Die Kolumne von Michael Jung | Endlich gute Nachrichten?

Porträt von Michael Jung
Mit Michael Jung

Guten Tag,

dieser Tage ist es wirklich schwer, nicht unterzugehen in schlechten Nachrichten. 2022 bietet wirklich genug davon. Wie sehr wünscht man sich in alledem oft einfach mal eine gute Nachricht zwischendurch – man wäre ja für jeden Silberstreif am Horizont dankbar. Glücklicherweise gibt es Robin Denstorff, der bekanntlich in Münster als Stadtbaurat große Erfolge feiert. Aus seinem Haus dringen nur gute Nachrichten an unser Ohr.

So war es auch neulich wieder: Der Bauüberhang in Münster, ließ er verlauten, sei auf Rekordniveau. Also bitte, wenn das keine gute Nachricht ist. Falls Sie nicht wissen, was ein Bauüberhang ist, der Stadtbaurat liefert die Erklärung auch gerne: Eine „enorme Welle von Fertigstellungen“ bei Wohnungen kündige sich an, teilte Denstorff mit, genehmigt seien sie nämlich schon.

Seine Zahlen sind beachtlich: 1.518 neue oder umgebaute Wohnungen seien 2021 fertiggestellt worden. Die Zahl liege, so Denstorff, über dem Mittelwert der letzten 20 Jahre (1.484). 4.757 neue Wohnungen seien genehmigt, aber noch nicht fertiggestellt worden. 1.366 davon würden 2022 fertig. Das ist also der Bauüberhang. Das sind doch wirklich gute Nachrichten, die viel zu selten gewürdigt werden.

Die rosarote Brille

Falls Sie öfter meine Kolumnen lesen, wissen Sie: Wenn Denstorff von Bauüberhang redet statt von Wohnungen, dann lohnt ein genauer Blick auf die Zahlen, denn dem Stadtbaurat sollte man nichts glauben, ohne es selbst überprüft zu haben. Fangen wir also mit den Wohnungen an, deren Fertigstellung ja über dem 20-Jahresschnitt liegt: 2020, also ein Jahr zuvor, lag der Wert bei 2.113; insofern ergibt sich bei den fertigen Wohnungen ein Rückgang von fast 30 Prozent in einem Jahr.

Man muss bis ins Jahr 2015 zurückgehen, um überhaupt einen niedrigeren Wert bei der Baufertigstellung von Wohnungen in Münster zu finden. Bei Denstorff aber gilt: Man muss den Vergleichszeitraum nur lang genug wählen, dann liegt der aktuelle Wert wieder über dem Schnitt, und es wird eine gute Nachricht aus dem 30-prozentigen Rückgang. Demnächst schauen wir uns vielleicht die letzten 400 Jahre an, und dann liegen die Werte ganz weit über dem Durchschnitt.

Der Bauüberhang, bei dem Denstorff die Spitzenwerte verkündet, lag im Vorjahr auch schon bei 3.021 – für einen Bauboom im Folgejahr hat das aber offenbar nicht gesorgt. Das könnte an Corona liegen – aber Denstorff verkündet öffentlich, dass trotz der Pandemie alles super laufe bei den Wohnungen.

Man sieht an diesem Beispiel: Schwierigkeiten und Probleme in Münster erkennt man auch deshalb oft nicht oder zu spät, weil man selbst in der Verwaltungsspitze gerne die rosarote Brille aufsetzt, um das eigene Werk zu betrachten. Es fehlt vollkommen an einer realistischen Betrachtung der Lage, weil die Tendenz, die Öffentlichkeit und die politischen Gremien mit guten Nachrichten zu beglücken, immer siegt. Dabei gibt es genug Zahlen, die beunruhigen könnten und die öffentlich verfügbar sind. Im Folgenden ein paar Beispiele.

Weniger Kaufverträge, höhere Mieten

Der Immobilienmarkt in Münster wird immer enger. 2020, das ist das letzte Jahr, für das Zahlen aktuell vorliegen, gab es 2.723 Grundstücksgeschäfte in unserer Stadt. Zehn Jahre zuvor waren das noch 3.316, das ist also ein Rückgang von fast 20 Prozent. Noch deutlicher aber sank die Größe der gehandelten Fläche im gleichen Zeitraum, nämlich von 275 auf 162 Hektar – ein Rückgang von über 40 Prozent. Die Summe der gezahlten Kaufpreise aber sank in dieser Zeit nicht – sie stieg, und zwar von 692 Millionen auf 1,3 Milliarden, also um über 80 Prozent.

Die Tendenz ist eindeutig: Seit 2014 werden deutlich weniger Kaufverträge abgeschlossen als in den Jahren davor, es werden immer weniger Flächen zu immer höheren Preisen gehandelt. Oder im Klartext: Immer weniger Menschen können sich Wohneigentum in Münster leisten, denn die Preise gehen durch die Decke.

Und so sieht es auch bei den Mieten aus. 2021 erschien ein neuer Mietspiegel für Münster – und die zentrale Botschaft war: Die Nettokaltmieten war in fünf Jahren seit 2016 um 18,5 Prozent gestiegen, jedes Jahr um 4,5 Prozent, also deutlich mehr als die Inflationsrate in diesen Jahren. Die Mietpreise vollziehen also den Anstieg bei den Kaufpreisen zeitversetzt nach – wer teuer gekauft oder gebaut hat, wird auch teuer vermieten.

Solch eindeutig schlechte Nachrichten allerdings haben natürlich mit der Stadtverwaltung nichts zu tun. Bei der Vorstellung des Mietspiegels im letzten Jahr ließ der städtische Immobiliendezernent Matthias Peck verlauten: „Der Einfluss der Stadt ist relativ überschaubar.“

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So sieht es auch bei der nächsten Entwicklung aus, die ich mit Ihnen betrachten möchte. Münster sei eine wachsende Stadt. Das ist seit mehr als einem Jahrzehnt das Mantra der Stadtpolitik. Aber auch hier gibt es eine interessante Entwicklung: Münster wächst kaum noch. In den Jahren 2018 bis 2020 ist Münster gerade einmal um 1.000 Menschen gewachsen. Das sind Werte, die 2016 und 2017 noch in einem Jahr erreicht wurden. In den Jahren davor war das Wachstum sogar noch deutlich höher – kurz: Die Wachstumsdynamik bei der Bevölkerung nähert sich stark der Null-Linie.

Richtig interessant aber wird es, wenn man sich ansieht, wie sich die Bevölkerungsentwicklung nach Altersgruppen vollzieht. Dann sieht man, dass es eigentlich nur eine einzige Alterskohorte gibt, die in Münster wächst, und das sind die 18- bis 24-Jährigen (2020: +3.504). In fast allen anderen Altersgruppen schrumpft Münster; nur bei den über 65-Jährigen bleibt die Bevölkerung konstant.

Markant ist die Entwicklung in der berufstätigen Bevölkerung: Bei den 25- bis 29-Jährigen ging die Bevölkerung um 891 zurück, noch deutlicher schrumpfte die Gruppe der 30- bis 49- Jährigen, nämlich um 1.470. Dazu passt, dass auch die Zahl der unter 18-Jährigen 2020 schrumpfte, nämlich um 491.

Diese Zahlen lassen nur einen Schluss zu: Münster ist weiter eine hochattraktive Stadt für Studierende und junge Singles. Sobald aber die Familiengründung ansteht, setzt die Abwanderung ein. Und spätestens, wenn die Kinder da sind, ziehen viele Menschen weg. Sind die Kinder aus dem Haus, zieht man wieder nach Münster und gleicht die Sterbefälle der Älteren durch diesen Zuzug locker aus. Dieser Trend ist deutlich.

Schwieriges Pflaster für normale Familien

Warum lohnt diese Zahlenbetrachtung? Sie zeigt, dass die Schönfärberei des Stadtbaurats mit der Realität nichts zu tun hat. Münster entwickelt sich dramatisch in die falsche Richtung: Münster wird zu einer Stadt junger Hipster in schönen und teuren WG-Zimmern oder kleinen Wohnungen und einem ergrauten Patriziat im ruhigen Wohnidyll, wenn man es sehr pointiert formulieren möchte.

Die arbeitende Mitte von Familien mit Kindern wird marginalisiert und aus der Stadt gedrängt. Und natürlich findet sich die Begründung dafür in der Entwicklung des Immobilienmarkts. Der Druck, der sich hier aufgrund kommunaler Versäumnisse wie makroökonomischer Entwicklungen (EZB) aufgebaut hat, hat Folgen für die demographische Balance unserer Stadt.

Münster wird immer mehr zu einem schwierigen Pflaster für ganz normale Familien. Mit einem normalen oder guten Arbeitseinkommen ist kaum noch die Miete, geschweige denn Wohneigentum finanzierbar. Wenn kein Erbe dazu kommt, bleibt die Wohnung oder das Haus in Münster ein Traum. Es bleibt nur das Ausweichen ins Umland oder in andere Städte.

Wenn es so weitergeht, stehen Münster also interessante Entwicklungen ins Haus. In der Politik zeichnen sie sich schon ab. Der Konflikt um die Nutzung der Aaseewiesen ist ein gutesBeispiel. Da ist auf der einen Seite das junge Hipster-Publikum, das gerne schon mittags bis in die Nacht das milde Frühlings- und Sommerwetter am Aasee genießt, dabei gerne Alkohol trinkt und auch grillt. Die Spuren dieser Alterskohorte und ihres Freizeitverhaltens sieht man oft deutlich.

Und dann gibt es das gesetzte Publikum in den teuren Liegenschaften in der Nähe: Das ist natürlich empört, mit der jungen Plebs und ihren Feierlichkeiten konfrontiert zu werden. Ein exemplarischer Konflikt zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen, die die anderen gerade demographisch an den Rand drängen.

Da die jungen Hipster eh bald wegziehen, ist klar, wie der Konflikt ausgeht: Die Verwaltung will das Grillen am Aasee demnächst großräumig verbieten. Willkommen im Freilichtmuseum Münster mit ruhigen sattgrünen Wiesen und teuren Immobilien, an denen vorbei sportelnde Senior:innen ihre Runden drehen und wo die Immobilienbesitzer:innen das vom Züchter teuer erworbene Haustier ausführen. Wenn das gediegene Publikum sich zu „Münster verwöhnt“ in lauschigem Ambiente versammelt, ist der Alkoholkonsum im öffentlichen Raum übrigens auch gar kein Problem, der junge Hipster auch nicht, wenn er als Kellner jobt und die Weinschorle bringt. Münsters Zukunft: Ein Idyll in Hut und Lodenmantel.

Große Entwicklungen bleiben liegen

Und es gibt natürlich noch mehr Konflikte, zum Beispiel um neue Wohngebiete. Neue Wohnungen haben in Münster eigentlich nie Priorität, wie man auch am Stadtbaurat sieht. Selbst Niedrigwerte bei der Fertigstellung sind ein Erfolg. Große Entwicklungen bleiben jahrelang liegen.

Im Jahr 2012 zogen die Briten ab, fünf Jahre später sollten auf den Kasernenflächen die ersten Menschen in neue Wohnungen einziehen, jetzt sind es zehn geworden. Das Osmo-Gelände ist 20 Jahre nach der Insolvenz noch nicht entwickelt. Stört das jemanden in der Stadt oder in der Politik?

Laut wird das nicht, denn der Wegzug der Familien bleibt still und eine individuelle Entscheidung. Deswegen ist Wohnen in der Stadtpolitik gerade einfach mal gar kein Thema. Im Gegenteil, Planungen für Wohngebiete werden gestrichen wie in Hiltrup an der Vogelstange, denn der Widerstand derer, die schon wohnen, gegen Veränderungen ist groß: Frischluftschneise, Grüngürtel, Baumschutz, Verkehr, brütende Kiebitze – irgendwas ist immer. Und so werden Wohnungsplanungen eben erst zerredet und dann gestrichen. Wer wegzieht, hat keine Stimme.

Aber diese Versäumnisse und diese vermiedenen Konflikte werden sich rächen. Der wachsende Pendelverkehr ist ein Beispiel dafür. Die Menschen, die wegziehen, pendeln dann eben über weite Strecken ein. So haben die entsprechenden Verkehrsströme in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Da es kein leistungsfähiges Nahverkehrsnetz gibt, passiert das eben mit dem Auto. Das schreckt die Stadtpolitik dann doch auf, denn das Bullerbü-Idyll mag keine Blechlawinen. Hier besteht dann Regelungsbedarf – aber das Grundproblem ist nicht der Verkehr. Es sind die fehlenden Wohnungen, die den Verkehr erst erzeugen.

Betriebe werden abwandern

Die Zukunftsperspektiven sind wenig erfreulich: Eine Stadt, die keine Wohnungen für die arbeitende Mitte der Gesellschaft, für Familien mit Kindern, anbieten kann, die verliert auch an wirtschaftlicher Stärke. Schon jetzt tun sich viele Handwerksbetriebe und Mittelständler schwer, Stellen zu besetzen.

Warum soll jemand für einen Lohn nach Flächentarifvertrag eine Stelle in Münster antreten, wo fürs Wohnen das meiste Geld drauf geht, wenn man sich woanders nach Abzug der Wohnkosten vom gleichen Geld noch viel mehr Leben leisten kann? Das wird perspektivisch zur Abwanderung von Betrieben führen; zum Teil deutet sie sich jetzt schon an.

Andere Städte, die bessere Bedingungen für das Wohnen bieten, werden mehr Erfolg bei der Akquise neuer Unternehmen haben. Gewerbeflächen hat Münster aktuell auch kaum noch anzubieten. So schön Münster ist, diese harten Standortfaktoren werden am Ende auch wirtschaftliche Folgen für die Stadt haben.

Es wird Zeit, die Stadtpolitik nicht nur mehr ausschließlich an den Interessen derer auszurichten, die sich im Status quo eingerichtet haben. Es mag bequem sein, sich zu sagen: Neue Wohnungen braucht es nicht, ich wohn ja schon. Die Frage vor allem an diejenigen, die in Mietwohnungen leben, ist nämlich nicht: Wohnst du schon? Sondern: Wie lange wohnst du noch? Die Gentrifizierung, die mit Luxussanierungen und Eigenbedarfskündigungen daherkommt, ist nicht gestoppt. Sie geht weiter.

Herzliche Grüße
Ihr Michael Jung

Porträt von Michael Jung

Michael Jung

… lebt schon immer in Münster. Er wurde 1976 hier geboren. Er hat an der Uni Münster Latein und Geschichte studiert und in Geschichte promoviert. Heute ist er Lehrer am Annette-Gymnasium in Münster. Michael Jung war viele Jahre in der Politik: Von 2013 bis 2020 war er Fraktionschef der SPD im Rat der Stadt. Im Jahr 2020 trat er für die SPD bei den Kommunalwahlen als Oberbürgermeisterkandidat an.

Die Kolumne

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