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Klaus Brinkbäumers Kolumne | Sind die USA gefangen in ihrem Wahn?
Guten Tag, liebe Leserin und lieber Leser,
Wahlen sollen demokratische Feiertage sein, voller Ernsthaftigkeit, da es um Gesellschaftsordnungen und Richtungsentscheidungen geht, aber doch stilvoll, würdevoll, festlich. Der 3. November, der amerikanische Wahltag, wurde noch nicht zu einem solchen Tag: Es war hitzig oder mehr als das, es war noch immer so, wie die vergangenen Monate in den USA gewesen waren, entgleist und destruktiv, da Präsident Donald Trump den Wahlsieg ja bereits für sich reklamierte, als noch gar nichts feststand, und schnell von Betrug und einer gestohlenen Wahl redete, ohne Beweise zu haben.
Die Feier der Demokratie kam dann gestern, am Samstag. Als nämlich das Ergebnis des Bundesstaats Pennsylvania feststand, war klar, dass Joe Biden über die Schwelle von 270 Wahlleuten hinweggekommen war, und als kurz darauf auch noch Nevada an Biden gefallen war, stand fest, dass Biden zweifelsfrei gesiegt hatte.
Meine New Yorker Freunde und Freundinnen weinten. Tanzten am Washington Square, im Central Park, sangen auf den Straßen. Kamala Harris, die nun die erste Vizepräsidentin der amerikanischen Geschichte wird, sagte, sie werde nicht die letzte sein – und überall im Land wurden Mädchen gefilmt, die lachten, sangen, nun wieder ein Vorbild haben. Aus Washington gab es Bilder kollektiver Erleichterung, aus dem Rest des Landes auch – und auch wenn Trumps Anhängerschaft wütende Kommentare twitterte oder in die Kameras sprach, vermutlich weil sie oft genug gehört hatte, dass ein Biden-Sieg nur durch Betrug möglich sei, so blieb doch Gewalt aus. Niederlagen gehören zur Demokratie wie Kompromisse. Die Wahlverlierer schienen dies gestern zu wissen, auch zu verstehen – abgesehen natürlich von Donald Trump, der sich nicht zu einer Gratulation durchringen konnte.
Wieso musste es ausgerechnet Biden sein?
Für die Demokraten Joe Bidens gilt nun einiges zugleich: Sie müssen sofort ans Werk gehen (auch wenn Biden erst am 20. Januar vereidigt werden wird), sie werden wohl am Montag eine Covid-19-Kommission formen und schon jetzt versuchen, eine nationale Strategie zu entwickeln. Sicherheits-Briefings gehören ab sofort zu Bidens Alltag, ein Kabinett ist zu formen, und die einstigen Bewerberinnen und Bewerber gelten als Favoriten: Pete Buttigieg (Finanzen), Bernie Sanders (Gesundheit), Elizabeth Warren (Soziales), Amy Klobuchar (Inneres). Sie hatten Biden den Weg freigemacht, was ich im März noch feige und falsch fand.
Joseph Robinette Biden Jr., genannt Joe, ist ja inzwischen 77 Jahre alt, und wenn am 20. Januar 2021 der nächste Präsident der USA seine Amtszeit beginnt, wird er 78 sein. Wieso mussten sich die Demokraten ausgerechnet auf diesen Biden verständigen? Und wieso jetzt, im Wahlkampf gegen Donald Trump? Wieso gewann nun ausgerechnet dieser Biden gegen Trump?
Die dramatische Auszählung, die sich wegen der späten Briefwahl-Ergebnisse auf Arizona, Nevada, Georgia und Pennsylvania zuspitzte, verzerrt die Wahrnehmung; entscheidend waren ja jene drei industriell geprägten Staaten Pennsylvania, Michigan und Wisconsin, die einst die „blaue Wand“ der Demokraten gewesen und vor vier Jahren von Hillary Clinton an Trump verloren worden waren. Biden gewann sie zurück, alle drei. Und auch wenn es nun eine theoretische, nämlich eine Konjunktiv-Diskussion ist: Auf Grundlage der Wahlergebnisse (und der enormen Begeisterung, die es noch immer für Trump gab, über 70 Millionen Stimmen sind für einen Wahlverlierer spektakulär) lässt sich heute sagen, dass der Kandidat Biden exakt der richtige war. Progressive demokratische Kandidaten nämlich verloren die Kongresswahlen in Pennsylvania, während Biden, Mann der Mitte, die Präsidentschaftswahl ebendort gewann – vermutlich hätten Buttigieg oder Warren dort nicht gewinnen können.
Die erste Kandidatur scheiterte – Biden hatte Zitate geklaut
Wer nun ist dieser nächste Präsident, der „President-elect“, wie er ab sofort in den USA genannt wird?
Es ist Ewigkeiten her: Biden war 29 Jahre alt, 1972, als er im Bundesstaat Delaware erstmals für den Senat kandidierte und siegte. Nur einen Monat nach dieser Wahl fuhr seine Ehefrau Neilia mit den drei Kindern Naomi, Beau und Hunter los, um einen Weihnachtsbaum zu kaufen. Sie sah den Lastwagen nicht, und der Unfall war fürchterlich: Die Mutter und die einjährige Tochter starben, die beiden Söhne überlebten verletzt.
Der Senator Biden reiste seither viele Jahre lang morgens mit der Bahn zwei Stunden lang von Wilmington nach Washington, D.C., und abends zwei Stunden lang zurück, um bei seinen Söhnen zu sein. Seit jenen Tagen gilt er als empathischer, als integrer Politiker, und wenn er heute, im Corona-Jahr, sagt, dass er mit all den trauernden Familien leide, dass er wisse, wie diese sich fühlten, dann scheint ihm die Nation zu glauben: Er kennt ihre Trauer tatsächlich, „du musst weitermachen, es gibt keinen anderen Weg“, das sagt Biden.
Seit 1977 ist er wieder verheiratet, mit Jill, einer Pädagogin mit zwei Master-Abschlüssen sowie Promotion, die er bei einem Blind Date kennengelernt hat, welches von seinem Bruder eingefädelt worden war.
Seine erste Präsidentschaftskandidatur, 1987, zog Biden zurück, da aufgefallen war, dass er bei einigen Reden ohne Quellennennung zitiert, in Wahrheit also eher nicht zitiert, sondern geklaut hatte. Die zweite Kandidatur, 2007, kam nicht in Gang, weil Barack Obama und Hillary Clinton vom ersten Wahlkampftag an charismatischer und zielstrebiger waren. Dass Obama dann ausgerechnet Biden zum Vizepräsidenten machte, obwohl Biden den jungen Obama zuvor in einem seiner gefürchteten verbalen Aussetzer „wohlartikuliert“ und „sauber“ genannt hatte, und dass Obama und Biden anschließend acht Jahre lang gekonnt harmonierten, hätte Biden 2016 eigentlich für eine dritte Kandidatur qualifizieren müssen. Doch Bidens Sohn Beau, Irak-Veteran und Generalstaatsanwalt in Delaware, starb 2015 an einem Hirntumor. Die Familie trauerte schon wieder. Und erneut musste Biden eines seiner Kinder beerdigen.
Er mochte nicht zur Wahl antreten, nicht so schnell.
Nun ist er ein alter Mann und noch immer rhetorisch wankelmütig. Dass er das Land einen wolle, sagte er am Samstagabend in seiner ersten Rede als gewählter Präsident, dass er für alle, auch die Trump-Wählerschaft da sein wolle, sagte er auch.
Und dies wird seine größte Aufgabe sein: die Überwindung der amerikanischen Polarisierung. Trumps Sohn Don Jr. forderte in den vergangenen Tagen via Twitter den „totalen Krieg“ gegen die Stimmauszählungen, Trumps Armee der Talk-Radio-Moderatoren sprach gestern vom Untergang Amerikas. Das Land vertraut sich selbst nicht mehr, da es unterschiedliche Wahrheiten zu kennen glaubt, also unterschiedliche Folgerungen zieht, also unterschiedliche Strategien für richtig hält.
Die Demokratie war schon einmal in der Krise
Die politische Spaltung der USA begann in den sechziger Jahren, als die Demokraten die Bürgerrechtsbewegung mittrugen und die Republikaner nicht. Damals sortierte sich die Gesellschaft in links und rechts; und dazwischen ein Graben.
Jill Lepore schreibt in „These Truths“ („Diese Wahrheiten“), ihrem Monumentalwerk über die Geschichte der USA: „In den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts stellten Liberale wie Konservative die anhaltenden, aus den 1960er-Jahren überkommenen Streitpunkte nicht mehr als Fragen von Recht und Ordnung, sondern als Fragen von Leben und Tod dar. Entweder stand Abtreibung für Mord und Waffen standen für Freiheit, oder Waffen standen für Mord und Abtreibung für Freiheit. Wie sich das darstellte, hing letztlich von der Parteizugehörigkeit ab.“
Jill Lepore ist Harvard-Historikerin und hat eine Menge Texte verfasst, aber „Diese Wahrheiten“ werden bleiben, denn sie erzählen Amerikas Geschichte lustvoll, leidenschaftlich als das ständig neue Ringen der Vielen um ein besseres Leben, aus vielen Perspektiven: viele Wahrheiten und viele Lügen.
In jenem Land, von dem Lepore berichtet, wurden von Anfang an die Native Americans übervorteilt, dann die Sklaven, die Afroamerikaner. Als 1776 die 13 britischen Kolonien ihre Unabhängigkeit erklärten, als um die Verfassung gestritten wurde, als 1789 George Washington der erste Präsident wurde, in nahezu allen Wahlkämpfen und sowieso 1860, nach der Wahl Abraham Lincolns, als sich South Carolina und dann Louisiana, Georgia, Alabama und Mississippi und andere von der Union lossagten und der Bürgerkrieg begann: Stets wurde denunziert, intrigiert, gelogen.
Jill Lepore vergleicht ihr Land gern mit dem Rest der Welt. Und dabei fällt ihr eine bemer- kenswerte Parallele auf. Die Demokratie war ja schon einmal in der Krise, mehr als das: 1922 marschierte in Italien Benito Mussolini nach Rom und rief „das faschistische Jahrhundert“ aus. Russland unterwarf sich Josef Stalin, 1929 brachen die Finanzmärkte zusammen, Deutschland unterwarf sich Adolf Hitler. Faschisten und Kommunisten hatten demokratische Gesetze und Regeln genutzt, um an die Macht zu kommen und dann die Demokratie abzuschaffen. Griechenland, Estland, Lettland und Rumänien verloren ihre Demokratien, und auch Portugal, Uruguay und Spanien entschieden sich für die Autokratie.
Die Amerikaner sahen all das. Sie sehen heute, wie Ungarn, Polen, Brasilien, Indien oder die Philippinen die eigene Demokratie untergraben und für die Autokratie und den einen starken Mann an der Spitze schwärmen. Damals, sagt Jill Lepore, kämpften die Amerikaner um ihre Demokratie. Präsident Franklin Delano Roosevelt erklärte der Nation via Radio, wie kraftvoll sie sei und dass sie nichts zu fürchten habe außer der Furcht selbst. Die Amerikaner stritten für ihre Demokratie, waren stolz auf sie und verbesserten sie.
Jill Lepore verbringt ihre Sommer nicht in Harvard, sondern im hügelig grünen Vermont; die Menschen hier sagen natürlich „bergig“ und nicht „hügelig“. Von dem kleinen Ort Brattleboro aus fährt man noch einmal 15 Minuten hügelaufwärts, und dann, am Ende des Weges, sind wir bei Lepore und ihren Hunden, Ziegen, Hühnern angekommen – Letztere bewundert sie, weil sie „so ganz und gar furchtlos sind und dir jeden Morgen, egal was geschehen ist, ein Ei schenken“.
„Wir hatten schon viel Demagogie in unserer Geschichte, viel Xenophobie.“
Vor einigen Monaten war ich bei ihr. Waren die Trump-Jahre beispiellos, das wollte ich von ihr wissen, historisch?
Jill Lepore sagte, dass zwei Entwicklungen zeitversetzt begonnen hätten, aber in den vergangenen Jahren parallel beschleunigt worden seien: „Die Rolle des Präsidenten wurde gedehnt, der Präsident also immer mächtiger“, was durch einen sich selbst blockierenden Kongress, einen parteipolitisch ausgerichteten Obersten Gerichtshof und natürlich machtbewusste Präsidenten herbeigeführt worden sei. Und viele Medien, aber auch Historiker, die stets Präsidentenbiografien im Blick hätten, hätten zu einer Verherrlichung dieses Amtes, einer Glorifizierung und, zuerst mit Ronald Reagan, zu „celebrity presidents“ beigetragen. Das Ergebnis beider Entwicklungen sei der autoritäre Präsidentendarsteller Trump.
Dass dieser die Medien attackiere, langweilt Lepore; sie fragt sich, das findet sie interessanter, welche Fehler die Medien gemacht haben. CNN zum Beispiel. CNN habe die Tweets des Kandidaten Trump im Wahlkampf von 2015 und 2016 abgefilmt und damit aus jedem „Auf- stampfen mit dem Fuß (denn mehr ist ein Tweet ja nicht)“ ein Ereignis gemacht. Damals, vor vier Jahren, hätten Amerikas Medien übrigens Fehleranalysen und Veränderungen versprochen, und was sei geschehen?
Ich fragte sie: Ist das Land unrettbar in seinem Wahn gefangen?
Sie zitierte all die Klagen, die in den USA zu vernehmen seien: darüber, dass Amerikaner nicht mehr miteinander reden könnten, ohne zu schreien; über den Stillstand im Kongress; über die Politisierung des Supreme Courts; über das ungerechte Wahlrecht; über Geld in der Politik, also Korruption. Seit Jahren fragten Journalisten sie danach, ob all das einzigartig und noch nie dagewesen sei, und stets sage sie, dass es für all dies Beispiele in der Geschichte der USA gebe, und vieles sei auch schon schlimmer gewesen: „Wir hatten schon viel Demagogie in unserer Geschichte, viel Xenophobie.“ Aber die Gleichzeitigkeit der amerikanischen Krisen sei etwas Neues, die Figur Trump ohne Beispiel. Und „der Begriff der Katastrophe war in dem Moment, als an der Grenze Kinder von ihren Eltern getrennt und inhaftiert wurden, tatsächlich angebracht“. In jenem Augenblick habe sich Amerikas Zustand für sie verwandelt, hin zu „etwas genuin Neuem, Unbekanntem, genuin Katastrophalem“.
Danach habe es keine Rückkehr zu einer Normalität mehr geben können: Kinder in Käfigen, die Eltern irgendwo – dies war für Jill Lepore der Tipping Point, der Moment, als es kippte: Amerikas Katastrophe war da.
Können Joe Biden und Kamala Harris die verwundete Nation aus dieser Krise herausführen? Zu wünschen wäre es den USA, dem Westen, der Demokratie an und für sich und natürlich allen Partnern Amerikas.
Ich wünsche Ihnen einen schönen Sonntag im schönen Münster.
Herzliche Grüße aus Berlin
Ihr Klaus Brinkbäumer
Schreiben Sie mir gern; Sie erreichen mich unter klaus.brinkbaeumer@rums.ms oder via Twitter: @Brinkbaeumer.
Anmerkung
Den Besuch bei Jill Lepore habe ich für das Buch „Im Wahn – Die amerikanische Katastrophe“ (zusammen mit Stephan Lamby, bei C.H.Beck) beschrieben. Der Textausschnitt über Lepore in diesem Brief ist aktualisiert, gekürzt und überarbeitet.
Klaus Brinkbäumer
Klaus Brinkbäumer ist in Hiltrup aufgewachsen. Er ist Journalist, Autor, Filmemacher und seit Januar Programmdirektor des Mitteldeutschen Rundfunks in Leipzig. Von 2015 bis 2018 war er Chefredakteur des Nachrichtenmagazins Der Spiegel. Brinkbäumer gewann unter anderem den Egon-Erwin-Kisch- und den Henri-Nannen-Preis, im Jahr 2016 wurde er zum Chefredakteur des Jahres gewählt. Im Podcast „Okay, America?“ spricht er einmal wöchentlich mit der Zeit-US-Korrespondentin Rieke Havertz über die politische Lage in den USA. Klaus Brinkbäumer lebt in Leipzig.
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