Die Kolumne von Ludwig Lübbers | Glück und Behinderung

Porträt von Ludwig Lübbers
Mit Ludwig Lübbers

Guten Tag,

als Mensch mit Behinderung ist es manchmal nicht einfach, eine längere Reise zu unternehmen, vor allem, wenn man Single ist. Entweder fehlen die finanziellen Mittel oder es fehlt ganz schlicht an Helfern beziehungsweise Assistenten. Auch Menschen mit Behinderungen haben das Recht darauf, aus dem Alltag einmal ausbrechen zu können.

Träume und Wünsche dieser Menschen sollten daher wir alle als Gesellschaft sehr ernst nehmen, um auch eigene Ängste vor der Zukunft zu überwinden.

Einen Beitrag für das Lebensglück von Schwächeren in der Gesellschaft zu leisten, sollte eine Selbstverständlichkeit sein. Ein guter Ansatz sind zum Beispiel die „Wünschewagen“, die karitative Organisationen anbieten. Sie erfüllen todkranken Menschen den letzten Wunsch, noch einmal etwas Schönes zu erleben.

Ich bin nicht todkrank, und ich habe glücklicherweise die Möglichkeit, mir einige Wünsche selbst zu erfüllen. Aber weil ich keine Hände habe und eine Oberschenkelprothese trage, brauche ich dabei Hilfe.

Ein Wunsch, den ich mir in den vergangenen Jahren immer wieder erfüllen konnte, war auf meine Trauminsel zu fahren, nach Sardinien. Dort zieht es mich immer wieder hin, seit ich Jahr 1992 eine Studienreise dorthin machte.

„Im Urlaub fühlte ich mich selbstbestimmt“

Im Urlaub liebe ich die Einfachheit und die schlichten Dinge. Ich schlafe gern in einem Zelt. Und wenn ich das in der Vergangenheit gemacht habe, gelang es mir immer, das alles mit Unterstützung von fremden Menschen zu organisieren.

Ich gehe gern Schnorcheln, um die Fischwelt des Meeres zu entdecken. Ich habe einen Tauschein, einen Motor- und Segelbootführerschein. Das hat vieles möglich gemacht. Im Urlaub fühlte ich mich selbstbestimmt.

Fremde Menschen luden mich zum Essen ein. Es waren wunderschöne Abende. Aber man muss sich immer vorstellen: Bei all den Dingen, die ich machte, war ich auf Hilfe angewiesen – wenn ich die Decke am Strand ausbreiten wollte, wenn ich Schwimmflossen anziehen oder eine Pizza zerschneiden wollte. Beim Aufbau des Zeltes half mir das Personal des Campingplatzes. Dieses sind nur einige Beispiele.

Dass ich gut auf Menschen zugehen kann, hat mir das Ganze immer erleichtert. Meine Behinderung hatte trotz der damaligen Sprachbarrieren immer eine Art symbolische Wirkung. Ich musste nicht lange erklären, dass ich Hilfe brauchte.

Im Gegenteil, ich sorgte für Gesprächsstoff auf dem Campingplatz. Ich lernte Menschen aus anderen Ländern kennen. So war das vor über 20 Jahren auf einem Campingplatz mit dem Namen L’Ultima Spiaggia im Südosten Sardiniens.

Im Prinzip gab es keine Probleme, die ich nicht lösen konnte. Ich war mir dessen bewusst, dass viele Menschen mit einer Behinderung nicht so selbstbestimmt leben können.

Als junger Mensch hatte ich aber auch den Mut, das alles zu machen, mich in eine unbekannte Welt von Menschen zu begeben, in der ich auf ihre Hilfe angewiesen bin.

Und heute, 20 Jahre später? Ich habe mich verändert, aber auch die Welt hat sich verändert. Inzwischen arbeite ich als Lehrer an einem Gymnasium. Ich habe ein gutes Gehalt und sechs Wochen Sommerferien. Damals hatte ich weniger Geld und mehr Zeit.

Sie möchten dieses Thema mit anderen Leser:innen diskutieren oder uns Hinweise geben

Nutzen Sie einfach unsere Kommentarfunktion unterhalb dieses Textes. Wenn Sie diese Kolumne gerade als E-Mail lesen, klicken Sie auf den folgenden Link, um den Text auf unserer Website aufzurufen:

diese Kolumne kommentieren

Heute spüre ich langsam das Alter und die Einschränkungen, die damit verbunden sind. Wenn ich auf der Toilette war, habe ich Schwierigkeiten, die Badehose wieder hochzuziehen. Es fällt mir schon schwer, allein aufzustehen. Mein Körper verändert sich.

Die Folgeerscheinungen meiner Behinderungen erschweren mir das Leben nun noch mehr als früher. Aber auch, um mit diesen Problemen umzugehen, habe ich mir Strategien überlegt – Strategien, die mir unter anderem helfen, weiter in den Urlaub fahren zu können.

Wenn man so etwas macht und dabei auf Hilfe angewiesen ist, braucht man den Mut Menschen anzusprechen und sie nach Hilfe zu fragen. Ich habe es noch nie erlebt, dass ein Mensch es ablehnte, mir zu helfen. Das liegt vielleicht auch daran, wo ich Urlaub mache.

In diesem Sommer las ich auf einem Wohnwagen einen Spruch, der es nach meinem Gefühl ganz gut trifft: „Viele Menschen machen Urlaub, aber nur die coolsten campen“. Menschen auf Campingplätzen sind meiner Erfahrung nach hilfsbereit und aufgeschlossen. Davon habe ich schon oft profitiert.

Allerdings ist es hier wie überall. Camping-Urlaube sind teurer geworden, das Misstrauen gegenüber anderen Menschen größer. Und dass viele Menschen nicht mehr so kontaktfreudig und aufgeschlossen sind, liegt vielleicht auch ein bisschen am Alter.

Man kennt mich auch heute noch auf dem Campingplatz, denn ich habe solche Berührungsängste nicht. Und als Mensch mit einer Behinderung fällt man natürlich immer noch auf.

Kinder fragen ihre Eltern, wenn ich mit meinem umgebauten Pedelec über den Platz fahre: „Warum hat der Mann nur ein Bein und keine Hände? Warum lacht er so viel?“ Das sind die Fragen, die so schön zeigen, wie unbefangen man mit alledem umgehen kann. So klärt sich dann auch auf, dass Menschen mit einer Behinderung nicht generell traurig sind.

Kinder sind manchmal ein Eisbrecher

Erwachsene haben oft ähnliche Fragen, trauen sich aber nicht, sie zu stellen. Das Leben auf einem Campingplatz eignet sich daher hervorragend, um die Voreingenommenheit von Menschen aufzubrechen und ihnen das Thema Behinderung näher zu bringen. Kinder können manchmal auch ein Schlüssel sein oder ein Eisbrecher.

Aber bei alledem gibt es natürlich auch Grenzen. Kann man von fremden Menschen erwarten, dass sie helfen, wenn es um Hilfe im Intimbereich geht? Hilfe beim Toilettengang oder beim Wechsel der Badehose am Strand?

Dieses Problem zu lösen, war nicht leicht. Aber am Ende ließ es sich doch lösen. Ich hatte die Idee, eine Reiseassistentin oder einen Reiseassistenten zu engagieren.

Auf den ersten Blick bedeutete das für mich, Autonomie zu verlieren. Ich verlor einen Teil meiner gefühlten Unabhängigkeit. Auf den zweiten Blick geriet das Ziel Sardinien jedoch wieder in greifbare Nähe – obwohl ich ein neues Abhängigkeitsverhältnis einging und Kompromisse in meiner Lebensführung.

Viele Menschen machen diese Erfahrungen erst im höheren Alter. Menschen, die mit einer körperlichen Behinderung aufgewachsen sind, erleben so etwas in der Tendenz schon wesentlich früher. Das hat man zum Beispiel an den Menschen mit einer Conterganbehinderung gesehen. Auch mich verfolgen diese Ängste, meine Autonomie zu verlieren, immer wieder.

Vor acht Jahren erkrankte ich an Leukämie. Ohne moderne Medizin wäre ich daran gestorben. Diese neue Erfahrung hat vieles noch einmal relativiert.

Eine neue Idee

Ich gewann einen neuen Blick auf das Leben und sah fortan mehr Chancen als Risiken. Ich ersetzte langfristige Lebenspläne durch eher kurzfristige. Mein Leben sehe ich seitdem noch als Geschenk, obwohl die Folgeschäden meiner Behinderung mir immer mehr zusetzen.

Ich bin davon überzeugt, dass es gut ist, sich im Leben Ziele zu setzen und abzuwägen, wie Ansprüche und Risiken sich so ein Einklang bringen lassen, dass man sich seine Träume erfüllen kann.

Wenn ich in Sardinien bin, gehe ich zum Beispiel abends im Mittelmeer schwimmen. Ein Unfall im Urlaub wäre für mich eine Katastrophe. Auf diese Weise kann ich das Risiko verringern, unter der Dusche auszurutschen.

Es ist nicht leicht, Jahr für Jahr Assistentinnen oder Assistenten zu finden, die mich im Urlaub begleiten. Aber ich habe eine neue Idee.

Ich würde gerne Reiseassistenz-Seminare auf Sardinien veranstalten. So könnte ich Menschen das Thema „Behinderung und Inklusion“ näherbringen. Und so könnte ich vielleicht dazu beitragen, dass sich auch andere Menschen mit einer Behinderung diesen Traum erfüllen könnten.

Herzliche Grüße

Ihr Ludwig Lübbers

Porträt von Ludwig Lübbers

Ludwig Lübbers

… hat an der Uni Münster Mathematik und Sozialwissenschaften studiert und anschließend das Referendariat absolviert. Heute arbeitet er als Lehrer am Freiherr-vom-Stein-Gymnasium. Von 1997 bis 2000 initiierte und betreute er das Projekt „Handicap im Internet“, eine Plattform, auf der sich Menschen mit Behinderung vernetzen und austauschen konnten. In der städtischen Kommission zur Förderung der Inklusion (KIB) setzt er sich heute für die Interessen von Menschen mit Behinderungen in Münster ein. 2021 veröffentlichte er sein erstes Buch: „L’Ultima Spiaggia – Meine letzte Hoffnung“. In seinen RUMS-Kolumnen schreibt er über Barrieren und Barrierefreiheit, über den Alltag von Menschen mit Behinderung und über Inklusion in Münster.

Die Kolumne

Immer sonntags schicken wir Ihnen eine Kolumne. Das sind Texte, in denen unsere acht Kolumnistinnen und Kolumnisten Themen analysieren, bewerten und kommentieren. Die Texte geben ihre eigene Meinung wieder, nicht die der Redaktion. Mitgliedschaften in politischen Parteien oder Organisationen machen wir transparent. Wenn Sie zu den Themen der Kolumnen andere Meinungen haben, schreiben Sie uns gern. Wenn Sie möchten, veröffentlichen wir Ihre Zuschrift im RUMS-Brief. Wenn Sie in unseren Texten Fehler finden, freuen wir uns über Hinweise. Die Korrekturen veröffentlichen wir ebenfalls im RUMS-Brief.

Ihnen gefällt dieser Beitrag?

Wir haben Ihnen diesen Artikel kostenlos freigeschaltet. Doch das ist nur eine Ausnahme. Denn RUMS ist normalerweise kostenpflichtig (warum, lesen Sie hier).

Mit einem Abo bekommen Sie:

  • 2x pro Woche unsere Briefe per E-Mail, dazu sonntags eine Kolumne von wechselnden Autor:innen
  • vollen Zugriff auf alle Beiträge, Reportagen und Briefe auf der Website
  • Zeit, sich alles in Ruhe anzuschauen: Die ersten 6 Monate zahlen Sie nur einen Euro.

Wir freuen uns sehr, wenn wir Sie ab heute in der RUMS-Community begrüßen dürfen!

Bitte melden Sie sich an, um zu kommentieren.
Anmelden oder registrieren