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Die Kolumne von Michael Jung | Schulpolitik – Fahren auf Sicht
Guten Tag,
so manches kommunalpolitische Trauma wirkt lange nach. So ist es auch mit der Schulentwicklungsplanung, die die damalige Dezernentin Andrea Hanke vor knapp 15 Jahren krachend vor die Wand gesetzt hat. Damals tüftelte man monatelang im Geheimen an einem Gesamtentwurf. Dann präsentierte man dem staunenden Publikum die Idee. Es war die Zeit, in der man auch Schwimmbäder und manch anderes schloss. CDU und FDP regierten mit knapper Mehrheit. Die Idee lautete: Drei Schulen sollten geschlossen werden: das Schlaun-Gymnasium, die Aegidii-Ludgeri-Schule und die Wartburg-Hauptschule.
Es kam, wie es kommen musste: Am Ende passierte nichts, alles blieb beim Alten. Und das war vielleicht auch ganz gut so, denn schon die Grundannahme der Planung war falsch. Das Mantra der Ära von Oberbürgermeister Berthold Tillmann und Stadtdirektor Hartwig Schultheiß lautete: Münster wächst nicht mehr in der Quantität, sondern nur in der Qualität – die Stadt wird nicht mehr größer, sondern nur noch besser. In den kommunalen Kassen zeichnete sich eine Ebbe ab. Die Strukturen müssten schlanker werden, denn die Bevölkerungszahlen würden bestenfalls stagnieren, so dachte man. Heute wissen wir: Sowohl die Annahmen als auch die politischen Schlussfolgerungen dieser Zeit waren falsch, und so gilt das rückblickend auch für Hankes Schulentwicklungsplanung. Die Pläne blieben in der Schublade.
In den Jahren darauf hielt die kommunale Schulpolitik sich wohlweislich zurück mit großen Gesamtentwürfen. Sie fuhr auf Sicht. Dabei kam mehr heraus, als der gescheiterte große Masterplan möglich gemacht hätte. So bekam Münster endlich eine grundlegende Erweiterung seiner Schulstruktur – mit zwei kommunalen Gesamtschulen. Zunächst 2012 in Mitte, dann 2016 im Osten mit der Mathilde-Anneke-Gesamtschule. Das war eine lang überfällige Normalisierung der münsterschen Schullandschaft. Beim ersten Gründungsversuch im Jahr 1996 hatte die damals oppositionelle CDU das noch mit einem Bürger:innenentscheid verhindert.
Schulform Gesamtschule ist ein voller Erfolg
Ironie der Geschichte: Zwanzig Jahre später setzte die Stadt mit der Mathilde-Anneke-Gesamtschule genau das Standortkonzept um, das damals zum Untergang der Schullandschaft Münster erklärt worden war. Seither feiert sich für eine späte Erkenntnis – genau, die CDU. Der große Zuspruch für beide Schulen zeigt: In Münster ist die Schulform Gesamtschule ein voller Erfolg.
Den beiden Schulgründungen lag keine gesamtstädtische Schulentwicklungsplanung zugrunde, sondern sie entstanden aus relativ pragmatischen Entscheidungen. Die Stadt löste bestehende Schulen auf (zwei Realschulen und eine Hauptschule) und etablierte das neue System jeweils zunächst an deren Standorten. Das war politisch ein breiter Konsens, aber, wie sich rasch zeigte, kann es bei allem Pragmatismus trotzdem teuer kommen: Bei der ersten Gesamtschulgründung in Mitte schaffte es die schon erwähnte Dezernentin Andrea Hanke, zunächst 2008 den Schulstandort des nach Gievenbeck verlagerten Stein-Gymnasiums am Schlossplatz der Universität zu vermachen; danach verkaufte sie der sich etwas sperrig anstellenden Käuferin auch noch erfolgreich die beiden Sporthallen. Im Jahr 2012 schließlich legte dieselbe Beigeordnete dann dem Rat Planungen für die Gesamtschule Münster Mitte vor. Sie sahen auf dem Nachbargrundstück einen millionenschweren Schulneubau vor – einschließlich zweier Sporthallen, die aus Platzmangel in den Boden versenkt werden musste, für einen beträchtlichen zweistelligen Millionenbetrag.
Man konnte damals schon sehen: Auf Sicht fahren kann in der Schulpolitik schnell ins Geld gehen. Der Neubau der zweiten Gesamtschule im Osten sollte 50 Millionen Euro kosten. Noch ist der Bau nicht fertig, aber es ist schon absehbar, dass er fast 20 Millionen Euro teurer wird.
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Gesamtschullätze reichen nicht aus
Die Gründe sind einfach: Zum einen wird es ein Gebäude aus Holz. Das ist ökologisch ambitioniert, aber die Zahl der in Frage kommenden Firmen für so einen Bau ist überschaubar. Außerdem hieß es in den Wettbewerbsbedingungen sinngemäß, gute Lernerfolge seien allenfalls noch im ersten Stockwerk zu erwarten. Das Ergebnis ist eine Planung, die – vorsichtig formuliert – nicht gerade flächensparend ausfiel.
So hat Münster nun also zwei Gesamtschulen mit großer Nachfrage und bemerkenswert guten pädagogischen Konzepten. Und zugleich ein neues Problem: Jedes Jahr weisen die beiden Gesamtschulen knapp dreihundert Schüler:innen ab, weil die Plätze nicht ausreichen. Schnell war in der Rathauspolitik der Ruf erhoben: Die dritte Gesamtschule muss her. Damit bog man entschlossen in eine Sackgasse ein.
Es war rasch klar, dass es bei der Wahl eines Standorts einen Favoriten gibt: Roxel. Der Stadtbezirk West ist der zweitgrößte Bezirk der Stadt. Er wächst stark. Außerdem gibt es in Roxel ein sehr gut ausgestattetes Schulzentrum, nur leider keine weiterführende Schule. Die dort ursprünglich beheimatete Haupt- und Realschule ging in einer Sekundarschule auf. Es zeigte sich dann aber schnell: Eine Sekundarschule mit Gesamtschullehrplan, aber ohne gymnasiale Oberstufe funktioniert nicht, wenn die Alternative ein Komplettangebot in der Nähe ist.
Das war eine grundlegende Fehlkalkulation von Schulverwaltung und Schulpolitik. Die Folgen sieht man jetzt: Die Stadt wickelt die Sekundarschule ab, aber das Roxeler Schulzentrum bleibt. Es steht nur leer.
Kommunen müssen einverstanden sein
Roxel wäre nicht nur mit Blick auf die Infrastruktur ein gut geeigneter neuer Gesamtschulstandort. Leider ist für die Gründung einer solchen Schule ein überörtliches „gemeindliches Einvernehmen“ erforderlich und vorgeschrieben. Anders gesagt: Die Kommunen in der Nachbarschaft müssen einverstanden sein. Sind sie es nicht, entscheidet die Bezirksregierung als Kommunalaufsicht. Damit hat die Stadt Münster die Gründung einer Gesamtschule an diesem Standort nicht allein in ihrer Hand.
Leider halten die Nachbarkommunen im Kreis Coesfeld die Gesamtschule in Roxel für keine gute Idee. Sie machen sich Sorgen um die Zukunft des Pendants in Havixbeck. In der letzten Woche zogen sie alle Register: Die Existenz der Schule in Havixbeck sei gefährdet, hieß es. Doch das ist ein vorgeschobenes Argument. Vor nicht allzu langer Zeit eröffnete die Schule in Billerbeck eine Dependance.
Die Existenz der Haupt- und Realschulen im Kreis Coesfeld sei gefährdet, hieß es ebenfalls. Das ist richtig. Doch gefährdet ist deren Existenz, wie in Münster, auch ohne zusätzliche Gesamtschule.
In Wahrheit geht es darum, sich abzuschirmen vor Konkurrenz und Wettbewerb. Seit vier Jahren ist der Prozess an dieser Stelle festgefahren. So lange hat die Stadtverwaltung gebraucht, um die notwendigen Zahlen zusammenzutragen, die belegen, wie groß der Bedarf in Münster ist.
Alternative im Südosten?
Nun muss in diesem Sommer die Bezirksregierung entscheiden: Wiegt die hohe Zahl der Abweisungen in Münster an den Gesamtschulen schwerer als die Havixbecker Bedenken? Bis dahin dreht die Schulpolitik die vierte oder fünfte Warteschleife.
Im Rat denkt man inzwischen auch über Alternativen nach: Könnte eine neue Gesamtschule nicht auch im Südosten entstehen? Dort hat die Stadt sich ein Schulgrundstück in der Nähe der ehemaligen York-Kaserne gesichert, wo Hunderte neue Wohnungen gebaut werden sollen. Die Stadt hatte sehr frühzeitig öffentlich erklärt, dass eigentlich nur dieser Standort für einen Schulbau in Frage komme. Das war der Preisentwicklung nicht abträglich. Wäre das nicht ein guter Standort für eine dritte Gesamtschule?
Es gibt mehrere Probleme, die auf der Hand liegen. Zum einen wird es dauern. Es ist keine Schulinfrastruktur vorhanden, die es möglich machen würde, sofort zu starten. Zum anderen gäbe es in Roxel immer noch ein Schulzentrum ohne Schule, wenn die Wahl auf den Südosten fiele. Man baut also an einer Stelle, was man an anderer schon hätte. Und, was noch etwas gravierender ist: Der Südosten ist viel kleiner als der Westen, und dort gibt es schon weiterführende Schulen.
Etwas weiter, in Wolbeck, gibt es ein voll ausgebautes Schulzentrum mit Hauptschule, Realschule und Gymnasium. Legt man die bisherigen Erfahrungen mit Gesamtschulgründungen zugrunde, kann man ziemlich sicher sein, was passieren wird, wenn in Gremmendorf eine Gesamtschule entsteht: Dann wird es in Wolbeck nur noch ein Gymnasium geben – in einem dann vielleicht etwas groß dimensionierten Schulzentrum. Dieses Schulzentrum will die Stadt übrigens gerade für einen zweistelligen Millionenbetrag erweitern. Sie sehen: Wenn man auf Sicht fährt, kann es schnell auch mal in einer Sackgasse enden.
Wie kann man das Dilemma lösen? Es wäre nötig, dass Münsters Schulpolitik fraktionsübergreifend die fundamentalen Schulstrukturfragen unserer Stadt angeht. Die Stadt braucht ein Gesamtkonzept. Wo auch immer neue Schulen entstehen, sie werden Konsequenzen für das bestehende Angebot haben.
Folgen für bestehende Schulen
Natürlich kann man das Thema so angehen wie bisher: einfach einen favorisierten Standort ausrufen und die Folgen ausblenden oder verschweigen. Nur stehen dann demnächst vielleicht nicht nur in Roxel leere Schulgebäude herum, während die Stadt andernorts für Millionenbeiträge neu baut.
Im Fall der beiden existierenden Gesamtschulen hat die Stadt Münster bestehende Schulsysteme auslaufen lassen und nutzt die Infrastruktur zum Teil weiter. Jetzt aber geht es um eine komplette Neugründung. Das wird Folgen vor allem für bestehende Haupt- und Realschulen haben. Solche Prozesse kann man planen, oder man kann warten, bis Schulen austrocknen. Dann steht man mit deren Gebäuden da, wie es in Roxel geschehen ist.
Wenn die Stadt Münster nicht hohe Millionenbeträge sinnlos versenken will, wird es Zeit, zu sagen, wohin es gehen soll. Dazu braucht man nicht auf weitere Bevölkerungsprognosen warten, die dann falsch vorhersagen, wie Schülerströme sich entwickeln. Auf Basis solcher Werte hat der Schuldezernent Thomas Paal in Wolbeck eine zweizügige neue Grundschule gebaut, die im vergangenen Jahr fertig wurde. Im gleichen Jahr schlug er vor, sie so zu erweitern, dass sie dreizügig wird. So wird es nun kommen.
Die Schulpolitik muss endlich klar aussprechen, welche Zukunft die Schulen in Münster haben. Und die für manche harte, aber trotzdem wahre Erkenntnis ist: Unsere Stadt wird mittelfristig ein zweigliedriges Schulsystem haben. Bei den allgemeinbildenden Schulen haben nur Gymnasien und Gesamtschulen eine Zukunft. Hauptschulen sind ein gescheitertes Modell. Mit den Abschlüssen dieser Schulform kann auf dem Arbeitsmarkt niemand mehr etwas anfangen.
Das heißt ausdrücklich nicht, dass vorhandene Hauptschulen keine gute pädagogische Arbeit machen. Aber sie haben keine Zukunft mehr neben einem wachsenden und vor allem rege nachgefragten Gesamtschulangebot.
Wichtige Frage bleibt unbeantwortet
Dasselbe gilt für Realschulen. Es ist kein Zufall, dass die Zahl der Realschulen mit jeder Gesamt- und Sekundarschule um eine weitere geschrumpft ist. Auch wenn die bestehenden Realschulen derzeit nur scheinbar stark nachgefragt werden: Im Wettbewerb mit Gesamtschulen werden sie nicht stark genug sein.
In Münster gibt es ein zeitlich gestuftes Anmeldeverfahren. Die Anmeldungen der Gesamtschulen laufen vor allen anderen. Wenn das nicht so wäre, würde viel offensichtlicher, was die Eltern wollen. Im aktuellen Verfahren verteilen sich die an den Gesamtschulen Abgewiesenen mit allen anderen auf die übrigen Schulen. Das verhindert jedes Jahr, dass wir eine Antwort auf eine wichtige Frage bekommen: Wessen Anmeldezahlen hängen nur von Abweisungen an Gesamtschulen ab?
Diesen Veränderungsprozess der Schullandschaft kann man einfach laufen lassen wie bisher. Dann bekommen viele Kinder nicht die Schulform ihrer Wahl. Man kann ihn aber auch steuern. Den Unterschied dürfte man messen können. Es hätte pädagogische Folgen – und finanzielle. Man würde Millionen Euro an Baukosten sparen.
Am Ende steht die Frage, wie wir die Debatte über eine dritte Gesamtschule führen. Sprechen wir nur über den Standort? Oder auch über die Strukturen? Die Erkenntnis kann sein, dass ein geordneter Prozess nötig ist, an dessen Ende vielleicht nicht eine dritte, sondern auch eine vierte Gesamtschule steht. Und zur Ehrlichkeit gehört dann auch, zu sagen, welche existierenden Schulen keine Zukunft haben werden. Damit wären wir wieder am Ausgangspunkt: Es scheint jetzt nötig, aufzuhören, auf Sicht zu fahren. Wir brauchen ein Schulstrukturkonzept.
Jetzt werden Sie fragen: Was ist eigentlich mit Gymnasien und Berufskollegs? Dazu schreibe ich Ihnen demnächst einen RUMS-Brief.
Herzliche Grüße
Ihr Michael Jung
Michael Jung
… lebt schon immer in Münster. Er wurde 1976 hier geboren. Er hat an der Uni Münster Latein und Geschichte studiert und in Geschichte promoviert. Heute ist er Lehrer am Annette-Gymnasium in Münster. Michael Jung war viele Jahre in der Politik: Von 2013 bis 2020 war er Fraktionschef der SPD im Rat der Stadt. Im Jahr 2020 trat er für die SPD bei den Kommunalwahlen als Oberbürgermeisterkandidat an.
Die Kolumne
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