Die Kolumne von Michael Jung | Nie wieder Erbsenzählen

Porträt von Michael Jung
Mit Michael Jung

die einen haben Visionen, die anderen zählen Erbsen.

Es waren rückblickend Jahre des Missvergnügens im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends. Dotcom-Absturz, die schwere Anpassungskrise nach der Euro-Einführung und am Ende noch die Finanzkrise. Für die kommunalen Kassen waren das keine schönen Jahre. In Nordrhein-Westfalen kam mit der Rüttgers-Landesregierung noch ein Faktor dazu: Keine andere Landesregierung davor und danach wälzte so rücksichtslos eigene Belastungen auf die Kommunen ab.

Während im Ruhrgebiet etliche Städte und Gemeinden ins Nothaushaltsrecht abrutschten und die finanzielle Autonomie verloren, jagte in Münster ein Sparpaket das nächste. Emsig und oft sehr kleinlich wurden Leistungen gestrichen, die Debatten kreisten um zu hohe „Münster-Standards“, Flächenreduzierungen und Personaleinsparungen. Schwimmbäder wurden geschlossen, das Südbad sogar abgerissen, ein Bürgerbegehren dazu abgebügelt.

Die drohende Haushaltssicherung stand allen immer vor Augen. Als nach so vielen Kürzungen schließlich der Vorschlag einer Musikhalle auf den Tisch kam, war ein Bürgerbegehren dagegen erfolgreich: Aus der Traum. Gescheitert am Standort (der Send war vielen wichtiger) und an der aberwitzigen Konstellation, dass nach endlosen Kürzungsrunden nun ausgerechnet hier neue Angebote entstehen sollten. Am Ende des Jahrzehnts waren also viele restlos bedient, und es gab großen Verdruss.

Doch bald nahte Rettung für unsere Stadt. Sie kam aus dem Südosten, wo ein freundlich jovialer Bezirksbürgermeister sich anschickte, zunächst der CDU und dann der ganzen Stadt neuen Mut zu verleihen und mit spritzigen Ideen die trübe, in Kürzungsrunden versackte Kommunalpolitik zu beleben. Zwar stellten ihm die Kürzungsfreunde aus der damaligen CDU-Ratsfraktion noch einen Gegenkandidaten entgegen (ohne geht es bei der CDU Münster nie), doch das hielt die Rettung nicht auf. Markus Lewe wurde Oberbürgermeister, und schon im Wahlkampf 2009 zeigte er, dass es mit ihm sehr anders werden würde.

Ein privat finanziertes Südbad

So kam es nämlich, dass er auf einem Wahlkampfpodium 2009 mal eben radikal den Kurs bei den Schwimmbädern änderte. Hatten seine Parteifreunde in den beiden Jahren zuvor noch Bäder geschlossen und auf den Abriss des Südbads bestanden, verkündete Lewe dem erstaunten Publikum eine neue Idee. Während SPD und Grüne noch die Wiedererrichtung eines kommunalen Südbads auf städtische Rechnung forderten, legte Lewe Pläne vor, mit denen er nicht nur den Gegnern das Thema wegnahm, sondern auch selbst in die Vorhand kam: Ein privat finanziertes Südbad sollte entstehen, an alter Stelle und im gleichen Umfang, und der Bau sollte die Stadt quasi nichts kosten.

Darauf war vor ihm noch keiner gekommen, doch seine Lösung war einfach: Gleichzeitig sollten auf dem Gelände neue Wohnungen entstehen, deren Erlös das Bad finanzieren sollte – also noch ein big point. Der damalige CDU-Oberbürgermeisterkandidat hatte mit einer visionären Idee also das Schwimmbad- und das Wohnungsproblem gleichzeitig angepackt und eigentlich fast schon gelöst. Günstig, dass ein befreundeter Architekt auch noch Zeichnungen beisteuerte, wie das alles einmal aussehen könnte. Da hatte der Kandidat also das erste Mal mit leichter Hand den Knoten durchgeschlagen und visionär ein Ziel gewiesen.

Doch das war nicht alles. Lewe hatte sich auch vom Parteifreund Ole von Beust aus Hamburg den Slogan von der „wachsenden Stadt“ besorgt, mit dem er sich von der missvergnügten Kürzungspolitik der eigenen Parteileute im Rathaus absetzen wollte. Dazu brauchte es aber auch in Münster eines: Neue Wohnungen. Auch dafür legte Lewe eine Idee vor: Eine „Gartenstadt“ sollte entstehen, und zwar durch die Nutzung des Areals des alten Stückgutbahnhofs. Hunderte neue Wohnungen sollten gebaut werden, preisgünstig natürlich dazu. Den Kundigen war klar, dass die Idee nicht von Lewe stammte, sondern dass die politische Konkurrenz diese Idee schon fünf Jahre zuvor gehabt hatte, aber der Titel „Gartenstadt“ machte die Idee nun zu seiner. Gleich noch ein neuer, visionärer Ansatz.

So konnte die Wahl natürlich nur gewonnen werden, und obwohl es doch sehr knapp war gegen Wolfgang Heuer von der SPD, kam Lewe ins Amt, und es zeigte sich rasch etwas Erstaunliches: Die Vision war sich selbst genug, ihre Umsetzung war nicht mehr interessant. Und es ist allenfalls etwas für kleinkarierte Kritikaster, den Visionär hinterher nach der Umsetzung seiner Ideen zu fragen.

Stiller Tod über Verwaltungsvorlagen

So erging es zuerst dem Südbad. Zwar unternahm die Verwaltung einige halbherzige Versuche, für Lewes Idee Investoren zu finden, doch es wollte einfach nicht gelingen. Es gab den Haken, dass das Grundstück eigentlich schon für ein Schwimmbad recht klein ist, und dass für zusätzliche Wohnungen eben nicht auch noch Platz war.

So starb die große Vision aus dem Wahlkampf also einen stillen Tod über Verwaltungsvorlagen, vom Oberbürgermeister hörte man dazu nie wieder was. Und am Ende setzten dann die Grünen durch, dass ein neues Südbad gebaut wird, komplett auf kommunale Kosten. Damit das aber nicht so auffällt, mussten die Stadtwerke ran. Wohnungen aber gibt es dort nicht zusätzlich, wenn ein neues Südbad entsteht, und kostenneutral wird es auch nicht. Diese Vision hat nicht geklappt, und die Rechnung zahlt am Ende die Stadt allein. Dass es den Oberbürgermeister stört, hat man nicht gehört.

Einen stillen Tod starb auch die Gartenstadt. Die schöne Vision vom bezahlbaren Wohnen in der direkten Innenstadt erwies sich als nicht umsetzbar. Ein dreistelliger Millionenbetrag hätte ausgegeben werden müssen, um Bahntrassen zu verlegen und Brückenkonstruktionen zu ersetzen. Vornehm dezent schrieb also die Fachverwaltung in einer Vorlage an den Rat, auf absehbare Zeit sei das wohl nicht machbar.

So erfuhr die Gartenstadt 2013 einen Eintrag in den dicken Ordner „ungebautes Münster“. Überraschend war das nicht, andere hatten das schon fünf Jahre zuvor merken müssen. Aber so ging auch diese Vision des Oberbürgermeisters dahin, ohne realisiert zu werden, weil er die Kosten etwas unterschätzt oder sich vielleicht damit nie befasst hatte.

Ungünstig nur, dass kurz drauf schon wieder Oberbürgermeisterwahlen anstanden. Doch dank einer inzwischen geschrumpften Presselandschaft wurden die geplatzten Träume gar kein Thema damals, und der Oberbürgermeister fand für das Ziel seiner Wiederwahl wieder einen echten Mutmacher, eine neue Vision, schließlich war die Stadt ein Jahr zuvor vom Starkregen stark getroffen worden.

Tour de France in Münster

Wobei würde es den Menschen in Münster nicht wärmer ums Herz, als wenn es was mit Leezen zu tun hätte. Der Oberbürgermeister denkt nicht klein von unserer Stadt, und so fand er, dass es doch eine tolle Vision wäre, wenn in Münster die Tour de France starten würde. Allen, die etwas von Dopingaffären redeten oder – noch kleinlicher – nach den Kosten fragten, wurde erwidert: Der Werbewert für die Stadt sei unfassbar hoch.

Münster und sein Oberbürgermeister wären international in den Medien gewesen, wenn nicht die Kleinkarierten im Rat zugeschlagen hätten. Eine Mehrheit aus SPD, Grünen und FDP zog der schönen Idee den Stecker, noch bevor man sich ins Rennen gegen Düsseldorf begeben konnte. Dort startete die Tour dann 2017 wirklich und kostete die Stadt 7,8 Millionen Euro. Aber das war es sicher wert, denn wer erinnert sich heute nicht mehr an diese ruhmreichen Tage unserer Landeshauptstadt. Münster musste dank der Erbsenzähler im Rat auf dieses strahlende Fest leider verzichten. Wieder war aus einer Vision nichts geworden, aber dieses Mal waren wenigstens die Anderen schuld.

Da musste nun also eine neue Vision her, und sie gleicht den anderen, man könnte fast sagen, es sei dieselbe Machart. Auch hier der Anspruch, eine tolle Idee für die Zukunft der Stadt zu formulieren, wer nach Finanzen und Machbarkeit fragt, wird als Erbsenzähler hingestellt oder bekommt zu hören: „Mehr Mut!“

2016 also unterschrieb der Oberbürgermeister zusammen mit der damaligen Uni-Rektorin in deren letzten Amtstagen einen „Letter of intent“. Ein Musikcampus an der Hittorfstraße. Stadt und Uni gemeinsam, einzigartig, sensationell, deutschlandweit nichts dergleichen sonst. Im Muster entsprach die Idee genau den vorherigen Visionen des Oberbürgermeisters: Mit niemandem im Rathaus vorher abgesprochen, natürlich schon gar nicht mit Verwaltungshandeln unterlegt, ein medialer Coup, der bei ihm ganz allein einzahlen sollte.

Und vor allem auch wieder einmal das Zeichen an seinen Vorgänger: Sieh her, ich habe einen neuen Plan für die Musikhalle, an der du damals mit deinen Erbsenzählern gescheitert bist. Das entsprach ungefähr derselben Logik wie das frühere Schwimmbadprojekt. Da der Blick des Oberbürgermeisters auf die Wirklichkeit stark davon geprägt wird, wie und ob diese sich in den Schlagzeilen abbildet, hatte das Projekt mit seiner Verkündung eigentlich auch schon seine wichtigste Funktion erfüllt: Wieder mal eine neue Vision mit schönen Bildern, nachdem aus den vorherigen nichts geworden war. Und es zeigte sich bald: Dabei sollte es auch erstmal bleiben.

Denn dem Letter of intent folgte eine knappe Information an die Ratsfraktionen, aber sonst nichts. Und auch als 2019 dann der erste „Grundsatzbeschluss“ durch den Rat lief und selbst noch im April 2022, als das zum zweiten Mal passierte, zeigte sich: Der Oberbürgermeister setzt auf den emotionalen Appell, nicht auf Fakten.

Perpetuum mobile der Visionen

2019 wurden Antworten zu Kostenschätzungen komplett verweigert und dennoch Glaubensbekenntnisse eingefordert. 2022 werden die gewählten Ehrenamtlichen durch inszenierte Choreografien in den Senkel gestellt, Medienmacht wird zum Trommelwirbel gesteigert: Das muss doch jetzt beschlossen werden, niemand darf sich verweigern. An die Methoden ist man schon gewöhnt – eine sachliche Debatte über Chancen und Risiken für die Stadt oder gar Alternativen werden verhindert durch den Aufbau von Druck auf allen Ebenen.

Das Perpetuum mobile der Visionen des Oberbürgermeisters braucht heiße Luft, denn sonst droht Strömungsabriss. Nichts wäre schlimmer als eine Betrachtung von Fakten, besonders von Finanzfragen. Sie sind der Tod der Vision, wie sich bei Südbad, Gartenstadt und Tour de France schon gezeigt hat. Deswegen muss maximaler Druck aufgebaut werden.

Die Zeitung bringt rasch eine Umfrage, von der jede Wahl zuletzt gezeigt hat, dass sie mit der Realität nichts zu tun hat, aber sie ist so klar: Mindestens 75 Prozent der Menschen wollen das Projekt (interessanter wäre, wieviel Prozent schon mal davon gehört haben). So funktioniert das Politikmodell auch anderswo. Emotionen statt Fakten, Dauererregung statt Diskussion. Damit nach einer disparaten Ratssitzung kein Spannungsabfall auftritt, folgt am nächsten Tag mit großer Geste die Ankündigung eines „Gipfeltreffens“. Der nächste Showdown, der Zustand der Dauererregung muss bleiben.

Doch zeigen sich auch beim Musik-Campus die Schwächen, die schon Lewes übrigen Visionen den Garaus machten. Da ist der unbändige Wille, dass die Vision und ihr politischer Profit ganz allein auf sein Konto und allenfalls vielleicht noch auf das der CDU einzahlen sollen. Das kann man so machen, verringert aber unter den Bedingungen großstädtischer Konkurrenzdemokratie eigentlich die Chancen der Realisierung beträchtlich, wenn man keine eigene Mehrheit im Rat hat. Angesichts des schwachen Agierens der Ratsmehrheit bei diesem Thema könnte es aber noch länger dauern, bis dieser Punkt erreicht wird.

Man erkennt auch wieder das Muster, dass mediale Dauererregung und die charismatische Aufladung der eigenen Person als Krisenlöser zentrales Ziel sind. Schon am Tag nach der Ratsentscheidung also einen Gipfel angekündigt. Hauptsache, vor die Lage kommen, die Schlagzeilen selbst machen und den Eindruck erwecken, man steuere den Prozess. Alle Fragen sollen beantwortet werden und alle Fakten aufgearbeitet.

Verweigerung grundständiger Verwaltungsarbeit

Wieso war das nicht vor der Ratssitzung möglich oder in den sechs Jahren seit Verkündung des Projekts, wohl aber einen Tag danach? Und so sieht man, dass auch dieses Agieren wieder nur dem Ziel maximaler medialer Selbstinszenierung gehorcht: Wenn etwas aufgearbeitet wird, dann kann man sich heute schon sicher sein, wer diese Arbeit nicht erledigt. Bei den Erbsenzählern wollte der Oberbürgermeister noch nie stehen.

Dazu gehört auch die ostentative Verweigerung grundständiger Verwaltungsarbeit, im konkreten Fall heißt das: Durchgerechnete und plausibel gegenfinanzierte Vorschläge gibt es nicht. Der Oberbürgermeister sieht sich als charismatischer Kommunikator, so sucht er das mediale oder direkte Bad in der Menge der Zustimmung und des Applauses, aber eine Vision auch in konkretes Verwaltungshandeln übersetzen, hat keine Priorität.

Wenn nicht die Uni beim Musik-Campus mit im Boot säße, man könnte sicher sein, dass die Vision auch wie bei den vorherigen schon als Vision genügen würde und ihren Zweck erfüllt hätte. Es ist offensichtlich, dass der Partner von der Uni auf Konkretisierung drängt, nicht der Oberbürgermeister.

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Schon bei der ersten Campus-Vorlage 2019 nannte der Oberbürgermeister – die 2020 anstehende Wahl im Blick – trotz zahlreicher Nachfragen keine einzige Zahl zu den Kosten des Projekts, obwohl bei der Uni längst erste Schätzungen vorlagen. Auch dieses Mal hat die Vorlage skizzenhaften Charakter und dient eher dem Einschwören von Politik und Öffentlichkeit. Und die öffentliche Kommunikation des Oberbürgermeisters und seiner leicht entrückten Musikschuldirektorin setzt auf Emotionalisierung, nicht auf Fakten: „Mehr Mut!“

Vom Chef einer Kommunalverwaltung mit 6.000 Mitarbeitenden und einer Haushaltsverantwortung von mindestens einer Milliarde könnte man erwarten, dass die emotionalen politischen Appelle dem politischen Ehrenamt überlassen werden und nicht dem mit B10 besoldeten Hauptamt.

In Münster sind die Rollen seit Jahren andersherum verteilt: Der Oberbürgermeister verkündet Visionen, die Ehrenamtlichen im Rat müssen sehen, wie sie die Fakten dazu zusammenbekommen. Wenn das nicht gelingt, wie jetzt im April, dann wird hinterher medial über die Abgründe der Debattenkultur im Rat geschimpft, aber nicht über deren Ursache. Institutionenkritik ist nämlich die Folie, vor der das vermeintliche Charisma umso heller erstrahlen soll. Dem Rat wird die Aufgabe der Akklamation zugewiesen, nicht der Diskussion und Entscheidung.

Das Finanzthema verlor seine Bedeutung

Offensichtlich waren die 2000er-Jahre traumatisch für die CDU. So wie Angela Merkel nach ihrem knappen und beinahe vergeigten Sieg 2005 die Pferde wechselte und nie wieder etwas von Flat tax, Bierdeckel-Steuererklärungen und Sozialkürzungen wissen wollte, so verwarf auch Lewe von Anfang an die auf finanzpolitische Stabilität und fiskalpolitisch ordoliberal ausgerichtete Haushaltspolitik seines Vorgängers.

Das Finanzthema verlor, auch unter den makroökonomisch gänzlich veränderten Rahmenbedingungen eines Deficit-Spending und lockerer Geldpolitik, ganz seine Bedeutung. Insofern segelt der Oberbürgermeister voll im Wind. Nie wieder Erbsenzählen. Konservative Politik hat in Münster und darüber hinaus ihren einstigen Markenkern haushaltspolitisch strafferer Zügel völlig aufgegeben, und wie immer setzt Markus Lewe hier auf lokaler Ebene noch eins obendrauf.

Die Finanzierung seiner Visionen hat ihn noch nie umgetrieben, und so ist das beim Musik-Campus nicht anders. Wenn das vom Rat angesetzte Budget nicht reicht, dann wird eben mehr Geld eingestellt (70 statt 45 Millionen), 30 weitere Millionen kommen von Dritten. Zwar haben auch sechs Jahre Planungszeit nicht gereicht, auch nur einen einzigen Euro von Dritten verbindlich zugesagt zu bekommen, aber mit solchen Lappalien hält sich ein Visionär nicht auf.

Erstmal ein klares Ja von den Erbsenzählern, dann fließen die Millionen bestimmt. Und wenn nicht, dann werden eben weitere Millionen in den Haushalt eingestellt oder – wie es jetzt sehr schön heißt – „angemeldet“.

Nun ist es mit dem Musik-Campus wohl so, dass er in dieser Wahlperiode nicht mehr gebaut wird – und damit auch nicht mehr in der Amtszeit von Markus Lewe. Diese Vision muss er also, wenn es gut für ihn läuft, nicht mehr selbst abräumen oder das Abräumen im Amt erleben. Das Odium des Scheiterns überlässt er der Person, die ihn beerben wird. So wird es nämlich auch dieses Mal kommen.

Was hat Münster geschafft?

Allzu deutlich ist nämlich, dass die Zeiten großer Visionen und fiskalpolitischer Sorglosigkeit gerade sehr schnell zu Ende gehen. Der große politische Gezeitenwechsel steht bevor. Das Ende der ultralockeren Geldpolitik wird die Zinsen steigen lassen, die fiskalpolitischen Spielräume werden durch die Folgen von Corona und dem entsetzlichen Krieg in Osteuropa enger werden, und wir werden sehr bald die wirtschaftlichen Folgen sehen.

Das wird sich auch auf die Gewerbesteuern und die Landeszuweisungen in Münster auswirken. Die Inflation wird dafür sorgen, dass die errechneten Baukosten rasch obsolet sind. Bald wird die Finanzpolitik ins Rathaus zurückkehren – und vielleicht wird man bald schon über eine Ratssitzung staunen, in der der Rat gleichzeitig einen Musik-Campus für 100 Millionen befürwortet und ein Investitionspaket für den Klimaschutz von 320 Millionen beschließt – und das bei einem bisherigen durchschnittlichen Investitionsvolumen von 50 bis 70 Millionen im Jahr.

Vielleicht wird man bald vor einer Frage stehen, die nicht mehr heißt: Was noch alles zusätzlich? Sondern wieder: Was von beidem? Oder, noch schlimmer: Was weniger? Spätestens dann wird man auf Lewes Amtszeit zurückblicken und sich fragen: Was hat Münster geschafft, damals, als die Finanzierungsbedingungen für Investitionen so gut waren wie nie, als einmal Geld da war?

Und man wird sagen: Nichts. Es waren verlorene Jahre für unsere Stadt, in der halbgaren Visionen nachgejagt wurde, anstatt ernsthafte Zukunftsprojekte umzusetzen. Aber emotional waren wir immer voll gefordert in der Zeit, und es gab immer viele schöne Schlagzeilen und Bilder. Und wenn später jemand mal eine Arbeit schreibt über die Frage, ob es Populismus auch in der Kommunalpolitik gibt, er könnte in Münster einiges Material finden.

Herzliche Grüße
Ihr Michael Jung

Porträt von Michael Jung

Michael Jung

… lebt schon immer in Münster. Er wurde 1976 hier geboren. Er hat an der Uni Münster Latein und Geschichte studiert und in Geschichte promoviert. Heute ist er Lehrer am Annette-Gymnasium in Münster. Michael Jung war viele Jahre in der Politik: Von 2013 bis 2020 war er Fraktionschef der SPD im Rat der Stadt. Im Jahr 2020 trat er für die SPD bei den Kommunalwahlen als Oberbürgermeisterkandidat an.

Die Kolumne

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