Die Kolumne von Klaus Brinkbäumer | Wellenlehre

Porträt von Klaus Brinkbäumer
Mit Klaus Brinkbäumer

Liebe Leserinnen und liebe Leser,

die USA waren zerstritten, hilflos, dysfunktional, Deutschland war solidarisch, entschlossen, konstruktiv. Wenn Sie RUMS seit seiner Gründung oder jedenfalls schon seit über sechs Monaten folgen, dann wissen Sie, dass ich diese Kolumne bis zum Herbst aus New York geschrieben habe, dem Weltkrisenzentrum, und von dort aus über die damals und aus der Ferne vorbildliche Bundesrepublik staunte.

Eine Pandemie? Ja klar, na und? Deutschland funktionierte.

Im ersten Halbjahr 2020 ging das eine Land, unseres, die Krise an, schien es diese Krise zu bewältigen, während sich das andere, die USA, nicht darüber einigen konnte, ob die Krise denn wirklich eine Krise sei, und an sich selbst zu scheitern schien.

In diesen ersten Monaten des Jahres 2021 ist es umgekehrt.

Aber warum? Was ist passiert?

  1. Politik wird nicht via Twitter gemacht, auch nicht via „Bild“, nicht via Lärm also und auch nicht via Denunziationen. Oder doch: Wenn Politik als Erzeugung von Nebengeräuschen, als Ablenkung vom Eigentlichen, als Intrige, als permanente Personalisierung im Sinne von „wer gewinnt heute, und wer verliert“ gedeutet wird, dann muss Politik natürlich ebendort und exakt so geschehen. Wenn Politik allerdings Gesetze erzeugen und durch ausgeruhtes Entscheiden und eindeutige Kommunikation einen gleichfalls eindeutigen Kurs definieren will, dann geht das nur anders.

  2. Twitter ist still geworden, seit Donald Trump dort verschwunden ist. Trump schimpft inzwischen via Pressemitteilung, vier-, fünfmal pro Woche bekomme ich eine E-Mail von ihm, es liest sich hilflos, niedlich und ist banal, egal. Das Weiße Haus Joe Bidens hingegen lässt so gut wie nichts durchsickern, der einst so verplapperte Biden hat so pointierte wie konstante Botschaften.

  3. In der Bundesregierung und der Konferenz der Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten gibt es keine vertrauliche, keine vertrauensvolle Zusammenarbeit mehr, überall doppelte Böden. Der beginnende Wahlkampf dürfte verhindern, dass dies bis zum September noch einmal anders werden wird.

  4. Gewaltige Probleme verlangen nach Kühnheit und Intelligenz, dann nach Disziplin und Stringenz. Das Handeln der Bundesregierung in der Pandemie erinnert mich an ihr Handeln nach Fukushima oder auch in der (leider) sogenannten Flüchtlingskrise (die Flüchtlinge sind nicht die Ursache jener Krise). Die Merkel-Regierung reagierte jeweils kühn und geradezu euphorisch, und intelligent ist die Kanzlerin gewiss, aber über die Langstrecke kamen die Widersprüche hinzu, auch die Langeweile wegen des Immergleichen, letztlich erratisches Handeln.

  5. Joe Biden wagt Dinge außerhalb des Gewöhnlichen. Er brachte Merck dazu, dem Konkurrenten Johnson & Johnson bei der Herstellung des Impfstoffs zu helfen. Die gerade noch handlungsunfähigen USA impfen inzwischen drei Millionen Menschen pro Tag.

  6. Die Hamburger Ärztin Andrea Müller-Scheven sagte mir bei Recherchen für den Tagesspiegel: Es hätte sofort eine Task Force mit Apothekern und Ärztinnen geben müssen, und wieso nur gab es nicht „einen zwei Monate dauernden ganz strammen Lockdown und zugleich ganz viel Impfstoff“? Impfstoff müsse neun Monate vor seinem Einsatz in definitiv ausreichender Menge bestellt werden. Das hat die EU nicht geschafft, Deutschland auch nicht, darunter leiden wir heute: „diese Unentschlossenheit, dieses Zerfasern“, so Müller-Scheven.

  7. In den USA bestellte die Trump-Regierung rücksichtslos oder auch entschlossen Impfstoffe in gewaltigen Mengen. Die Biden-Regierung übernahm am 20. Januar im exakt richtigen Moment: als Logistik, Präzision, eben Klarheit gefragt war.

  8. Präsident Biden versteht Politik als Auftrag, und er sieht die Demokratie als solche in der Krise: Die USA und die Demokratie hätten nicht mehr endlos Zeit, sagt er. Darum kam er spektakulär gut vorbereitet ins Weiße Haus, und seit dem ersten Tag im Amt handelt er auf diversen Ebenen so umfassend, wie es ihm im heutigen Washington möglich ist. (Um das Offensichtliche trotzdem auszusprechen: Die amtierende Bundesregierung vermittelt diese Dringlichkeit nicht.)

  9. Beide übrigens, USA und Deutschland bzw. Europa, machen den Fehler, zu sehr auf sich selbst zu schauen. Die USA exportieren nun Impfstoffe, ja, aber dass die Krise aus Indien und Brasilien zu uns zurückkommen und endlos werden wird, riskieren Amerika und Europa. Meine Meinung: Die Patente der Impfstoffe müssen freigegeben werden, jetzt, weltweit, trotz der juristischen und ökonomischen Konsequenzen – denn alle anderen Konsequenzen sind wuchtiger.

  10. Wir reden hier über Wellen. Also über etwas Bewegliches. Wenn Biden die ersten Niederlagen hinter sich hat und falls in den USA bei den sogenannten Midterms, den Kongresswahlen in eineinhalb Jahren, die Demokraten die Mehrheit in Senat oder Repräsentantenhaus verlieren, während in Deutschland eine neue Regierung Tritt fasst und sich Kühnheit und Disziplin verordnet … nun … dann kann alles wieder ganz anders sein.

Mit herzlichen Grüßen aus Leipzig

Ihr Klaus Brinkbäumer

Porträt von Klaus Brinkbäumer

Klaus Brinkbäumer

Klaus Brinkbäumer ist in Hiltrup aufgewachsen. Er ist Journalist, Autor, Filmemacher und seit Januar Programmdirektor des Mitteldeutschen Rundfunks in Leipzig. Von 2015 bis 2018 war er Chefredakteur des Nachrichtenmagazins Der Spiegel. Brinkbäumer gewann unter anderem den Egon-Erwin-Kisch- und den Henri-Nannen-Preis, im Jahr 2016 wurde er zum Chefredakteur des Jahres gewählt. Im Podcast „Okay, America?“ spricht er einmal wöchentlich mit der Zeit-US-Korrespondentin Rieke Havertz über die politische Lage in den USA. Klaus Brinkbäumer lebt in Leipzig.

Die RUMS-Kolumnen

Immer sonntags schicken wir Ihnen eine Kolumne. Das sind Texte, in denen unsere acht Kolumnistinnen und Kolumnisten Themen analysieren, bewerten und kommentieren. Die Texte geben ihre eigene Meinung wieder, nicht die der Redaktion. Mitgliedschaften in politischen Parteien oder Organisationen machen wir transparent. Wenn Sie zu den Themen der Kolumnen andere Meinungen haben, schreiben Sie uns gern. Wenn Sie möchten, veröffentlichen wir Ihre Zuschrift im RUMS-Brief. Wenn Sie in unseren Texten Fehler finden, freuen wir uns über Hinweise. Die Korrekturen veröffentlichen wir ebenfalls im RUMS-Brief.

In eigener Sache

Unterstützen Sie uns! Leser:innen werben Leser:innen

In den kommenden Monaten möchten wir die Zahl unserer Abonnent:innen auf 2.500 steigern, um uns nachhaltig finanzieren zu können. Denn unser Journalismus ist aufwendig und braucht Zeit, und das kostet Geld. Deswegen bitten wir Sie darum, uns zu unterstützen. Und das ist ganz einfach: Wenn jede und jeder von Ihnen nur drei Verwandte, Bekannte und Freund:innen anschreibt und uns weiterempfiehlt, können wir gemeinsam wachsen und unser Angebot auch ausbauen.

Außerdem profitieren auch andere davon: Bei bestimmten Zielmarken werden wir Medien-Workshops für Jugendliche veranstalten, Genaueres dazu lesen Sie hier. Sie können uns dafür Organisationen vorschlagen, die Ihnen am Herzen liegen.

Schreiben Sie uns dazu gerne an diese Adresse. Wie sich unsere Aktion entwickelt, teilen wir Ihnen ab jetzt regelmäßig in unserem Brief mit. Sobald wir die ersten Workshops umsetzen können, werden wir diese außerdem dokumentieren.


Ihnen gefällt dieser Beitrag?

Wir haben Ihnen diesen Artikel kostenlos freigeschaltet. Doch das ist nur eine Ausnahme. Denn RUMS ist normalerweise kostenpflichtig (warum, lesen Sie hier).

Mit einem Abo bekommen Sie:

  • 2x pro Woche unsere Briefe per E-Mail, dazu sonntags eine Kolumne von wechselnden Autor:innen
  • vollen Zugriff auf alle Beiträge, Reportagen und Briefe auf der Website
  • Zeit, sich alles in Ruhe anzuschauen: Die ersten 6 Monate zahlen Sie nur einen Euro.

Wir freuen uns sehr, wenn wir Sie ab heute in der RUMS-Community begrüßen dürfen!

Bitte melden Sie sich an, um zu kommentieren.
Anmelden oder registrieren