Die Kolumne von Ludwig Lübbers | Arbeit schafft Chancen

Porträt von Ludwig Lübbers
Mit Ludwig Lübbers

Guten Tag,

wenn es um Selbstverwirklichung oder Berufswünsche geht, haben junge Menschen Träume, auch junge Menschen mit Behinderung. Ich träumte in meinen jungen Jahren davon, Maurer oder Schreiner zu werden, also einen handwerklichen Beruf zu erlernen. Leider holte mich die Realität als Mensch ohne Hände und Träger einer Beinprothese irgendwann ein. Aber warum sollte nicht auch ein Beinprothesenträger Pilot werden oder ein Mensch ohne Hände Taxifahrer?

Ich wünsche mir, dass wir alle kreativer und solidarischer mit solchen Bedürfnissen umgehen, um Entwicklungs- und Bildungschancen von Menschen mit Behinderung zu verbessern. In einem Fernsehinterview vor etwa 30 Jahren sagte ein Professor von mir, meine Chancen auf dem Arbeitsmarkt hingen davon ab, wie „verdorben“ unsere Gesellschaft sei. Wie meinte er das?

Meinte er, dass die Gesellschaft noch an alten Normen festhält und Menschen mit Behinderung wie auch deren Familien zwangsläufig eine Rolle zuweist? Eine Rolle, die in Menschen mit Behinderung nur Hilfsbedürftige sieht und ihnen den Zugang zum ersten Arbeitsmarkt verwehrt? Das es also letztendlich immer noch Hürden bei der Integration von Menschen mit Behinderung gibt?

Heute haben häufig Controller:innen und Unternehmensberater:innen das Zepter in Firmen übernommen, indem sie Unternehmensentscheider beraten. Sie bewerten Einsparpotenziale höher als die Erhaltung von Arbeitsplätzen, mit dem Argument, die Wettbewerbsfähigkeit zu bewahren. Ein Mensch mit Behinderung passt nicht so recht in das Schema der Controlling-Abteilung. Es sieht vor, nur auf die Zahlen zu schauen.

Noch immer auf der Mitte des Weges

Menschen mit Behinderung stellen für diesen Berufstyp und damit auch für die Chefs eine Herausforderung dar, denn in ihrem Fall ist es wichtig, auf die persönlichen Bedürfnisse einzugehen. Das kostet Zeit und macht die Situation unter Umständen komplizierter. Menschen mit Behinderung sollten diese Chance aber bekommen, auch wenn es kompliziert und mit bürokratischen Hürden verbunden ist. Sie haben das Recht, selbstbestimmt zu leben und ihre Persönlichkeit zu entfalten. Sie haben das Recht, ihre berufliche Zukunft zu planen und zu gestalten.

Zugleich ist dies aber auch eine Herausforderung für uns als Gesellschaft. Wir müssen Rahmenbedingungen schaffen, die eine erfolgreiche Inklusion in allen Lebensbereichen ermöglich. Im Vergleich zu früher hat sich vieles zum Positiven verändert. Wir befinden uns jedoch noch immer in der Mitte des Weges.

Vor allem die berufliche Inklusion ist eine besondere Herausforderung. In einer leistungsorientierten Gesellschaft können viele Menschen mit Behinderungnicht so einfach mithalten. Schon viele Menschen ohne Behinderung merken, dass die Arbeitsverdichtung und der Leistungsdruck in den vergangenen Jahren stark zugenommen haben.

Ein Indiz dafür ist zum Beispiel, dass psychische Erkrankungen häufiger geworden sind, auf dem Arbeitsmarkt herrscht eine Ellenbogenmentalität. Junge Menschen mit psychischen und geistigen Beeinträchtigungen haben im privatwirtschaftlichen Sektor unter diesen Bedingungen kaum eine Chance.

Diese Menschen bringt man daher häufig im sogenannten zweiten Arbeitsmarkt unter, zum Beispiel bei der Lebenshilfe oder in einer anderen Werkstatt für Menschen mit Behinderung. Es ist wichtig, diesen Menschen einen strukturierten Tagesablauf zu geben, sie sozial einzubinden und ihre Familien zu entlasten. Der zweite Arbeitsmarkt kann jedoch auch ein Nachteil sein, wenn Menschen den Wunsch haben, sich selbst zu verwirklichen.

Es braucht größere Anstrengungen

Auf dem zweiten Arbeitsmarkt verdient man wenig. Damit Menschen diesen Arbeitsmarkt verlassen können, müssen alle Akteur:innen sich anstrengen. Controller:innen zum Beispiel sollten auch das Gemeinwohl im Auge behalten.

Viele Firmen werden ihrer Verantwortung nicht gerecht. Sie sind oft erst dann bereit, einen Menschen mit Behinderung zu beschäftigen, wenn jemand aus dem eigenen Betrieb einen Unfall hat und man diesen Menschen nicht verlieren möchte.

Die im Betrieb entstandenen Beziehungen sind für viele Firmen ein Motiv, um geeignete Rahmenbedingungen für diese Menschen zu schaffen und staatliche Zuschüsse oder Hilfsmittel zu beantragen.

Anders sieht es bei Menschen mit Behinderung aus, die neu auf dem Arbeitsmarkt sind, etwa nach dem Schulabschluss. Damit sie erfolgreich im ersten Arbeitsmarkt bestehen können, beziehungsweise überhaupt einen Zugang bekommen, braucht es größere Anstrengungen.

Ein grundlegender Erfolgsfaktor ist die Qualifikation der Betroffenen. Andere Faktoren sind Aufklärung und vertrauensbildende Maßnahmen, um Unternehmen zu überzeugen.

Umgekehrt fürchten vor allem mittelständische Unternehmen, Menschen mit Behinderung in Krisensituationen nicht mehr entlassen zu können. Die staatlichen Hürden sind hoch.

Ökonomische Strafen für Firmen

Sie merken, es gibt eine große Bandbreite an Faktoren, die beeinflussen, ob Menschen mit Behinderung einen Arbeitsplatz finden. Auch der Staat verfügt hier über Instrumente, die einen Beitrag zu Erhöhung der Beschäftigungsquote dieser Menschen leisten können.

Liegt in Unternehmen die Beschäftigungsquote von Menschen mit Behinderung unter fünf Prozent, müssen sie in der Regel eine Ausgleichsabgabe zahlen. Das bedeutet: Das Unternehmen wird zwar ökonomisch bestraft, kann sich dadurch jedoch von der eigentlich verpflichtenden Beschäftigungsquote freikaufen.

Es gibt allerdings Ausnahmen: Für Konzerne oder Schulen gelten andere Regeln. Im Fall der Schulen ermittelt man die Behindertenquote auf Landesebene. Man nimmt die Summe aller Landesbediensteten (etwa Lehrer:innen, Polizist:innen oder Richter:innen) und berechnet daraus, wie groß der Anteil von Menschen mit Behinderung sein muss. Ist die Quote insgesamt erfüllt, bedeutet das aber nicht, dass das auch in jeder Behörde oder an jeder einzelnen Schule der Fall ist.

An vielen Schulen ist die Behindertenquote nicht erfüllt, obwohl es hier besonders wichtig wäre. Schulen sind hervorragende Multiplikatoren. Sie können ein Verständnis für das Thema vermitteln.

Ein Bericht, der jedes Jahr dem Landtag vorgelegt wird, könnte hier mehr Aufschluss über die Situationen aller Beschäftigten mit Schwerbehinderungen an Schulen des Landes Nordrhein-Westfalen geben. Doch der Bericht ist nicht öffentlich zugänglich. Einsicht bekommt man nur auf Antrag beim Petitionsausschuss der Landesregierung. Als ginge es hier um ein Staatsgeheimnis.

Vielleicht liegt es auch daran, dass diese Vorgehensweise der Grundidee dieses Instruments widerspricht. Im Prinzip möchte der Gesetzgeber mit der Ausgleichsabgabe Firmen vor Ort einen Anreiz geben, Menschen mit Behinderung zu beschäftigen. Sollten nicht auch Schulleiter:innen einen Anreiz haben, Menschen mit einer Behinderung eine faire Chance zu geben, ins Berufsleben zu starten?

Der Rahmen bewirkt das Gegenteil

Als Sozialwissenschaftler und Betroffener beschäftigt mich diese Frage schon seit Längerem. Als verbeamteter Lehrer, der hinter die Kulissen schauen kann, komme ich leider zu einer erstaunlichen Erkenntnis: In Schulen gibt es gesetzliche Rahmenbedingungen, die genau das Gegenteil bewirken.

So stehen mir zum Beispiel eine reguläre Pflichtstundenermäßigung von vier Unterrichtsstunden zu, doch sie gehen einseitig zulasten meiner Schule. Die Stunden fehlen im Stundenplan. Aufgrund der Folgeschäden meiner Behinderung und einer Leukämie-Erkrankung konnte ich weitere vier Unterrichtsstunden beantragen. So fehlen insgesamt acht Stunden pro Woche.

Für eine Schulleitung ist das nicht unbedingt ein Anreiz, weitere Lehrkräfte mit Behinderung zu beschäftigen. Es gibt zwar auch aus anderen Gründen Entlastungsstunden, die eine Schule tragen muss. Aber im Falle von Menschen mit Behinderung ist das kontraproduktiv. Es macht sie als Arbeitskräfte unattraktiver.

Die Pflichtstundenermäßigungen für Lehrkräfte mit Behinderungen sollen einen Nachteil ausgleichen, um den Betroffenen eine längere Lebensarbeitszeit zu ermöglichen. Denn die Gefahr, in Frührente gehen zu müssen, ist sehr groß. Probleme sind oft die Folgeschäden von Behinderungen.

Die Contergan-Schäden sind dafür ein gutes Beispiel: Das Schlafmedikament Contergan der Firma Grünental hat in den 1960er-Jahren bei sehr vielen Kindern Fehlbildungen verursacht. Die geschädigten Menschen haben in den vergangenen Jahren eine hervorragende Öffentlichkeitsarbeit geleistet.

Die Gruppe forderte, die Renten massiv zu erhöhen, damit auch für sie ein selbstbestimmtes Leben im verfrühten Rentenalter möglich ist. Sie setzten sich mit ihren Forderungen durch. Folgeschäden einer Behinderung führen dazu, dass die betroffenen Menschen mehr Geld brauchen. Im Fall der Contergan-Geschädigten ist das heute anerkannt.

Ein Vorschlag zur Lösung

Ich selbst stecke in einer ähnlichen Situation wie die Contergan-Geschädigten. Ich habe mir die Frage gestellt, ob nicht auch alle anderen Menschen, die mit einer Behinderung aufgewachsen sind, mehr Rente bekommen sollten.

Ich habe eine Anfrage an den Petitionsausschuss der Bundesregierung geschickt. Es geht ja schließlich um staatliche Leistungen, nicht um Entschädigungszahlungen der Firma Grünental. Die Antwort erstaunte mich sehr. Die Bundesregierung definiert die Contergan-Geschädigten als Sondergruppe.

Darf der Staat zwischen Menschen, die in ähnlichen Situationen leben, Unterschiede machen, wenn es darum geht, Leistungen zu zahlen?

Ich freue mich sehr über den Erfolg der Contergan-Geschädigten, denn er zeigt, wie erfolgreich hartnäckige Öffentlichkeitsarbeit sein kann. Die Gruppe hat Lobbyarbeit betrieben. Und das ist notwendig, wenn es darum geht, die Bedingungen für Menschen mit Behinderung zu verbessern.

Ein Vorschlag, um das Problem abzumildern, könnte sein, es so zu machen wie bei der Parteienfinanzierung. Man könnte auch die karitativen Verbände mit mehr Geld ausstatten. Ich würde den Vorschlag gerne mit Ihnen diskutieren.

Sicher gibt es noch andere gute Ideen, wie man es Menschen mit Behinderung auf dem Arbeitsmarkt leichter machen könnte. In meinem Fall ist es gelungen. Ich gehe meinem Beruf als Lehrer nach und bin seit Kurzem auch Patentinhaber für ein Stützradsystem für Pedelecs. Dank dieser Erfindung bin ich wieder in der Lage, bei gutem Wetter Fahrrad zu fahren und mich fit zu halten. Ich führe trotz vieler Hilfestellungen gefühlt noch ein eigenständiges Leben.

Im vergangenen Jahr habe ich mir meinen persönlichen Lebenstraum erfüllt und mir einen gebrauchten Wohnwagen auf Sardinien gekauft. Dort werde ich meine Sommerferien verbringen. Eine Reiseassistenz begleitet mich. Für mich ist das ein großer Erfolg. Dieser Erfolg macht mir auch Hoffnung.

Ihr
Ludwig Lübbers

Sie möchten dieses Thema mit anderen Leser:innen diskutieren oder uns Hinweise geben

Nutzen Sie einfach unsere Kommentarfunktion unterhalb dieses Textes. Wenn Sie diese Kolumne gerade als E-Mail lesen, klicken Sie auf den folgenden Link, um den Text auf unserer Website aufzurufen:

diese Kolumne kommentieren

Porträt von Ludwig Lübbers

Ludwig Lübbers

… hat an der Uni Münster Mathematik und Sozialwissenschaften studiert und anschließend das Referendariat absolviert. Heute arbeitet er als Lehrer am Freiherr-vom-Stein-Gymnasium. Von 1997 bis 2000 initiierte und betreute er das Projekt „Handicap im Internet“, eine Plattform, auf der sich Menschen mit Behinderung vernetzen und austauschen konnten. In der städtischen Kommission zur Förderung der Inklusion (KIB) setzt er sich heute für die Interessen von Menschen mit Behinderungen in Münster ein. 2021 veröffentlichte er sein erstes Buch: „L’Ultima Spiaggia – Meine letzte Hoffnung“. In seinen RUMS-Kolumnen schreibt er über Barrieren und Barrierefreiheit, über den Alltag von Menschen mit Behinderung und über Inklusion in Münster.

Die Kolumne

Immer sonntags schicken wir Ihnen eine Kolumne. Das sind Texte, in denen unsere acht Kolumnistinnen und Kolumnisten Themen analysieren, bewerten und kommentieren. Die Texte geben ihre eigene Meinung wieder, nicht die der Redaktion. Mitgliedschaften in politischen Parteien oder Organisationen machen wir transparent. Wenn Sie zu den Themen der Kolumnen andere Meinungen haben, schreiben Sie uns gern. Wenn Sie möchten, veröffentlichen wir Ihre Zuschrift im RUMS-Brief. Wenn Sie in unseren Texten Fehler finden, freuen wir uns über Hinweise. Die Korrekturen veröffentlichen wir ebenfalls im RUMS-Brief.

Ihnen gefällt dieser Beitrag?

Wir haben Ihnen diesen Artikel kostenlos freigeschaltet. Doch das ist nur eine Ausnahme. Denn RUMS ist normalerweise kostenpflichtig (warum, lesen Sie hier).

Mit einem Abo bekommen Sie:

  • 2x pro Woche unsere Briefe per E-Mail, dazu sonntags eine Kolumne von wechselnden Autor:innen
  • vollen Zugriff auf alle Beiträge, Reportagen und Briefe auf der Website
  • Zeit, sich alles in Ruhe anzuschauen: Die ersten 6 Monate zahlen Sie nur einen Euro.

Wir freuen uns sehr, wenn wir Sie ab heute in der RUMS-Community begrüßen dürfen!

Bitte melden Sie sich an, um zu kommentieren.
Anmelden oder registrieren