Carla Reemtsmas Kolumne | Gas ist auch keine Zwischenlösung

Porträt von Carla Reemtsma
Mit Carla Reemtsma

Liebe Leser:innen,

vielleicht haben Sie es mitbekommen: Vor rund zwei Wochen hat die von Manuela Schwesig (SPD) geführte Landesregierung in Mecklenburg-Vorpommern die „Stiftung Klima- und Umweltschutz MV“ gegründet, um die von den USA beschlossenen Sanktionen für am Bau von Nordstream 2 beteiligte Unternehmen zu umgehen. Gegen den Widerstand des EU-Parlaments und weite Teile der Zivilgesellschaft sollen mit dem Geld des russischen Staatskonzerns Gazprom die letzten Kilometer Rohre verlegt werden, um Erdgas nach Deutschland zu transportieren. Ja, Sie hören richtig: Eine Klimaschutz-Stiftung, die inmitten der Klimakrise den Bau einer Erdgaspipeline ermöglichen soll.

Daraus hätte nicht nur eine Debatte über die Rolle von Nordstream 2 für die europäische Energieversorgung folgen können, sondern auch darüber, ob fossiles Gas Teil der Energiewende sein kann. Zwischen den geopolitischen Interessen und den Ereignissen in Russland rund um die Nawalny-Verhaftung war dafür aber bisher wenig Platz. Dass wir diese Debatte zwingend brauchen, liegt nicht nur an Nordstream 2 selbst, das nur eines von vielen laufenden Gasinfrastruktur-Bauprojekten ist, wenn auch ein geopolitisch besonders brisantes. Parallel plant die niedersächsische Landesregierung gerade die Senkung der Förderabgaben auf heimisches Fracking-Gas, was Haushaltseinbußen von circa 250 Millionen Euro bedeutet. Und in Schleswig-Holstein werden zeitgleich neue Terminals für den Umschlag US-amerikanischen Flüssiggases vorbereitet.

Die Befürworter:innen von Gas argumentieren gern mit dem Begriff der „Brückentechnologie“. Brückentechnologie zu erneuerbaren Energien – das waren in den vergangenen zwei Jahrzehnten schon Kernkraft, Braunkohle und Steinkohle. Nachdem die Bundesregierung den Kohleausstieg im Januar endgültig verabschiedet hat, muss dem Argument nach nun wenigstens Gas Teil der Energiewende werden. Statt also in den Ausbau der erneuerbaren Energien selbst fließen so Steuermilliarden in die Finanzierung fossiler Infrastruktur wie Pipelines, Kraftwerke und Anlagen. Dass diese in einer klimaneutralen, kohlenstofffreien Wirtschaft – zu deren Umsetzung wir uns ja international verpflichtet haben – keine Rolle spielen können, ignorieren die Beteiligten einfach.

Gas bleibt ein fossiler Energieträger

Wenn Deutschland in den kommenden Jahren gleich viele Emissionen ausstößt wie in den Jahren zuvor, ist das verbleibende Emissionsbudget – also der Anteil an Treibhausgas-Emissionen, der uns zusteht, wenn es darum geht, die Erderhitzung auf unter 1,5 Grad zu senken – in weniger als sieben Jahren aufgebraucht. Industrialisierte Wirtschaften in der dafür notwendigen Geschwindigkeit emissionsfrei und klimagerecht umzubauen, erfordert Beiträge aus allen Sektoren und Gesellschaftsbereichen und stellt eine gigantische Aufgabe dar. Um einen gerechten Beitrag zur Eindämmung der Klimakrise zu leisten, müssen deshalb heute überall die Weichen für diese klimagerechte Wirtschaft der Zukunft gestellt werden, finanziell und politisch. Zwar verursacht Gas in der Energieerzeugung geringere Co2-Emissionen als Öl und Kohle, doch die bei der Gasförderung und dem Transport entstehenden Methan-Emissionen werden in den Klimabilanzen leider meist ausgeblendet. Egal, wie schön man es sich rechnet: Gas bleibt ein fossiler Energieträger – und für die ist in der Dekarbonisierung eben kein Platz.

Statt heute also Milliarden in den Bau neuer Gasinfrastruktur zu investieren, müssen diese Gelder in den Ausbau erneuerbarer Energien und somit direkt in die Energiewende fließen. Für eine Sabotage durch die nächste „Brückentechnologie“ bleibt da keine Zeit mehr. Genau wie beim Bau neuer Straßen gilt auch in unserem Energiesystem: Sind erst einmal Gelder geflossen und Anlagen gebaut, werden sie auch genutzt. Dass eine konsequente Energiewende ohne den Umweg Gas möglich ist, zeigen Studien und Szenarien. Doch dafür braucht es eine massive Förderung und insbesondere eine Entbürokratisierung des Ausbaus erneuerbarer Energien.

Ein weiterer Vorteil: Statt einiger weniger Energiegroßkonzerne, von denen ein Teil gar nicht in Deutschland sitzt, können wir davon alle profitieren. Vereinfachte Genehmigungsverfahren machen Bürgerenergie im ganzen Land möglich, wodurch unser Strommarkt langfristig demokratischer und transparenter würde. Das Arbeitsplatzpotenzial in der Wind-, Wasser- und Solarbranche ist hoch, insbesondere in der Windkraftregion Münsterland. Und nicht zuletzt ist Strom aus Wind und Sonne auch günstiger.

Blick über die Grenze

Ein solches Umdenken scheint in der bis heute von wenigen Großkonzernen beherrschten Energiebranche selbst unwahrscheinlich. Mit Gaskraft können sie ihre zentralistischen Betriebskonzepte und damit ihre Vormachtsstellung einfacher aufrechterhalten als in einem dezentralen Energiesystem, in dem – Gott bewahre – Bürger:innen auch noch animiert würden, ihre Energieversorgung nach Möglichkeit selbst zu organisieren. Bei unseren niederländischen Nachbar:innen können wir beobachten, wie dieses Schreckensszenario fossiler Konzerne aussehen kann: Der Bau privater Solaranlagen wurde massiv vereinfacht und ist für die Bürger:innen durch staatliche Förderung und Stromkostenersparnis attraktiv. Mit einfachen Maßnahmen wurden die Niederlande damit in wenigen Jahren vom Solarsorgenkind zum europäischen Vorreiter.

Doch wir brauchen nicht mal den Blick über die Grenze: Noch 2019 gerieten die Stadtwerke Münster mit ihren Planungen zu einem neuen Gaskraftwerk in die Schlagzeilen und das Zentrum der Aufmerksamkeit verschiedenster Klimagerechtigkeits-Gruppen. In den Plänen der Stadtwerke sollte das neue Gaskraftwerk sparsamer arbeiten und das aktuelle Kraftwerk am Hafen ablösen. Doch Anfang 2020 schalteten die Stadtwerke mit dem milliardenschweren Projekt Kraftwerksneubau plötzlich in den Rückwärtsgang. Statt im Gas sah man die Zukunft plötzlich in den Erneuerbaren Energien, wollte die Kraftwerkspläne und gleichzeitig den Ausbau von Wind- und Solarkraft noch einmal überprüfen. Stand heute ist noch keine Entscheidung für oder gegen das Kraftwerk gefallen. Doch mit den Beschlüssen des Stadtrats zu Klimaneutralität 2030 und Klimanotstand im Rücken sollte den Stadtwerken längst klar sein, in welcher Richtung die Zukunft liegt.

Ich wünsche Ihnen einen schönen Sonntag,

Carla Reemtsma

Porträt von Carla Reemtsma

Carla Reemtsma

Im Januar 2019 hat Carla Reemtsma den ersten Klimastreik in Münster organisiert. Es war eine kleine Kundgebung im Nieselregeln vor dem historischen Rathaus am Prinzipalmarkt. Wenige Wochen später sprach das ganze Land über die Klima-Proteste der „Fridays For Future“-Bewegung. Der Rat der Stadt Münster beschloss das Ziel Klimaneutralität 2030. Inzwischen ist Carla Reemtsma eine der bekanntesten deutschen Klimaaktivistinnen. Geboren wurde sie in Berlin.

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