Die Kolumne von Ludwig Lübbers | Der lange Weg zur Teilhabe

Porträt von Ludwig Lübbers
Mit Ludwig Lübbers

Guten Tag,

es ist schwer, Menschen mit Behinderungen am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu lassen. So erscheint es jedenfalls. Der Stoppelmarkt in Vechta hat mir wieder einmal vor Augen geführt, wie unaufmerksam Veranstalter und Behörden sind, wenn es um dieses Thema geht – und das, obwohl Deutschland schon vor 15 Jahren die UN-Behindertenrechtskonvention unterzeichnet hat.

Auch Bundeskanzler Olaf Scholz war in Vechta. Ich hätte gern eine Ortsbegehung mit ihm gemacht, um ihm zu zeigen, wie die Umgebung aussieht, wenn man sie durch meine Augen betrachtet. Es gab zum Beispiel keine Behindertenparkplätze – bei einer Veranstaltung, zu der am Tag über 100.000 Menschen kommen, wie die Polizei mir versicherte.

Wenn Menschen mit Behinderungen nicht am gesellschaftlichen Leben teilhaben können, ist das nach der UN-Behindertenrechtskonvention eine Menschenrechtsverletzung. Nach dem Fest in Vechta habe ich dem Bundeskanzler und Kristian Kater, dem Bürgermeister von Vechta, geschrieben, um auf das Problem hinzuweisen.

Barrierefreiheit bei Veranstaltungen und Festen verursacht zwar Kosten, doch die Veranstalter erzielen auch Einnahmen durch solche Events. Eine barrierefreie Planung kommt allen zugute. Es profitieren zum Beispiel Eltern mit kleinen Kindern oder Menschen mit Orientierungsproblemen. Oft sind es nur kleine Dinge, barrierefreie Kabelbrücken oder kontrastreiche Beschilderungen, die eine große Wirkung haben – und sie sind oft kaum teurer. Barrierefreiheit ist allerdings keine freiwillige Entscheidung, sondern eine gesetzliche Verpflichtung. Es geht darum, allen Menschen die Teilhabe zu ermöglichen, nicht nur der Mehrheit.

Kreativität, Begeisterung, Fördermittel

Der Staat ist verpflichtet, bei öffentlichen Veranstaltungen Konzepte zur Barrierefreiheit zu entwickeln. Eine Veranstaltung kann sogar per einstweiliger Verfügung gestoppt werden, wenn sie nicht barrierefrei ist.

Die Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention setzen sich aber nicht von selbst um. Es braucht gesellschaftlichen Zusammenhalt, Gespräche mit den Menschen, um die es geht. Es braucht Kreativität, Begeisterung, natürlich Fördermittel, und es braucht gesunden Menschenverstand. Menschen teilhaben zu lassen, ist gar nicht so schwer. Aber man muss es wollen.

Menschen mit Behinderungen sollten das Gefühl haben, auf Veranstaltungen willkommen zu sein. Dazu gehört so etwas wie eine Kultur der Einladung, gegenseitiges Interesse.

In meinem Urlaub im Sommer in Sardinien habe ich zwei Beispiele erlebt, die zeigen, was ich meine.

Das eine ist: Ich besitze seit 20 Jahren einen Tauchschein. In den vergangenen Jahren ist es für mich jedoch immer schwerer geworden, diesem Hobby nachzugehen. Das größte Problem ist, nach dem Tauchgang wieder ins Boot zu gelangen.

Als Mensch ohne Hände und Träger einer Beinprothese ist das bei Wellengang sehr schwer. Früher hat man mich an den Schultern gepackt und ins Boot gezogen. Weil ich heute etwas schwerer bin und Schulterprobleme habe, ist das nicht mehr möglich.

Daher habe ich mir Klettergeschirr gekauft, das jetzt über dem Tauchanzug liegt. Dazu gibt es am Boot eine Seilwinde, über die man mich mit einem Seil ins Boot hieven kann. Am Ende packen mich ein bis zwei Taucher am Geschirr und ziehen mich ins Boot.

Das Verständnis ist wichtig

Um zu tauchen, brauche ich Hilfe. Aber Tauchen ist Teamsport. Mein Tauchpartner hilft mir im Wasser dabei, die Tauchausrüstung an- und wieder auszuziehen.

Unter Wasser brauche ich zudem Unterstützung beim Druckausgleich. Jemand muss mir die Nase zuhalten. Interessanterweise hatte ich jedoch während der Tauchgänge niemals das Gefühl, eine Belastung zu sein.

Im Gegenteil, ich erfuhr immer viel Lob und Respekt von den Menschen, die mich begleitet haben. Und da war immer Begeisterung, wenn Menschen sahen, wie ich mit meiner Behinderung diesem Hobby nachgehe. Für mich war das eine schöne Erfahrung. Und ich glaube, anderen Menschen können solche Erfahrungen vermitteln, warum Inklusion wichtig ist.

Das zweite Beispiel war ein Erlebnis auf dem Campingplatz. Ein junges Mädchen beobachtete mich dabei, wie ich mit meinem selbst umgebauten und inzwischen patentierten Fahrrad über den Platz fuhr.

Dann kam abends der Vater zu mir. Er brachte seine Tochter mit. Sie wollte mir etwas mitteilen. Sie sagte, sie sei beeindruckt davon, wie ich mit dem Fahrrad fahre und wie ich dabei lache. Ich habe mich sehr gefreut.

Bei Inklusion geht es nicht nur darum, dass Dinge möglich werden. Es geht um Begegnungen, Begeisterung und sozialen Zusammenhalt – um Freude, um Lebensfreude, um ein Lebensgefühl.

Es ist wichtig, dass Menschen früh ein Verständnis dafür bekommen. Wie erfolgreich Inklusion ist, hängt auch davon ab, wie gut es gelingt, junge Menschen mit den Bedürfnissen von Hilfsbedürftigen vertraut zu machen. Veranstalter von Festen und Volksfesten zum Beispiel können sehr viel verändern, wenn sie an diese Bedürfnisse denken.

Aber wo lernt man das? Warum nicht in sozialen Medien? Auch Behinderteneinrichtungen, Alten- und Pflegeheime können Influencer sein. Wenn Menschen sich mit ihrer eigenen Lebensrealität und der ihrer Umgebung auseinandersetzen, kann das auch größere Probleme lösen, vielleicht sogar gesellschaftliche Probleme.

Inklusion betrifft alle

Warum sollte es nicht cool sein, auf einem Stadt- oder Oktoberfest als Rollstuhlfahrdienst zu helfen oder Einkaufsdienste in einem Pflegedienst anzubieten. Es braucht viele solcher Ideen, um Probleme im Kleinen zu lösen. Auch davon hängt es ab, ob so etwas Großes wie Inklusion gelingt.

Aber es geht nicht nur mit Ideen und einem guten Willen. Es braucht auch Geld, und Geld ist sowohl in Berlin als auch in Düsseldorf und Münster zurzeit knapp. Und gespart wird zuallererst bei sozialen Projekten. Hilfebedürftige Menschen gehören zu den Ersten, die so etwas spüren.

Auch gesellschaftliche Veränderungen spielen eine Rolle. Das Dreigenerationenprinzip, nach dem in Familien mehrere Generationen zusammenarbeiten und sich gegenseitig unterstützen, scheint überholt. Feste Strukturen zerfallen. Zwischen pflegenden Menschen und denen, die gepflegt werden müssen, gibt es meist keine familiäre Verbindung mehr.

Gesunde Menschen haben Angst, krank oder pflegebedürftig zu werden und auf sich allein gestellt zu sein. Das macht deutlich: Inklusion betrifft nicht nur Menschen, die alt sind oder von Geburt an eine Behinderung haben. Jeder Mensch kann von heute auf morgen krank werden oder einen Unfall haben. Jeder Mensch kann von einem Tag auf den anderen darauf angewiesen sein, dass seine Umgebung barrierefrei ist.

Es braucht also einerseits sozialen Zusammenhalt. Sonst verblasst der Inklusionsgedanke in wirtschaftlich schlechten Zeiten, wenn alle nur noch an sich selbst denken. Es braucht die Einsicht, dass Inklusion alle betrifft. Und es braucht Interesse, Hilfsbereitschaft und Begeisterung, wie ich sie beim Tauchen immer wieder erlebe.

Herzliche Grüße

Ihr Ludwig Lübbers

PS

Ich habe übrigens eine Website über meine Erfahrungen mit der Inklusion beim Tauchen gemacht – mit vielen Informationen, Fotos und Videos. Vielleicht haben Sie Lust, mal reinzuschauen. Die Seite finden Sie hier.

Porträt von Ludwig Lübbers

Ludwig Lübbers

… hat an der Uni Münster Mathematik und Sozialwissenschaften studiert und anschließend das Referendariat absolviert. Heute arbeitet er als Lehrer am Freiherr-vom-Stein-Gymnasium. Von 1997 bis 2000 initiierte und betreute er das Projekt „Handicap im Internet“, eine Plattform, auf der sich Menschen mit Behinderung vernetzen und austauschen konnten. In der städtischen Kommission zur Förderung der Inklusion (KIB) setzt er sich heute für die Interessen von Menschen mit Behinderungen in Münster ein. 2021 veröffentlichte er sein erstes Buch: „L’Ultima Spiaggia – Meine letzte Hoffnung“. In seinen RUMS-Kolumnen schreibt er über Barrieren und Barrierefreiheit, über den Alltag von Menschen mit Behinderung und über Inklusion in Münster.

Die Kolumne

Immer sonntags schicken wir Ihnen eine Kolumne. Das sind Texte, in denen unsere acht Kolumnistinnen und Kolumnisten Themen analysieren, bewerten und kommentieren. Die Texte geben ihre eigene Meinung wieder, nicht die der Redaktion. Mitgliedschaften in politischen Parteien oder Organisationen machen wir transparent. Wenn Sie zu den Themen der Kolumnen andere Meinungen haben, schreiben Sie uns gern. Wenn Sie möchten, veröffentlichen wir Ihre Zuschrift im RUMS-Brief. Wenn Sie in unseren Texten Fehler finden, freuen wir uns über Hinweise. Die Korrekturen veröffentlichen wir ebenfalls im RUMS-Brief.

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