskussions- und Veranstaltungsformate zu entwickeln.
Diese Kolumne teilen und RUMS weiterempfehlen
Und weil Demokratie kein Zuschauersport ist, wäre es unsere Aufgabe als verantwortungsbewusste Staatsbürger:innen, diese Angebote anzunehmen und den Parteien unsere Meinung zu Klimaschutz, steigenden Lebenshaltungskosten oder Migration in solchen Partizipationsforen zu sagen.
Ich wünsche Ihnen eine sonnige Woche – mit nächtlichem Regen für die Gärten und die Natur.
Herzliche Grüße
Ihr Ruprecht Polenz
Ruprecht Polenz
Viele Jahre lang war Ruprecht Polenz Mitglied des Rats der Stadt Münster, zuletzt als CDU-Fraktionsvorsitzender. Im Jahr 1994 ging er als Bundestagsabgeordneter nach Berlin. Er war unter anderem CDU-Generalsekretär, zwischen 2005 und 2013 Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags. Von 2000 bis 2016 war Ruprecht Polenz Mitglied des ZDF-Fernsehrats, ab 2002 hatte er den Vorsitz. Der gebürtige Bautzener lebt seit seinem Jura-Studium in Münster. 2020 erhielt Polenz die Auszeichnung „Goldener Blogger“.
Die Kolumne
Immer sonntags schicken wir Ihnen eine Kolumne. Das sind Texte, in denen unsere acht Kolumnistinnen und Kolumnisten Themen analysieren, bewerten und kommentieren. Die Texte geben ihre eigene Meinung wieder, nicht die der Redaktion. Mitgliedschaften in politischen Parteien oder Organisationen machen wir transparent. Wenn Sie zu den Themen der Kolumnen andere Meinungen haben, schreiben Sie uns gern. Wenn Sie möchten, veröffentlichen wir Ihre Zuschrift im RUMS-Brief. Wenn Sie in unseren Texten Fehler finden, freuen wir uns über Hinweise. Die Korrekturen veröffentlichen wir ebenfalls im RUMS-Brief.
Ihnen gefällt dieser Beitrag?
Wir haben Ihnen diesen Artikel kostenlos freigeschaltet. Doch das ist nur eine Ausnahme. Denn RUMS ist normalerweise kostenpflichtig (warum, lesen Sie hier).
Mit einem Abo bekommen Sie:
- 2x pro Woche unsere Briefe per E-Mail, dazu sonntags eine Kolumne von wechselnden Autor:innen
- vollen Zugriff auf alle Beiträge, Reportagen und Briefe auf der Website
- Zeit, sich alles in Ruhe anzuschauen: Die ersten 6 Monate zahlen Sie nur einen Euro.
Wir freuen uns sehr, wenn wir Sie ab heute in der RUMS-Community begrüßen dürfen!
Sie möchten dieses Thema mit anderen Leser:innen diskutieren oder uns Hinweise geben
Nutzen Sie einfach unsere Kommentarfunktion unterhalb dieses Textes. Wenn Sie diese Kolumne gerade als E-Mail lesen, klicken Sie auf den folgenden Link, um den Text auf unserer Website aufzurufen:
diese Kolumne kommentieren