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Die Kolumne von Kolja Steinrötter | Das Zeitalter der Frau

Guten Tag,
die Bedeutung eines Kunstwerks lässt sich nur im Spiegel der Zeit erfassen, in der es entstanden ist. Rückblickend können Wissenschaftler:innen alles sezieren, was vor, während und nach der Entstehung gesellschaftlich relevant war: welche Techniken und Themen vorherrschten, was andere Künstler:innen zu jener Zeit bewegte und was sie unternahmen.
Besonderes, Ungewöhnliches, Unerhörtes, Menschen, die ihrer Zeit vielleicht voraus waren – die Geschichte zeichnet meist ein anderes Bild, als es uns in der Gegenwart erscheint.
Bei der Auseinandersetzung mit Kunst stellen sich zunächst zwei Herausforderungen: Geht es um Werke früherer Generationen, ist aus heutiger Sicht oft schwer zu erkennen, was ein 50 oder 100 Jahre altes Werk damals besonders gemacht hat. Um die Arbeit und ihre Relevanz nachvollziehen zu können, braucht es die Einordnung in die damaligen gesellschaftlichen und kulturellen Zusammenhänge.
Bei Kunst unserer Zeit stellt sich ein anderes Problem: Man muss im Prinzip dasselbe tun, kann jedoch nicht einmal die eigene gesellschaftliche Realität wirklich einschätzen. Die tatsächliche Bedeutung eines aktuellen Kunstwerks für die Gegenwart bleibt daher höchst spekulativ. Und nein, die hohen Preise, die für Gegenwartskunst gezahlt werden, haben nach wie vor nichts mit künstlerischer Bedeutung zu tun.
Altar aus wabenförmigen Tafeln
Durch die Beschäftigung mit „alter“ Kunst kann man sich eine Vielzahl an Handwerkszeugen für die Betrachtung „neuer“ Kunst aneignen. Daher liegt es nahe, auch in der Kunstvermittlung zu versuchen, beide Welten miteinander zu verbinden.
Eine faszinierende Möglichkeit, diese Verbindung erfahrbar zu machen, besteht darin, eine:n zeitgenössische:n Künstler:in damit zu beauftragen, auf ein Werk vergangener Epochen zu reagieren.
Auch im Landesmuseum ließ sich diese Form der Auseinandersetzung bereits zweimal erleben, zuletzt im Jahr 2019. Damals wurde mitten in der mittelalterlichen Sammlung die Arbeit „Tracht und Bleiche“ der Künstlerin Anke Feuchtenberger enthüllt. Sie schuf einen Altar aus 31 wabenförmigen Tafeln als modernes Pendant zum Halderner Retabel, einer Kreuzigungsgeschichte des Meisters von Schöppingen.
An dieser Arbeit, an ihrem Weg nach Münster und an den Reaktionen darauf lässt sich viel über den Kunstbetrieb der Stadt lernen. „Tracht und Bleiche“ ist ein Werk, das weit über die Grenzen Münsters hinaus Aufmerksamkeit und Bewunderung erfährt – wie viele andere Kunstwerke in der Stadt, insbesondere im öffentlichen Raum.
Kaspar König (Skulptur Projekte) und Ludwig Poullain (in den 1970er Jahren als Vorstandsvorsitzender der WestLB verantwortlich für die herausragende Sammlung der Bank) sind zwei Persönlichkeiten, die Münster in den vergangenen 50 Jahren zu einem international renommierten Ort bedeutender Kunst gemacht haben.
Die Verschiebung der Pole
Anke Feuchtenbergers Altar könnte den Beginn einer Zeitenwende auch in Münster markiert haben – heute sind es die Frauen, welche die Kulturlandschaft der Zukunft prägen können. Nicht nur im Kunstverein und in der Kunsthalle, sondern auch bei den Skulptur-Projekten 2027 tragen nun Frauen die Verantwortung.
In meiner Galerie vertrete ich seit 15 Jahren ausschließlich Künstlerinnen – für mich steht fest: Wir leben in einer Zeit, in der Frauen in der Kunst eine zentrale Rolle spielen. Sie schaffen heute Werke, die in 50 bis 100 Jahren von größter Bedeutung sein werden.

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Es wäre zu erwarten, dass sich außerhalb meiner eigenen Beobachtungen nur wenige Hinweise auf diese Verschiebung der Pole finden lassen, doch vielleicht beginnen sich die Strukturen des Kunstbetriebs tatsächlich bereits in diese Richtung zu verändern.
Unabhängig davon, dass auch Frauen innerhalb bestehender Systeme patriarchalische Strukturen bedienen und festigen können, ist es ein entscheidender erster Schritt, dass die alten Männer entweder verschwinden oder sich zumindest bewusst werden, dass sie es sollten.
Anke Feuchtenbergers Arbeit für das Landesmuseum ist ein Mahnmal für das Leid und die Kraft der Frauen, ein zutiefst feministisches Werk, geprägt von Schmerz und Trotz. Dass ein solches Werk ausgerechnet in der Mittelaltersammlung des Landesmuseums in Münster einen dauerhaften Platz findet, bezeichnet die „Frankfurter Allgemeine Zeitung” als „das Wunder von Münster“, was die Bedeutung von „Tracht & Bleiche“ treffend beschreibt.
Der Kunstbetrieb sortiert in Schubladen
Die kunsthistorische Einordnung des „Comic-Altars“ und die wissenschaftliche Betrachtung überlasse ich gern anderen – schließlich bin ich kein Kunsthistoriker. Nicht nur diese Arbeit, sondern das gesamte Werk von Anke Feuchtenberger wurde und wird weltweit ausführlich beschrieben, interpretiert und seziert.
Wer Interesse hat, sollte unbedingt an einer der Führungen zu „Tracht & Bleiche“ teilnehmen – sie sind stets ein Highlight der Kunstvermittlung des Landesmuseums.
Allerdings würde ich empfehlen, mit oder ohne Führung, einfach einmal vor dieser Arbeit zu verweilen. Nicht nur fünf Minuten, sondern vielleicht dreißig – oder länger. Die Geschichten, die sich entfalten, die Bilder, die sich einprägen, gespeist aus unseren eigenen, ganz persönlichen Erfahrungen, werden jeweils ganz individuelle Wirkungen entfalten.
Wer sich darauf einlässt, muss nichts in Worte fassen – dieses Kunstwerk ist bewegend, rührend, schmerzhaft, abgründig, humorvoll, hoffnungsvoll.
Der Kunstbetrieb sortiert gerne in Schubladen, archiviert und stempelt ab. Doch vieles lässt sich heute nicht mehr einfach wegsortieren oder abstempeln. Jedes Kunstwerk erzählt seine eigene Geschichte – ob ich dessen Sprache oder Schrift lesen und verstehen kann, steht auf einem anderen Blatt. Was es vor allem braucht, ist Zeit und offene Hingabe. Und dafür lohnt sich ein Museumsbesuch – der lange Freitag im Landesmuseum, einmal im Monat, bietet zum Beispiel einen wunderbaren Einstieg.
Sensationelle Spuren
Vor einigen der international bedeutendsten Kunstwerke in Ruhe zu meditieren – dafür muss ich in Münster nur vor die Tür gehen und mich in einen Park setzen. Die Skulptur-Projekte, die seit 1977 stattfinden, haben sensationelle Spuren hinterlassen: Arbeiten von Donald Judd, Rosemarie Trockel, Susan Philipsz, Claes Oldenburg oder Martin Boyce. An der LBS findet man zudem Werke von Henry Moore und Heinz Mack, die absolut einzigartig sind.
Auch wenn die Werke der Skulptur-Projekte leider immer wieder etwas verwahrlosen, sind sie doch Spuren, die – ganz gleich, was geschieht – bleiben werden und es verdienen, immer wieder zum Leben erweckt zu werden.
Und ich glaube (und hoffe), dass die Spuren, die derzeit entstehen, die Geschichte, die geschrieben wird, die der Frauen ist. Anke Feuchtenbergers Meisterwerk könnte eine davon sein.
Herzliche Grüße
Ihr Kolja Steinrötter
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Kolja Steinrötter
Kolja Steinrötter, geboren 1974 in Münster, ist unter Künstler:innen und Kunst aufgewachsen, studierte Soziologe und Politikwissenschaft an der hiesigen Universität, trainiert die Fußballfrauen des SV Blau-Weiß Aasee und betreibt seit 2008 eine Programmgalerie am Germania Campus.
Die Kolumne
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