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Die Kolumne von Michael Jung | Münster fehlt eine Erinnerungskultur
Guten Tag,
die Aufregung in Hiltrup und Handorf war groß. Die neuen grünen Bezirksbürgermeister hatten die Feiern zum Volkstrauertag am Ehrenmal abgesagt und wollten stattdessen an anderer Stelle Gedenkfeiern etablieren. Bei diesen Feiern sollten die Zwangsarbeiter:innen aus der Zeit der NS-Diktatur im Mittelpunkt stehen. Vereine reagierten mit Empörung und nahmen die etablierte Veranstaltung selbst in die Hand.
So blieb alles wie gehabt, und der grüne Bezirksbürgermeister aus Hiltrup fand sich als Zuschauer bei der bis dahin eigenen Veranstaltung wieder. Die Hiltruper WN-Lokalredaktion jubilierte: Die Veranstaltung sei „gerettet“. Man könnte das für eine Lokalposse halten, doch wieder steckt mehr dahinter.
Zum einen geht es um den Kampf um die kulturelle Hegemonie in den Außenstadtteilen Münsters. Die CDU, die sich rasch zur Anwältin der bestehenden Veranstaltungen aufschwang, versucht an der Seite der Traditionsbataillone zu verteidigen, was bewährte Praxis zu sein scheint.
Die grünen Bezirksbürgermeister, in beiden Fällen durch CDU-interne Querelen in ihr Amt gekommen, ohne eine parlamentarische Mehrheit zu haben, setzen eine Duftmarke. Und das taten sie mit einigem Wums und viel Dilettantismus.
Machtwille ist kein Konzept
Im Gefühl gewonnener Macht, aber ohne Strategie und ohne jeden Versuch von Gesprächen vorab brachten sie eine Neuerung auf den Weg, um dann krachend zu scheitern. Machtwille allein ist eben noch kein Konzept. Typisch für den aktuellen Kampf um die kulturelle Hegemonie in der Stadt ist auch der Befund: Er wird von CDU und Grünen ausgetragen. Andere politische Kräfte stehen marginalisiert auf der Zuschauertribüne.
Zum anderen geht es um die Sache. Der aber haben die beiden grünen Bezirksbürgermeister mit ihrem brachialen Vorgehen einen Bärendienst erwiesen. Der Volkstrauertag ist durchaus ein diskussionswürdiger Gedenktag. Ursprünglich nach dem Ende des Ersten Weltkrieges geschaffen zur Erinnerung an die Kriegstoten, wird er noch immer maßgeblich vom Volksbund Kriegsgräberfürsorge gestaltet und getragen. Nachdem die Nationalsozialisten ihn zum „Heldengedenktag“ umgewandelt und auf den März verlegt hatten, findet er seit den 1950er-Jahren als stiller Gedenktag wieder im November statt.
Seit dem generationellen Ausscheiden der Kriegsgeneration ist er stärker an den Rand gesellschaftlicher Wahrnehmung gerückt. Das heißt aber auch, dass er (in Münster) kaum grundlegende Modifikationen erfahren hat. Die Vergangenheitspolitik der 1950er-Jahre wird hier noch immer reproduziert. Und in dieser Logik gibt es vor allem „Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft“. Das sind die typischen Formeln der Nachkriegsgesellschaft, in denen sich alle irgendwie in eine große Opfergemeinschaft einfügen durften, und in der es keine Täter:innen zu geben schien.
Schaut man sich nun an, wie in Berlin die Verfassungsorgane den Volkstrauertag begehen, dann fällt eines auf: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat in seiner Rede zum diesjährigen Volkstrauertag die Hälfte der Redezeit für die Opfer des deutschen Vernichtungskrieges in Osteuropa und die Opfer der Shoah verwendet. Dann hat er einen Bogen geschlagen zu der Distanz, mit der die deutsche Gesellschaft heute Militärischem gegenübersteht.
In den Stadtteilen: Rituale der 1950er-Jahre
Vor diesem Hintergrund fand der Bundespräsident zu einer Würdigung der demokratischen Parlamentsarmee und ihrer Einsätze. Sprachlosigkeit gegenüber der Bundeswehr gelte es zu überwinden, und die Gedenkorte der Vergangenheit sollten zu Orten der Versöhnung werden, sagte der Bundespräsident. Von den Soldaten der NS-Wehrmacht sprach er mit keinem Wort.
Vergleicht man nun die Rede des Bundespräsidenten mit der in Münsters Außenstadtteilen geübten Praxis, sich mit wehenden Vereinsfahnen und Reservistenverbänden an sogenannten Ehrenmalen zu treffen, dann fällt ein gewisser Unterschied auf. Münsters Volkstrauertag unterscheidet sich in den Stadtteilen wenig von Ritualen der 1950er-Jahre (oder denen der Weimarer Republik).
Bei ihrem Weg von der Mitte in eine Aufmerksamkeitsnische der Gesellschaft haben sich die Rituale mehr oder weniger konserviert und unverändert erhalten. Die Gesellschaft aber hat sich verändert – ebenso wie die historischen Bewertungen. Während die Nachkriegsgesellschaft an der kunstvoll konstruierten Legende von der „sauberen Wehrmacht“ festhielt, steht unter Fachleuten spätestens seit der Wehrmachtsausstellung vor 25 Jahren fest: Die Wehrmacht war nicht nur ein williges Instrument der NS-Rassen- und Vernichtungspolitik, sie war dabei selbst zentrale Akteurin.
Das bedeutet nicht, dass alle Soldaten der Wehrmacht persönlich Täter waren, aber es bedeutet eben das, was der Traditionserlass der Bundeswehr bereits seit 1982 festschreibt: Die Wehrmacht kann einer demokratischen Armee und einem demokratischen Land keine Tradition stiften, sie kann kein positiver historischer Bezugspunkt sein.
Kein Platz für eine demokratische Gesellschaft
Vor diesem Hintergrund sollte eigentlich klar sein, dass die sogenannten „Ehrenmale“ auch keine geeigneten Schauplätze sind, an denen die Stadtgesellschaft zu offiziellen Gedenkfeiern zusammenkommen kann. Dort, wo schon die Nazis ihre Heldengedenktage zelebrierten, ist sicher kein Platz für eine demokratische Gesellschaft.
Und die Ehrenmale ehren eben nicht deren Soldaten – geschweige denn die zahllosen Opfer des Krieges. Kann man der Millionen Opfer des vom Deutschen Reich maßgeblich herbeigeführten Ersten Weltkrieges und des nationalsozialistischen Rassekrieges an einem Ort gedenken, der im Prinzip ein Ort der Täter ist?
Wenn die Armee des Kaiserreichs und die NS-Wehrmacht für die Bundeswehr keine Tradition stiften können, sind solche Orte auch ganz sicher falsch, um des Einsatzes einer demokratischen Parlamentsarmee zu gedenken. Und nur weil etwas schon lange stattfindet, ist es nicht deswegen schon gut und bewahrenswert.
Die Stadt Münster hat daraus, dank des Einsatzes des Stadtvorsitzenden des Volksbunds, Wolfgang Heuer, vor einiger Zeit Konsequenzen gezogen und das Gedenken von einem „Ehrenmal“ an der Promenade wegverlegt in den Rathausinnenhof. Vermutlich ist das bei den meisten Menschen unter dem Radar geblieben, aber das liegt auch daran, dass Heuer anders vorgegangen ist als die grünen Bezirksbürgermeister: Er hat es nicht dekretiert, sondern hinter den Kulissen nach konsensualen Lösungen gesucht.
Keine erkennbare Gedenkkultur
Seither hat zumindest der städtische Volkstrauertag nichts mehr zu tun mit den Rassekriegern der Wehrmacht, sondern findet auf dem Platz des Westfälischen Friedens statt. Es wird Zeit, dass diese Erkenntnis sich auch zur CDU in den Stadtteilen und den dortigen Bewahrern einer falschen Tradition herumspricht.
Deutlich wird an alledem, dass es in Münster keine auch nur ansatzweise erkennbare Gedenkkultur gibt. Die Ankündigung großer Festlichkeiten zum 375-jährigen Jubiläum des Westfälischen Friedens 2023 kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass unsere Stadt eine große Leerstelle hat, wo es um historisches Gedenken im öffentlichen Raum geht.
Die seit Jahren von der Kulturverwaltung angekündigten Konzepte für die Denkmäler auf der Promenade sind noch immer nicht umgesetzt. Der Zwinger als einer der durchaus zentralen Orte von NS-Endphaseverbrechen in Münster ist außer einer Gedenkplatte kein Ort, an dem sich die Stadtgesellschaft in irgendeiner Weise mit NS-Verbrechen auseinandersetzen würde.
An der Stelle, an der sich die Münsteraner Jüdinnen und Juden zur Deportation versammeln mussten, gibt es seit den 1980er-Jahren ebenfalls eine Metallplatte, die nur sieht, wer um die Bedeutung des Ortes weiß. Bei den Gräbern der Zwangsarbeiter:innen des Ersten und des Zweiten Weltkrieges sieht es ähnlich aus.
Bei den Gedenktagen dasselbe Bild: Das in den 1980er-Jahren aufgekommene Gedenken an die Verbrechen der Pogromnacht ist Sache der Jüdischen Gemeinde, die zur Gedenkfeier einlädt. Am 1995 deutschlandweit eingeführten Gedenktag für die Shoah versammeln sich Menschen und können hoffen, dass einige Schulen ein Programm vorbereitet haben.
Bitte ohne Kostenaufwand
Und am Tag der Deutschen Einheit findet im Rathaus ein Treffen mit Vertreter:innen von Münsters thüringischer Partnerstadt Mühlhausen statt, das ohne jede Wirkung oder Bedeutung ist. Kurz und gut – alles auf dem niedrigsten Level, bitte vor allem ohne Kostenaufwand für die Stadt. Und die städtischen Vertreter:innen kommen kurz mal vorbei fürs Pressefoto, wenn überhaupt. Unsere Stadt besitzt keine Erinnerungskultur – weder an den Gedenktagen noch an den Orten. Und erkennbar besitzt es auch keine Priorität, sich über die Gestaltung der Orte Gedanken zu machen.
Die wichtige Arbeit der Villa ten Hompel und das Engagement vieler Schulen und vieler Ehrenamtlicher kann kaum darüber hinwegtäuschen, dass Münster an zentralen Gedenktagen von nationaler Bedeutung (Pogromnacht, Holocaust-Gedenktag, Volkstrauertag, Tag der Deutschen Einheit) es einfach nicht schafft, Veranstaltungen zu organisieren, die von mehr als achtzig oder hundert Menschen frequentiert werden und für die Stadtgesellschaft eine relevante Bedeutung haben.
Jetzt können Sie einwenden: Das sei vielleicht anderswo auch so. Mag sein – aber 40 Kilometer von hier entfernt zeigt die Stadt Dortmund zum Beispiel jedes Jahr mit dem Gedenken an die Karfreitagsmorde 1945, dass so etwas auch ganz anders geht: dass man auch als Stadt erinnern kann an das, was unsere Gesellschaft nicht vergessen will und darf.
Und das eigentlich Schlimme ist: Wenn es den Demokrat:innen in unserer Stadt nicht gelingt, die Orte und die Formen der Erinnerung zu definieren, dann tun es andere. Am Volkstrauertag fanden sich am Train-Denkmal, das insbesondere wegen seiner Bezüge zum kolonialen Völkermord in Namibia noch eine ganz eigene Diskussion verdient hätte, eben auch Zeichen des Gedenkens.
Die Erinnerungslücken füllen andere
Dort hatte jemand serienweise Grablichter aufgestellt mit Aufklebern, die an den „ewigen Bund 1871“ erinnerten. Auch wenn die Formulierung den Titel einer überaus seriösen aktuellen Studie zur Verfassungsgeschichte des Kaiserreichs zitiert, ist klar, dass hier sogenannte Reichsbürger:innen ihr ganz eigenes Gedenken am historischen Ort zelebrieren. Das mag man alles ebenso für eine Posse halten wie die permanenten Aktionen von anderer Seite an diesem Denkmal. Aber der Vorgang zeigt: Wenn die demokratischen Kräfte der Stadt die Erinnerung nicht füllen, dann tun es andere – mit ihrer eigenen Agenda.
Dass das auch ganz ungeniert Unterstützung findet, hat eine CDU-Ratsfrau zuletzt eindrucksvoll bewiesen. Unter Bezugnahme auf den Streit über den Volkstrauertag erinnerte sie in den sozialen Netzwerken an ihren Großvater. Der habe schon nach dem Ersten Weltkrieg als Baltendeutscher in weißen Einheiten gekämpft. Und in Stalingrad sei er auch dabei gewesen. Ein Leben im Kampf gegen den Bolschewismus, hätte man früher vielleicht gesagt.
Unabhängig davon, was sie privat tut und lässt – als Ratsmitglied dergleichen zu publizieren mit Verweis auf den Streit über den Volkstrauertag, das bedeutet nichts anderes, als eben genau die Akteure der Nazi-Wehrmacht zu Kriegsopfern zu erklären. Sie wird wissen, warum sie politisch damit hervortreten will. Sie fischt im Sumpf. So geht es, wenn die Stadt keine Linie hat beim Gedenken.
Herzliche Grüße
Ihr Michael Jung
Michael Jung
… lebt schon immer in Münster. Er wurde 1976 hier geboren. Er hat an der Uni Münster Latein und Geschichte studiert und in Geschichte promoviert. Heute ist er Lehrer am Annette-Gymnasium in Münster. Michael Jung war viele Jahre in der Politik: Von 2013 bis 2020 war er Fraktionschef der SPD im Rat der Stadt. Im Jahr 2020 trat er für die SPD bei den Kommunalwahlen als Oberbürgermeisterkandidat an.
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