Die Kolumne von Michael Jung | Lernen von Bielefeld

Porträt von Michael Jung
Mit Michael Jung

Guten Tag,

als bei der Kommunalwahl Parteien eine Mehrheit gewannen, die sich für eine „Verkehrswende“ und in unterschiedlicher Akzentsetzung für eine autofreie Innenstadt aussprachen, und danach eine Koalition im Rathaus eingingen, war klar: In der Altstadt würde sich einiges ändern. Natürlich gab es Bedenken, was die Erreichbarkeit anging, auch die Sorge um den von der Pandemie gebeutelten Einzelhandel war natürlich zu hören. Trotzdem handelte die Rathauspolitik: Nach einer Phase im Frühjahr, in der die Menschen ihre Meinung zur Konzeption des Projekts einbringen konnten, machte der Rat Ende Mai Nägel mit Köpfen: Die Altstadt soll im Rahmen eines Modellversuchs autofrei werden.

Den lautstark geäußerten Bedenken von CDU und FDP kam man dadurch entgegen, dass eine erste Auswertung schon im September erfolgen soll, ansonsten soll das Projekt aber ausdrücklich über den Winter und damit auch im Weihnachtsgeschäft laufen. Danach soll im Frühjahr ausgewertet und gegebenenfalls geändert und verbessert werden. Der Grundsatzbeschluss jedenfalls, daran lassen die Koalitionäre im Rathaus keinen Zweifel, soll Signalwirkung haben: Die autofreie Altstadt soll Auftakt zur Klimaneutralität und zur Verkehrswende sein.

Möglicherweise werden Sie jetzt fragen: Habe ich was verpasst? Oder ist das eine Vision von Fridays for Future? Nein, ist es nicht. Das ist Bielefeld. Sie werden einwenden: Gibt’s doch gar nicht. Doch, tatsächlich – eine Großstadt, 62 Kilometer von Münster entfernt, von ähnlicher Größe und auch eine Solitärstadt in ihrem Umland, die traut sich was.

Ich will an dieser Stelle gar nicht über das Für und Wider einer autofreien Innenstadt schreiben, sondern mit Ihnen gemeinsam mal einen Blick auf den kommunalpolitischen Zwischenstand in den beiden westfälischen Städten ein Dreivierteljahr nach der letzten Kommunalwahl werfen – am Beispiel des Verkehrs. Bielefeld geht jetzt in den großflächigen Modellversuch, und man darf sehr gespannt sein, wie sich das auswirken wird – aber auch, wie das ausgewertet wird. Und vor allem, ob das funktioniert.

Schauen wir parallel mal auf den Zwischenstand in Westfalens Hauptstadt im Lindenkranze, die von sich gerne glaubt, sie biete quasi überall Einzigartiges und Sensationelles, mindestens aber Großartiges an. Wie sieht es nun in der Verkehrspolitik aus, bei einer fast identisch gefärbten Ratsmehrheit und nach einem Wahlkampf, bei dem es auch in Münster um die Frage einer Verkehrswende ging? An drei Beispielen kann man gut sehen, in welche Richtung es geht, und was Münsters Verkehrspolitik von Bielefeld unterscheidet.

Beispiel 1

Der Flyover, der zentrale Streitpunkt der letzten Wochen. Für die einen eine hochattraktive, spektakuläre Fahrradverbindung von Promenade und Bismarckallee, für die anderen ein 10-Millionen-Prestigeobjekt ohne erkennbaren Nutzen für den Radverkehr. Der Oberbürgermeister, der sich für das schlagzeilenträchtige Projekt sehr erwärmen kann, ließ die Kritik schon mal mit dem Hinweis auf das schlichte westfälische Gemüt der Kritiker:innen an sich abperlen.

Nüchtern betrachtet müsste aber nicht die Frage nach dem Gemüt im Mittelpunkt stehen, nach schön oder hässlich, nach Zuschuss oder zu teuer, sondern eine andere: Auf welche verkehrspolitische Frage ist dieses Projekt eigentlich eine Antwort?

Bis zur Geburt des Projekts in der Stadtverwaltung wäre den wenigsten Menschen in Münster in den Sinn gekommen, dass die Fahrradstrecke von der Promenade zur Bismarckallee das Kardinalproblem der Verkehrspolitik in Münster sei – manche hätten naiv vielleicht an den Ludgeriplatz, die Einmündung des Albersloher Wegs oder den Hauptbahnhof gedacht.

Der Lautstärke und Intensität der Debatte über den Flyover nach zu urteilen aber war das falsch. Im Rat ging die Sache vorerst aus, wie sie in Münster meistens ausgeht: Der Stadtbaurat als Initiator des Projekts wurde mit einem sehr langen Prüfauftrag wieder an den Schreibtisch geschickt. Wiedervorlage und nächste Debattenrunde dann, wenn die Verwaltung wieder Lust hat.

Beispiel 2

Der Leezenflow. An der Promenade vor der Kreuzung Hörsterstraße hat die Stadt im Rahmen eines Modellprojekts 100 Meter vor der Kreuzung ein Display aufgestellt, das anzeigt, wie lang die Ampel noch Grün zeigen wird.

2013 fand die Verwaltung solche damals noch ganz bürokratisch „Restrotanzeigen“ genannten Displays ganz furchtbar, heute gibt es einen schicken Angliszismus, der wegen des Lokalkolorits mit Masematte gekoppelt wird – und schon fühlt die Bürokratie sich hipp und modern, feiert in Pressemitteilungen sich selbst und lobt zwei Wochen nach dem Start die unfassbar breite Bürgerbeteiligung: 125 Menschen haben ihre Meinung dazu gesagt, ganz modern mit QR-Code. Respekt!

Wer schon mal die Welt außerhalb Münsters hat kennenlernen dürfen, weiß, dass solche Anzeigen in anderen Ländern eher nicht ungewöhnlich, sondern Standard sind. In Münster wird allerdings, dem Wahlergebnis entsprechend, jetzt nicht Restrot, sondern Restgrün angezeigt. Auch hier könnte man aber wieder fragen: Welches verkehrspolitische Problem löst dieses Projekt genau?

Das Problem für den Leezenflow nämlich ist die völlig überflüssige Doppelampel an der Hörsterstraße (25 Meter weiter steht die nächste an der Einmündung zur Garten-/Fürstenbergstraße). Die viel interessantere Frage, wie viele eher dem Auto Flow nutzende Ampeln die Stadt braucht, bleibt erstmal unbeachtet. Und die noch spannendere Frage, an wessen Interessen deren Schaltung stadtweit ausgerichtet wird, wäre auch mal zu diskutieren – gerade mit Blick auf die ständig sinkende Durchschnittsgeschwindigkeit von Bussen in der Stadt.

Beispiel 3

Damit sind wir beim Hauptbahnhof. Dort soll jetzt – ebenfalls im Modellversuch – eine durchgängige Busspur über die ganze Achse bis zur Kreuzung Landeshaus entstehen. Das ist ein neuralgischer Punkt des Busverkehrs in Münster, jede Buslinie hält am Bahnhof, und fast jede fährt schon zu Beginn erhebliche Verspätung ein, weil dort eben zeitaufwändige Einfädelaktionen in den laufenden Autoverkehr stattfinden müssen. Eine durchgehende Spur ist seit langem eine Kernforderung aller, die den Nahverkehr in Münster attraktiver machen wollen.

Seit dem Machtverlust von SPD und Grünen 1999 und der Rückkehr der CDU ist allerdings in Münster nur eine einzige Busvorrangspur zusätzlich entstanden. Nun also immerhin der Modellversuch am Bahnhof. Gleichzeitig, die Verkehrswende wirft hier ihren münstertypischen schwarzen Schatten, platzt die Meldung in die Debatte, dass an der Ostseite des Bahnhofs die seit Jahren parteiübergreifend geforderte zweite Radstation nicht kommen werde, zudem geplante Fahrradständer wegfallen: Die Bebauung sei so massiv. Die Stadt wies den Bericht zurück. Es ist noch nicht ganz klar, wie es ausgeht. Aber Sie sehen: Die Dinge greifen ineinander.

Und damit sind wir beim entscheidenden Unterschied zwischen Münster und Bielefeld. Man kann das ostwestfälische Konzept richtig oder falsch finden. Bielefeld hat aber ein Konzept. Münster hat keins, aber dafür Robin Denstorff.

Der schneidige junge Stadtbaurat ist es nämlich, dem all dies zu verdanken ist. 2016 als Nachfolger des abgewählten Hartwig Schultheiß auf Vorschlag der CDU ins Amt gekommen, fällt er vor allem durch die Pose des Technokraten auf, der das Publikum gern mit allerlei technischem Vokabular zu beeindrucken versucht – das stellt für einen Teil des Publikums (Oberbürgermeister, CDU) eine wohltuend fachlich klingende Kopiervorlage dar, für den anderen Teil ist es eher Wortgeklingel und Einschüchterungsversuch. Am Ende kommt es aber gerade bei Stadtbauräten auf die reale Arbeitsbilanz an – und da fällt auf, dass das, was Denstorff vorlegt und ausarbeitet, in der Regel Placebo- und Insellösungen sind. Die werden dann mit bunten Bildern aufgepimpt – aber die Kernfragen der Verkehrspolitik bleiben ungelöst – die drei Beispiele zeigen es.

Vorschlag 1

Wenn eine Verkehrswende gelingen soll, dann braucht es einen attraktiven und vor allem schnellen Nahverkehr. Das gelingt neben der Reaktivierung von Bahnhaltepunkten nur mit einem Netz von Busschnellspuren. In beiden Punkten ist seit Jahren nichts passiert oder nur Schneckentempo erkennbar. Ein ernsthaftes Gesamtkonzept fehlt – stattdessen wird jetzt mit Modellversuchen Aktivität vorgetäuscht, ohne aber die Hauptachsen ernsthaft anzugehen.

Die Kernfragen bleiben ausgespart: Wo und vor allem wann endlich müssen zusätzliche Busvorrangspuren entstehen, dass sie ein Schnellnetz ergeben, wie muss sich die Ampelschaltung ändern? Das sind, neben den Bahnhaltepunkten, die Kernfragen, wenn Menschen umsteigen sollen auf den Nahverkehr. Und für deren Beantwortung war jetzt wirklich lange Zeit.

Vorschlag 2

Bei Fahrradverkehr sieht es ähnlich aus: Pseudo-Lösungen wie Flyover oder Leezenflow erfreuen das Technokratenherz. In der Kernzone der Innenstadt ist aber für die meisten Menschen, die mit dem Rad unterwegs sind, nicht die Frage entscheidend, wie lange eine Ampel an der Hörsterstraße noch Grün zeigen wird, sondern die, wo sie ihr Fahrrad sicher abstellen können.

Dringend notwendig wäre daher ein Konzept, das zeigt, wie es gelingen kann, die Zahl der Fahrradstellplätze in der Innenstadt und in den angrenzenden Wohnquartieren deutlich zu erhöhen. Dabei geht es nicht darum, einzelne Parkplätze für Autos umzuwidmen, sondern um eine überzeugende Gesamtlösung. Sie muss auch sicherstellen, dass Autos und Fahrräder nicht mehr überall auf den Gehwegen stehen.

Das ewige Ping-Pong-Spiel

Eine Mitverantwortung liegt bei der Politik. Sie lässt Denstorffs Placebo-Antworten zu viel Raum und traut sich zu wenig Entscheidung zu. Die Debatte um den Flyover zeigt das Dilemma exemplarisch: Die Grundsatzentscheidung, ob man das Projekt will oder nicht, muss am Anfang und nicht am Ende des Prozesses stehen. Die Mehrheit hat den Stadtbaurat jetzt mit einem halbgaren „Ja, aber“ wieder den Ball ins Feld gespielt – seitenlange Prüf- und Arbeitsaufträge lösen das Problem aber nicht: Am Ende wird man sich nicht um die Grundsatzfrage drücken können: Ja oder Nein?

Das größere Problem aber ist: Die Antwort auf all das, was geprüft und bearbeitet wird, hat man wieder nicht in der Hand – genauso, wie ja das ganze Vorhaben keine Idee aus dem politischen Raum war. So lässt sich die Mehrheit politisch vom Stadtbaurat weiter vor sich hertreiben. Vom Demokratieprinzip her sollte es aber andersherum sein: Die politische Mehrheit definiert die Ziele, die Verwaltung arbeitet dann die daraus abgeleitete praktische Umsetzung aus.

In Münster läuft es zum wiederholten Male wieder anders: Die Verwaltung arbeitet eine publicityträchtige Teillösung aus und setzt das Thema für die Debatte, die Politik verzankt sich lustvoll in den Details der Umsetzung, gibt umfangreiche Änderungswünsche zu Protokoll – und heraus kommt am Ende nach jahrelanger Debatte eine Insellösung und ein Solitär für eine einzige Promenadenkreuzung.

Vielleicht kommt aber auch gar nichts heraus, das wäre auch nicht das erste Mal und nicht das unwahrscheinlichste Ende der Sache. Das ewige Ping-Pong-Spiel zwischen einer politischen Mehrheit, die vor Grundsatzentscheidungen eher zurückschreckt und lieber lange Prüfaufträge verteilt, und einer Fachverwaltung, die alles besser zu wissen meint und im Zweifel eine eigene investorenorientierte Agenda verfolgt, kostet Zeit, Geld und Nerven. Und vor allem führt es zu wenig Ergebnissen. Das funktioniert 62 Kilometer weiter, wo Mehrheit und Verwaltung an einem Strang ziehen, erkennbar besser – ob man es nun in der Zielsetzung richtig findet oder nicht.

Münster droht sich zu verzetteln

Am Ende bleibt wieder einmal die Erkenntnis: Münster braucht mehr politische Entscheidung und Führung. Gerade in der Verkehrspolitik wird man die Illusion aufgeben müssen, man könne es irgendwie allen recht machen oder es werde sich wenig ändern müssen. Nach dem Wahldesaster und dem Ende von Rot-Grün 1999 haben sich SPD und Grüne von strittiger Verkehrspolitik lieber ferngehalten, und die CDU hat nach dem eigenen Reinfall mit der Tiefgarage am Ludgerikreisel fünf Jahre später das Thema auch nur noch mit sputzen Fingern angefasst.

Seither versucht man, den Status quo zu moderieren oder allenfalls mit vorsichtig dosierten Änderungen oder neuerdings mit Modellversuchen (befristet! Nur an dieser Stelle! Wird wieder abgebaut!) zu Details nicht zu viel Veränderung zuzumuten. Es braucht jetzt neue Gesamtkonzepte und klare Prioritäten. Und nicht nur Insellösungen wie am Bült und an der Coermühle.

Ärger gibt es sowieso immer – ob man nun einen großen Wurf wagt oder Einzellösungen diskutiert. Es hilft am Ende nur eine breite Bürger:innenbeteiligung, die auch ernst gemeint ist. Auch daran fehlt es bisher weitgehend. Das muss sich nach der Pandemie grundlegend ändern. Das erste Fünftel der neuen Wahlperiode ist jetzt mit dem Start in die Sommerpause fast vorbei. Und die Erkenntnis ist: Münster droht, sich zu verzetteln. Andere sind weiter, andere erproben schon Gesamtkonzepte. Und das Allerschlimmste daran ist: Es ist Bielefeld.

Herzliche Grüße
Ihr Michael Jung

Porträt von Michael Jung

Michael Jung

… lebt schon immer in Münster. Er wurde 1976 hier geboren. Er hat an der Uni Münster Latein und Geschichte studiert und in Geschichte promoviert. Heute ist er Lehrer am Annette-Gymnasium in Münster. Michael Jung war viele Jahre in der Politik: Von 2013 bis 2020 war er Fraktionschef der SPD im Rat der Stadt. Im Jahr 2020 trat er für die SPD bei den Kommunalwahlen als Oberbürgermeisterkandidat an.

Die Kolumne

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