Die Kolumne von Anna Stern | Wer beteiligt wen woran und warum? Kultur und Partizipation

Porträt von Anna Stern
Mit Anna Stern

Guten Tag,

der 30. Oktober war ein schnöder Montagvormittag. Normalerweise sind Museen in Deutschland montags geschlossen. Das Foyer im Landesmuseum am Domplatz war stattdessen voller Menschen. Unter dem vollmundigen Titel „Die Macht der Veränderung. Wege zu (neuer) Relevanz von Kultureinrichtungen“ hatten sie sich zur 12. Westfälischen Kulturkonferenz versammelt. Der Einladung vom LWL in Zusammenarbeit mit der Kulturpolitischen Gesellschaft waren etwa 300 Menschen nach Münster gefolgt. Noch einmal 200 nahmen online an der Konferenz teil.

Es trafen sich Menschen aus ganz unterschiedlichen kulturellen Einrichtungen Westfalens: Aus Museen, Theatern, soziokulturellen Zentren, aus Jurys, Gremien, Vereinen und Kommissionen. Sie eint sicherlich eine Erfahrung: Kultur hat es in Zeiten von Krieg und Krise schwer. Und eine Erkenntnis: Kultureinrichtungen müssen sich verändern, wenn sie ein wichtiger Teil der Gesellschaft sein oder wieder werden wollen.

Noch gebeutelt von der Pandemie mit massiven Einnahme- und Publikumsverlusten bedeutet das, sich mit alten und neuen Herausforderungen auseinanderzusetzen: Klimakrise, Flucht in Folge von Krieg und Terror, Globalisierung, Vereinsamung und Digitalität. Und das alles, ohne dass mehr Geld und Personal zur Verfügung stünde. Die Botschaft wurde von Seiten der Landespolitik sehr deutlich verkündet. 13 Foren mit unterschiedlichen Schwerpunkten boten Raum für Austausch und Diskussion rund um diese Fragen.

„Versprechen Partizipation“

Ich hatte mich für das Forum unter dem Titel „Versprechen Partizipation“ angemeldet, zusammen mit etwa 20 anderen Teilnehmer:innen. Partizipation lässt sich übersetzen mit „einen Teil ergreifen“ und weiter mit Beteiligung, Teilhabe, Teilnahme, Mitwirkung, Mitbestimmung, Mitsprache. Es geht darum, eigene Bedürfnisse auszusprechen und auch durchzusetzen, Entscheidungen mitzugestalten, die das eigene Leben beeinflussen, eigene Vorstellungen von Welt und Gesellschaft aktiv einzubringen.

Im Forum sollte an Beispielen aus der Praxis gezeigt und diskutiert werden, „wie die Einbeziehung von Publikum gelingen kann, um kulturelle Inhalte zu erarbeiten“ – so formulierte es die Tagungsinformation. Es ging also um ein ziemlich pointiertes Verständnis des Begriffs. Kulturinstitutionen versprechen sich von einer Beteiligung des Publikums neue Themen ebenso wie mehr, andere und neue Nutzer:innen und damit letztlich – mehr Relevanz.

Ein Wort – viele Auslegungen

Der Begriff steht nicht nur im Kultursektor inzwischen ganz oben auf der Agenda. In vielen anderen Bereichen der Gesellschaft ist Partizipation zentral für ein gerechteres Zusammenleben: So sind freie Wahlen, aber auch die Mitarbeit in einer Bürgerinitiative Formen politischer Partizipation. Kinder und Jugendliche, die Regeln für ihren Alltag gemeinsam mit den Erwachsenen aushandeln, partizipieren auf einer pädagogischen Ebene. Als Angestellte im Betrieb mitzubestimmen, bedeutet unter anderem, Betriebs- oder Personalräte wählen zu können, die ihre Interessen vertreten. Dieser kleine Absatz macht aber auch schon deutlich, wie schillernd, vielseitig verstanden und schwer fassbar der Begriff ist.

Partizipation – ein tragischer Begriff?

Ein Teilnehmer des Forums, dessen Beiträge mir lebhaft im Gedächtnis geblieben sind, nannte Partizipation einen „tragischen Begriff“. Das Wort werde kräftig missbraucht und die Radikalität, die in ihm stecke, werde nicht eingelöst.

Statt echter Beteiligung gebe es auch im Kultursektor „eminenzbasiertes Wissen*“, das von Expert:innen vermittelt werde. Vermittlung, da steckt drin: A weiß etwas und geht davon aus, dass B das nicht weiß, aber wissen sollte. A gibt B etwas von diesem Wissen ab. Damit hat A eine Machtposition gegenüber B.

Dasselbe Dilemma steckt auch im Begriff Partizipation. Um jemanden zu beteiligen, muss das wiederum jemand wollen und ermöglichen, der die Macht hat, das zu tun. Stattdessen forderte der Teilnehmer „Partizipiert Euch!“. Ich habe das als einen Aufruf verstanden, das passiv anmutende ‚Ich werde beteiligt‘ in ein aktives ‚Ich beteilige mich!‘ zu verwandeln. Konsequenterweise sollte dann auch, so regte er an, „Kulturvermittlung“ in „Kulturermittlung“ umgetauft werden. Ermittlung als gemeinsamer Suchprozess, als das Schaffen von geteiltem Wissen, als Austausch auf Augenhöhe.

Beispiel LWL-Museum für Archäologie Herne

Lässt sich eine (Kultur-)Institution auf partizipative Elemente ein, muss sie tatsächlich bereit sein, sich zu verändern. Deutlich zeigte das ein Bericht der Leiterin des LWL-Museums für Archäologie in Herne, Doreen Mölders. Bürger:innen wurden an der Entwicklung digitaler Formate beteiligt, um die „Blackbox Archäologie“ attraktiver zu machen.

Dazu wurde per Ausschreibung ein Bürger:innen-Beirat einberufen, der Ideen einbrachte. Und prompt erwuchsen aus diesem ersten Partizipationsexperiment einige zentrale Erkenntnisse: Der Prozess muss für alle daran Beteiligten transparent sein. Es braucht den Willen der Museumsmitarbeiter:innen, die Deutungshoheit (also die Position von A) auch mal aufzugeben. Es kostet Zeit, alte Routinen zu verlernen. Die Menschen im Beirat brauchen (und verdienen) zumindest eine Aufwandsentschädigung, und das Museum eine eigene Stelle, die einen solchen Prozess koordiniert.

Beispiel Bruchwerk Theater in Siegen

Das Bruchwerk Theater in Siegen unter der Leitung von Milan Pešl denkt und lebt Partizipation auf wieder andere Weise. Pešl beschrieb im Forum sehr anschaulich, wie dort die Welten von Amateur:innen und Profis (etwa im Sinne von professionell ausgebildeten Schauspieler:innen) verzahnt werden.

Menschen, die an der Theaterwerkstatt teilnehmen oder bei einem Workshop mitmachen, besuchen Proben des Ensembles und nehmen aktiv an Produktionen teil, zum Beispiel im Bürger:innenchor oder auch in kleineren Rollen. Alle theaterpädagogischen Angebote leiten aktive Schauspieler:innen des Hauses an; umgekehrt besucht das Ensemble Proben aus den Workshops und der Theaterwerkstatt. Dadurch, so Pešl, könne das Theater neue Themen aus der Stadtgesellschaft aufgreifen und die Partizipation wirke auf das Programm des Theaters zurück. Nach jeder Vorstellung gibt es Gespräche mit den Künstler:innen. Ein Feedback-System soll eingerichtet werden, mit dem sich Besucher:innen zu Inhalten und Formaten äußern können. Und überhaupt, Pešl will das kleine Siegener Theater zu einem Ort der Begegnung und des Dialogs machen.

Wenn Partizipation gelingt, bringt sie im besten Fall Diversität mit sich. Diversität bedeutet Vielfalt und Verschiedenheit der Menschen in einer Gruppe, hier zum Beispiel im Publikum. Diversität ist zugleich ein gesellschaftliches Konzept: Wird Vielfalt gewollt und gefördert, ist das eine Voraussetzung dafür, dass Gruppen von Menschen sichtbar werden und unterstützt werden können, die immer noch gesellschaftlich benachteiligt sind.

Denke ich nun zurück an das gut gefüllte Foyer des Landesmuseum, sehe ich – mich eingeschlossen – eine sehr homogene Gruppe: nahezu ausschließlich weiße Menschen mittleren bis fortgeschrittenen Alters, die meisten mit akademischem Hintergrund, die die Kulturinstitutionen Westfalens vertreten. Und ein Programm für alle Menschen Westfalens machen wollen. Geht das? Der Titel der Konferenz „Wege zu (neuer) Relevanz von Kultureinrichtungen“ enthält unbequeme Fragen: Wie wichtig sind den Bürger:innen die bestehenden kulturellen Angebote überhaupt? Wen erreichen sie? Wer fühlt sich angesprochen, weil eigene Themen verhandelt werden? Wer fühlt sich nicht gemeint, nicht gesehen, und bleibt weg? Wer bestimmt, welches Programm gemacht, welche Kultureinrichtung „relevant“ ist?

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Der freie Journalist Hamzi Ismail, der den Podcast Next Generation für die Kulturpolitische Gesellschaft moderiert, befragt Menschen aus dem Kultursektor zu visionären Ideen. Wenn es um Veränderung in kulturellen Institutionen geht, sollten Partizipation und Diversität zusammen diskutiert werden, argumentiert auch er, und macht deutlich: „Am besten ist nicht nur das Publikum divers, sondern auch die Belegschaft und das Programm.“

Ein Beispiel aus Münster: Cactus Junges Theater

In Münster existiert seit 1992 „Cactus Junges Theater“, ein freies Theaterlabel, das seitdem unaufgeregt und schon lange bevor der Begriff gefeiert wurde, verschiedene Spielarten von Partizipation** lebt. Die Idee von Cactus war und ist, mit Jugendlichen unter professionellen Bedingungen bühnenreife Stücke zu erarbeiten und ihnen zugleich eine Bühne für ihre eigenen Träume, Befürchtungen, Krisen und Hoffnungen zu geben. Gegründet wurde das Label von der Regisseurin und Schauspielerin Barbara Kemmler.

Inzwischen teilt sie sich die Leitung mit Alban Renz, der als Jugendlicher schon zu ihren offenen Trainings kam und heute ebenfalls als Regisseur, Schauspieler und Theaterpädagoge arbeitet. Unterstützt werden sie von einem vielköpfigen Team. Cactus bietet zum einen offene Theater-Trainings an. Hier können Kinder und Jugendliche unverbindlich ins Theaterspielen hineinschnuppern. Sie sind kostenlos, und Jugendliche können kommen, ohne sich anzumelden. Ein Angebot wendet sich zum Beispiel explizit an geflüchtete Jugendliche und will einen sicheren Ort bieten, um anderen mit ähnlichen Erfahrungen zu begegnen – und nebenbei Deutsch zu lernen.

Ein weiteres Angebot ist offen für Jugendliche aller Herkünfte und Hintergründe. Hier wird ganz bewusst ein Raum geschaffen, in dem Jugendliche einander zuhören, auch wenn die Meinungen ganz unterschiedlich sind. Gerade jetzt zum Beispiel, wo der israelisch-palästinensische Konflikt Gräben auch in Vereinen, Schulen und Universitäten aufmacht. Es geht darum, eigene Gefühle in Worte zu fassen und dabei im Gespräch zu bleiben, die andere Meinung auszuhalten, ja sogar nachvollziehen und verstehen zu können. Und im nächsten Schritt vielleicht ein Thema für ein Stück zu entdecken.

Zum anderen gibt es Projekte, die deutlich mehr Verbindlichkeit erfordern. Hier wird in einem intensiven Probenprozess über ein Dreivierteljahr an einem gemeinsamen Stück gearbeitet, das dann beispielsweise im Pumpenhaus aufgeführt wird. Seit zehn Jahren wird dabei übrigens immer mindestens eine Vorstellung von Gebärdendolmetscher:innen übersetzt, so dass auch gehörlose Menschen an den Stücken teilhaben können. Bei den Projekten können sich die Jugendlichen – unterstützt von Profis – auch in Kostüm- und Bühnenbild, Licht- und Tontechnik oder Marketing ausprobieren.

Ein sehr starkes partizipatives Element ist die inhaltliche Gestaltung der Stücke, die die Jugendlichen als Expert:innen ihres Alltags maßgeblich bestimmen, während die anleitenden Schauspieler:innen und Theaterpädagog:innen die künstlerische Form und Dramaturgie übernehmen. Stella Bensmann hat seit 2020 bei drei Cactus-Produktionen mitgespielt und erzählt: „Bei dem Stück ‚Mit Sicherheit‘ waren wir eine Gruppe, die viel und gerne eigene Texte schrieb. Also war klar, dass viele unserer Texte einen Weg auf die Bühne finden sollten.“ Alae Rtimi stammt aus Marokko und ist seit eineinhalb Jahren bei Cactus aktiv. Über Deutsch- und Theaterkurse an der Uni Münster kam sie zum Internationalen Jugend-Theaterlabor, einem der Trainings. Anfangs wollte sie eigentlich gar nicht auf die Bühne, inzwischen sagt sie: „Hier ist ein Raum, wo ich meine Meinung immer sagen kann.“

Partizipation verstanden als die Möglichkeit, eigene Vorstellungen von Welt und Gesellschaft aktiv einzubringen, genau das lösen die Projekte von Cactus für Jugendliche regelmäßig ein. Die Qualität dieser Arbeit wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem in den bundesweiten Wettbewerben „Aktiv für Demokratie und Toleranz“ und „Kinder zum Olymp“, die Liste der Förderer ist beeindruckend, angeführt vom Bundesinnenministerium. Und nebenbei finden über die Jugendlichen mit ihren Freund:innen, Eltern, Familien, Bekannten womöglich auch einige Menschen ins Theater, die sonst abends andere Dinge machen.

Herzliche Grüße

Anna Stern

PS: Falls Sie die Premiere des neuen Projekts „Hoping for…“ im Oktober verpasst haben: Das nächste Cactus-Projekt unter dem Titel „Das Geflüster der Schneegeister“ hat am 16. Februar 2024 im Theater im Pumpenhaus Premiere!

*„Eminenzbasiertes Wissen“, ein parodierendes Sprachspiel mit dem ‚evidenzbasierten Wissen‘, das auf empirisch zusammengetragenen und bewerteten Daten beruht.

**Aktion Mensch hat wunderbares Material erarbeitet, um über Partizipation generell zu informieren und politische Partizipationsprozesse auf kommunaler Ebene zu unterstützen. Diese hier verlinkten Stufen der Partizipation machen es möglich, auch bei Kulturprojekten genauer hinzusehen, welche Form von Partizipation sinnvoll, gewollt und tatsächlich umgesetzt wird.

Porträt von Anna Stern

Anna Stern

… ist unter anderem Performance-Künstlerin. Sie lebt und arbeitet seit 30 Jahren in Münster. Sie studierte an der Kunstakademie Münster, später an der Berliner Universität der Künste, wo sie aktuell Vertretungsprofessorin am Institut für Ästhetische Bildung und Kunstdidaktik ist.

Die Kolumne

Immer sonntags schicken wir Ihnen eine Kolumne. Das sind Texte, in denen unsere acht Kolumnistinnen und Kolumnisten Themen analysieren, bewerten und kommentieren. Die Texte geben ihre eigene Meinung wieder, nicht die der Redaktion. Mitgliedschaften in politischen Parteien oder Organisationen machen wir transparent. Wenn Sie zu den Themen der Kolumnen andere Meinungen haben, schreiben Sie uns gern. Wenn Sie möchten, veröffentlichen wir Ihre Zuschrift im RUMS-Brief. Wenn Sie in unseren Texten Fehler finden, freuen wir uns über Hinweise. Die Korrekturen veröffentlichen wir ebenfalls im RUMS-Brief.

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