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Die Kolumne von Ruprecht Polenz | Wir sollten wieder helfen
Einen schönen Sonntag wünsche ich Ihnen.
Am vergangenen Montag ist Volker Maria Hügel das Bundesverdienstkreuz verliehen worden. Oberbürgermeister Markus Lewe, der ihm die Auszeichnung in der Rüstkammer des Rathauses überreichte, würdigte den 69-Jährigen als Gründer und Motor der Gemeinnützigen Gesellschaft zur Unterstützung Asylsuchender (GGUA).
Hügel habe den Einsatz für Geflüchtete und den Schutz von Minderheiten zu seiner Lebensaufgabe gemacht. Es gehe ihm darum, diesen Menschen wirkliche Teilhabe in unserer Gesellschaft zu ermöglichen. Damit habe er viel zu einem parteiübergreifenden Münster-Konsens in der Flüchtlingspolitik beigetragen, die sich genau das zum Ziel gesetzt habe, so Markus Lewe.
Münster als Stadt, in der Geflüchtete Aufnahme finden und die offen ist für ihre Teilhabe und Mitwirkung am Stadtgeschehen – dieser Münster-Konsens wird jetzt auf eine neue Probe gestellt.
Wir sehen die schrecklichen Bilder vom Flughafen in Kabul. Verzweifelte Menschen versuchen, sich vor den Taliban in Sicherheit zu bringen.
Viele von ihnen haben als sogenannte Ortskräfte für die 53 Nationen gearbeitet, die am Afghanistan-Einsatz der NATO in den letzten 20 Jahren beteiligt waren. Als Dolmetscher:innen, ziviles Personal in den Feldlagern der ausländischen Streitkräfte oder zur Unterstützung der vielen Organisationen, die im ganzen Land Entwicklungshilfe geleistet haben: Krankenhäuser, Schulen, Infrastruktur.
Besondere Verantwortung
Diese Ortskräfte und ihre Familienangehörigen sind jetzt in großer Gefahr. Sie müssen die Rache der Taliban fürchten, weil sie für die „ausländischen Besatzer“ gearbeitet haben. Sie haben für ihr Land gearbeitet und für uns. Deshalb trägt Deutschland – ebenso wie die anderen am Einsatz beteiligten Nationen – eine besondere Verantwortung für ihre Sicherheit.
Ich bin enttäuscht und zornig darüber, dass es offensichtlich keinen Plan C für den Notfall gab, der jetzt eingetreten ist. Auch wenn man einen solchen Exit vor Jahren für ausgeschlossen gehalten hat, hätte man trotzdem für den Worst Case eine Strategie entwickeln müssen, wie die Ortskräfte für den Fall der Fälle ausreisen und in Sicherheit gebracht werden können. Die notwendigen Papiere, Sicherheitsüberprüfungen und Listen der möglicherweise zu Evakuierenden hätte man viel früher anlegen und ständig fortschreiben müssen.
Im Februar 2020 hatte Trump seinen „Deal“ mit den Taliban abgeschlossen: vollständiger Abzug der amerikanischen Truppen binnen 14 Monaten, gegen die Zusage eines Waffenstillstands der Taliban gegenüber den USA.
Damit waren die Würfel gefallen. Die Taliban, die in vielen Teilen des Landes über eine „Schattenverwaltung“ verfügen, die „Steuern“ und andere Abgaben erpresst, gingen in die Offensive. Schon bald kontrollierten sie immer größere Teile des Landes.
Auch wenn niemand gedacht hätte, dass es so schnell gehen würde, war doch mit hoher Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen, dass es nach dem Abzug der USA eine Frage von wenigen Monaten sein könnte, bis die Taliban die Herrschaft an sich gerissen hätten.
Die Bundesregierung hätte deshalb auch das Verfahren der Familienzusammenführung verändern müssen.
Es war doch ersichtlich, dass die afghanischen Ehepartner:innen deutscher Staatsangehöriger die deutsche Sprache nicht mehr in Afghanistan würden lernen können, um die Voraussetzungen für ein Einreisevisum zu erfüllen. De facto hat die Bundesregierung durch das Festhalten an dieser Regel gegen die grundgesetzliche Pflicht verstoßen, Ehe und Familie besonders zu schützen (Art. 6 Abs. 1 GG).
Bundeswehr leistet jetzt Außergewöhnliches
Im Mai habe ich einen Appell an die Bundesregierung unterschrieben, sich jetzt endlich um die Ortskräfte und ihre Sicherheit zu kümmern.
Das Patenschaftsnetzwerk für Ortskräfte der Bundeswehr geht von ca. 8.000 Ortskräften und ihren Familien aus, um deren Sicherheit es geht.
Wie viele von ihnen bisher nach Deutschland gebracht werden konnten, lässt sich nicht genau sagen. Es waren jedenfalls zu wenige, die noch zu einem Zeitpunkt nach Deutschland gebracht wurden, als das gefahrlos möglich war.
Die Soldat:innen der Bundeswehr leisten jetzt Außergewöhnliches, um trotz sehr gefährlicher Bedingungen so viele von ihnen zu retten wie nur irgend möglich. Über 5.370 Personen haben sie bisher ausgeflogen. Dafür gebührt ihnen Dank und große Anerkennung.
Neben den Ortskräften und ihren Familien sind diejenigen Afghan:innen besonders gefährdet, die sich für die Demokratisierung ihres Landes eingesetzt haben: als Menschenrechtsaktivist:innen, Lehrer:innen, Richter:innen, Künstler:innen. Frauen, die sich am öffentlichen Leben beteiligt haben, müssen Schlimmes von den Taliban fürchten.
In wenigen Tagen wird zunichte gemacht, was über 20 Jahre aufgebaut wurde. Das Ziel der 53 Nationen, die an dem Einsatz in Afghanistan beteiligt waren, wurde nicht erreicht: ein stabiles Land, in dem alle Afghan:innen sicher und in Frieden leben können.
Aber aus dem Versuch, dieses Ziel zu erreichen, erwächst auch eine Verantwortung gegenüber den Afghan:innen, die sich mit uns dafür engagiert haben. Sie haben etwas riskiert nach dem Sturz der Taliban im Jahr 2001. Denn die Taliban waren ja nie völlig von der Bildfläche verschwunden, sondern wollten durch unzählige Terror- und Selbstmordanschläge, die tausende unschuldiger Opfer forderten, einen demokratischen Staatsaufbau verhindern.
Viele, die nicht unter einer Schreckensherrschaft der Taliban leben wollen, werden in den nächsten Monaten und Jahren irgendwie versuchen, aus Afghanistan zu fliehen. Deutschland sollte sich mit anderen aufnahmebereiten Staaten wie Kanada, Großbritannien und den USA zusammentun, um ein groß angelegtes, internationales Programm zur Neuansiedlung von Geflüchteten (Resettlement) auf die Beine zu stellen, koordiniert vom Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, der UNHCR. So wie einst im Fall der Vietnam-Flüchtlinge.
Volker Maria Hügel hat die GGUA 1979 gegründet. Etwa zur gleichen Zeit startete Rupert Neudeck damals mit dem Rettungsschiff Cap Anamur ins südchinesische Meer. Hunderttausende Vietnames:innen hatten sich nach dem Ende des Vietnam-Krieges auf die Flucht vor den Kommunist:innen des Nordens gemacht. 840.000 von ihnen erreichten in Booten die Flüchtlingslager in der Region. Viele, die es auch versucht hatten, ertranken im Meer oder wurden von Pirat:innen überfallen. Rupert Neudeck gelang es, mit seiner Cap Anamur mehr als 11.000 vietnamesische Bootsflüchtlinge zu retten. (Er hatte übrigens in Münster studiert und war von 1969 bis 1971 Redakteur des Semesterspiegels.)
Die Hilfsbereitschaft ist groß
Nach anfänglichem Zögern der damaligen Bundesregierung unter Helmut Schmidt hatte sich auch Deutschland bereit erklärt, zehntausende Flüchtende aus Asien aufzunehmen. Den Durchbruch brachte damals der niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht (CDU), der angesichts der Bilder von verzweifelten Menschen erklärt hatte, Niedersachsen sei bereit, notfalls im Alleingang 1.000 Flüchtende aus Vietnam aufzunehmen. So kamen 1978 die ersten Bootsflüchtlinge direkt aus Malaysia, wohin sie sich zunächst gerettet hatten, nach Hannover. Die Junge Union schlug vor, 50.000 vietnamesische Geflüchtete aufzunehmen.
Der Rat der Stadt Münster beschloss auf Antrag der CDU einstimmig, über das zugewiesene Kontingent hinaus weitere hundert Vietnamesen aufzunehmen. Die Stadt stellte zwei Sozialarbeiter:innen ein, um die Integration zu erleichtern.
Die Aufnahme der vietnamesischen Geflüchteten ist eine humanitäre Erfolgsgeschichte. Das sollte uns jetzt ermutigen, wenn es um afghanische Geflüchtete geht.
Die Bereitschaft, auch jetzt wieder zu helfen, ist groß. Als erstes Bundesland hat Nordrhein-Westfalen zusätzlich zu den 800 Plätzen für Ortskräfte aus dem Krisengebiet weitere 1.000 Plätze für Frauen aus Afghanistan zur Verfügung gestellt.
Damit wolle man, so Ministerpräsident Armin Laschet, schnellstmöglich besonders bedrohten Bürgerrechtlerinnen, Menschenrechtsaktivistinnen, Künstlerinnen, Journalistinnen und anderen mit ihren Familien in Deutschland eine sichere Unterkunft bieten.
Weitere Geflüchtete aus Afghanistan werden folgen. Wir sollten sie auch in Münster gut aufnehmen. So, wie vor vierzig Jahren die Bootsflüchtlinge aus Vietnam.
Ich wünsche Ihnen eine gute Woche.
Herzlich
Ihr Ruprecht Polenz
Ruprecht Polenz
Viele Jahre lang war Ruprecht Polenz Mitglied des Rats der Stadt Münster, zuletzt als CDU-Fraktionsvorsitzender. Im Jahr 1994 ging er als Bundestagsabgeordneter nach Berlin. Er war unter anderem CDU-Generalsekretär, zwischen 2005 und 2013 Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags. Von 2000 bis 2016 war Ruprecht Polenz Mitglied des ZDF-Fernsehrats, ab 2002 hatte er den Vorsitz. Der gebürtige Bautzener lebt seit seinem Jura-Studium in Münster. 2020 erhielt Polenz die Auszeichnung „Goldener Blogger“.
Die Kolumne
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