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Die Kolumne von Carla Reemtsma | Jetzt kommt das Jahr des Klimahandelns
Liebe Leser:innen,
in wenigen Tagen geht das Jahr 2020 zu Ende. Ich hoffe, dass Sie auch in dieser außergewöhnlichen Situation zumindest mit ihren Allernächsten schöne Feiertage verbringen konnten. Hätte ich zu Beginn dieses Jahres meine Freund:innen gefragt, ob sie sich vorstellen könnten, Weihnachtsfeiern freiwillig in den digitalen Raum zu verlegen, ich hätte vermutlich irritierte Blicke und vielleicht ein müdes Lachen geerntet.
Wir Klimaaktivist:innen hatten uns Ende 2019 das kommende Jahr 2020 als eines voller kleiner Revolutionen und großer Entscheidungen auf dem Weg in eine klimaneutrale Zukunft vorgestellt. Nachdem 2019 von den Radiomoderator:innen und den Journalist:innen in den Zeitungsredaktionen dieses Landes das „Jahr der Klimabewegung“ genannt wurde, war klar: 2020 wird das „Jahr der Klimaentscheidungen“.
2020 war das erste Jahr, in dem die Unterzeichnerstaaten des Pariser Klimaabkommens ihre nationalen Pläne für die Emissionsreduktion vorlegen und gegenseitig überprüfen sollten. 2020 war das Jahr, in dem die Treibhausgasemissionen ihren Höhepunkt erreichen müssten, um eine 50/50-Chance für die Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels zu behalten.
2020 war allerdings auch das heißeste Jahr seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. Es begann mit Waldbränden in Australien, brennenden Permafrostböden in Sibirien und Feuern in Kalifornien, die im Herbst deutlich machten, dass auch industrialisierte, privilegierte Regionen wie San Francisco nicht von den Folgen der Klimakrise verschont bleiben.
Schwieriges Jahr für die Klimabewegung
Die Corona-Pandemie hat es für klimabewegte Menschen um ein Vielfaches komplizierter gemacht, dafür zu kämpfen, dass 2020 ein Jahr der Klimaentscheidungen wird. Versammlungsverbote, persönliche Unsicherheiten, Unternehmen, bei denen plötzlich über Kurzarbeit statt über Nachhaltigkeit diskutiert wurde, Klimakonferenzen im Videoformat, Infektionszahlen als mediale Dauerbeschallung – es war kein einfaches Jahr, um für gesellschaftlichen Wandel zu kämpfen.
Dass das Jahr 2019 als „Jahr der Klimabewegung“ in die politischen Chroniken eingegangen war, hatte immerhin eine Grundlage geschaffen, von der aus 2020 die Hoffnung, „Jahr der Klimaentscheidungen“ zu werden, zumindest augenscheinlich noch erfüllen konnte.
Ein neues EU-Klimaziel, eine globale Mehrheit von Staaten mit Netto-Null-Zielen, ein Enddatum für die Kohleverstromung in Deutschland, Milliarden für grüne Energien im Rahmen von Konjunkturpaketen, die Hoffnung auf den Wiedereintritt der USA ins Pariser Klimaabkommen unter Bald-Präsident Joe Biden: Fünf Jahre nach der Unterzeichnung des Pariser Klimaabkommens scheint es so, als könnte die globale Staatengemeinschaft doch den nötigen Willen zusammenkratzen, um sich der Menschheitsaufgabe „Bekämpfung der Klimakrise“ auf den letzten Metern anzunehmen.
Allerdings wird über den Erfolg der Menschheit nicht erst im Jahr 2030 oder 2050 – dies sind die Jahre, für die die meisten Staaten Reduktionsziele vorgelegt haben – entschieden. Sondern die Politik in den kommenden Monaten und Jahren wird ausschlaggebend dafür sein, ob die Ziele in weiter Ferne erreichbar werden und bleiben.
Klimaziele reichen nicht aus
Die vielfach gepflegte Vorstellung, Klimaziele zu benennen, sei gleichzusetzen mit Klimapolitik, baut auf der verqueren Logik auf, dass es ein politisch definierbares Optimum an Klimazerstörung gäbe. Wer allerdings einmal die aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse betrachtet, kann schnell erkennen, dass bereits die 1,5-Grad-Grenze keinen Spielraum mehr lässt, weniger Emissionen als irgend möglich zu reduzieren. Um die 1,5-Grad-Grenze noch einzuhalten, braucht es schon heute von den Staaten und Bürger:innen die größtmöglichen Emissionsreduktionen.
Obwohl jeder neue Klimabericht einerseits die dramatischen Folgen der Klimakrise, andererseits aber auch mögliche Szenarien zu ihrer Eindämmung aufzeigt, haben diese Erkenntnisse noch lange nicht Einzug in die klimapolitischen Ziele und Maßnahmen der fast 200 Unterzeichnerstaaten des Pariser Klimaabkommens gefunden. Selbst wenn alle Staaten ihre selbst formulierten Klimaziele einhielten, würde sich die Erde – Stand heute – bis zum Ende des Jahrhunderts um mehr als 3,2 Grad erhitzen.
Doch nicht nur sind die Reduktionsziele unzureichend, um die Klimakrise auf 1,5 Grad zu begrenzen – die nationalen politischen Maßnahmen von Energie-, Wirtschafts- oder Verkehrsminister:innen konterkarieren vielerorts die Bekundungen, die die Umweltminister:innen auf vergangenen Klimakonferenzen formuliert hatten.
Alleine in den G20-Staaten fließen im Rahmen von Konjunkturmaßnahmen über 200 Milliarden Euro in fossile Energieträger, während für grüne Technologien deutlich weniger vorgesehen ist. Statt der sofort notwenigen Reduktion fossiler Energieproduktion wird weltweit mit einem Ausbau in den kommenden Jahren geplant. Alleine durch das Verbrennen der übrigen Braunkohle bis zum voraussichtlichen Ausstiegsdatum 2038 wird in Deutschland eine so große Menge an Emissionen frei, dass die Einhaltung des Klimaziels schlicht unmöglich wird. Und auf EU-Ebene wird jeder dritte Euro für Agrarsubventionen genutzt, von denen meist Großbetriebe mit intensiver Land- und Viehwirtschaft profitieren.
Das Jahr des Klimahandelns
Auch wenn die großen Würfe ausgeblieben sind und obwohl die Klimagerechtigkeitsbewegung und ihre Anliegen monatelang klein- bis totgeredet wurden: Das Klima ist längst nicht mehr nur für Aktivist:innen ein Thema. Der Pandemie zum Trotz ist 2020 zumindest im Bereich der Klimaziele ein Entscheidungsjahr geworden.
Doch Papier ist geduldig und Fernziele sind es auch. Wenn der notwendige Wandel zur Bekämpfung der Klimakrise stattfinden und gesellschaftlich mitgestaltet werden soll, dann reicht ein „Jahr der Klimaentscheidungen“ nicht aus, wie die aktuellen Prognosen für eine 3,2 Grad heißere Welt deutlich machen.
Wenn wir eine gerechte, klimaneutrale Zukunft erreichen wollen, müssen wir nicht nur das Einfache, sondern alles Machbare unternehmen: Dann muss 2021 das Jahr des Klimahandelns werden. Und 2022. Und 2023 auch. Denn nur wenn aus den großen Plänen und Zielen in allen Schulen und Rathäusern, Fabriken und Parlamenten, Büros und Supermärkten die Veränderung in Richtung klimaneutraler Zukunft folgt, können wir das Notwendige schaffen und ein stabiles Klimasystem, intakte Ökosysteme und Ressourcen aufrechterhalten. Klingt viel? Ist es auch. Doch gerade im vergangenen Jahr konnten wir immer wieder erfahren, wie viel die Zivilgesellschaft mit Solidarität und Kreativität erreichen kann.
Ich freue mich auf 2021 und wünsche Ihnen einen guten Rutsch!
Liebe Grüße
Ihre Carla Reemtsma
Carla Reemtsma
Im Januar 2019 hat Carla Reemtsma den ersten Klimastreik in Münster organisiert. Es war eine kleine Kundgebung im Nieselregeln vor dem historischen Rathaus am Prinzipalmarkt. Wenige Wochen später sprach das ganze Land über die Klima-Proteste der „Fridays For Future“-Bewegung. Der Rat der Stadt Münster beschloss das Ziel Klimaneutralität 2030. Inzwischen ist Carla Reemtsma eine der bekanntesten deutschen Klimaaktivistinnen. Geboren wurde sie in Berlin.
Die Kolumne
Immer sonntags schicken wir Ihnen eine Kolumne. Das sind Texte, in denen unsere acht Kolumnistinnen und Kolumnisten Themen analysieren, bewerten und kommentieren. Die Texte geben ihre eigene Meinung wieder, nicht die der Redaktion. Mitgliedschaften in politischen Parteien oder Organisationen machen wir transparent. Wenn Sie zu den Themen der Kolumnen andere Meinungen haben, schreiben Sie uns gern. Wenn Sie möchten, veröffentlichen wir Ihre Zuschrift im RUMS-Brief. Wenn Sie in unseren Texten Fehler finden, freuen wir uns über Hinweise. Die Korrekturen veröffentlichen wir ebenfalls im RUMS-Brief.
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