Die Kolumne von Carla Reemtsma | Demokratie ist eine Aufgabe

Porträt von Carla Reemtsma
Mit Carla Reemtsma

Liebe Leser:innen,

eine ungewohnte Ruhe und Langsamkeit hat die Ostertage bestimmt. Ungewohnt nicht etwa, weil Ostern in den vergangenen Jahren so trubelig war, oder weil die vergangenen Tage so aufregend gewesen wären. Ruhig kommt es mir durch die Abwesenheit empörend-ermüdender Nachrichten vor, ganz gleich ob zum Infektionsschutz oder zu politischen Skandalen. Nach Wochen der Dauer-Eilmeldungen lassen mich inzwischen schon ein paar ereignislosere Tage daran zweifeln, ob ich wirklich nichts verpasst habe.

Schuld daran waren in den vergangenen Monaten vor allem zwei Parteien: CDU und CSU. Während die Infektionszahlen wieder in die Höhe schnellen, hat die Union innerhalb weniger Tage eine Handvoll Abgeordnete verloren. Nicht an das neue Virus, sondern durch Rücktritte nach Skandalen.

Nachdem sie sich inmitten der Corona-Pandemie die Kontaktvermittlung zwischen Maskeneinkäufern der Landes- oder Bundespolitik und Maskenfirmen mit Provisionen im sechsstelligen Bereich vergolden ließen, verließen die Unionsabgeordneten Nüßlein, Löbel und Hauptmann ihre Partei. In Bayern trat mit Alfred Sauter einer der wichtigsten CSU-Männer zurück, nicht nur wegen Masken sondern nun offensichtlich auch wegen Verstrickungen um Schnelltests.

Im gleichen Atemzug wurden die engen Verflechtungen mehrerer Abgeordneter mit Aserbaidschan publik. Neben engen Verbindungen zu dem autoritären Ölstaat pflegten viele von ihnen auffällig gute Beziehungen zu organisieren Klimawandel-Leugner:innen und machten sich für eine laxeren Umgang mit Menschenrechtsverletzungen stark. Umso belastender ist das, wenn es sich um einen Politiker wie den Staatssekretär Thomas Bareiß handelt, der in der Bundesregierung für die Energiewende zuständig sein sollte.

Das Umfragetief ist symptomatisch

Vor dem Hintergrund dieser Häufung an skandalösen Vorfällen wirken andere Verdachtsfälle fast harmlos: Nachdem Bundesgesundheitsminister Jens Spahn zunächst Journalist:innen die Berichterstattung über den Kauf einer 4,125 Millionen Euro teuren Villa im Berliner Edelviertel Dahlem untersagen lassen wollte, machte später insbesondere sein Kreditgeber Schlagzeilen. Denn der Kreditgeber des gebürtigen Münsterländers und Bankkaufmanns Jens Spahn ist die Sparkasse Westmünsterland – in deren Verwaltungsrat Spahn 2009 bis 2015 saß. Während die Kreditvergabe an amtierende Verwaltungs- und Aufsichtsratmitglieder verboten ist, gibt es eine solche Regelung für ehemalige Mitglieder nicht. Könnte man ja auch mal drüber nachdenken.

Es sind also offensichtlich nicht nur die von der Weltgesundheitsorganisation als „inakzeptabel langsam“ betitelte Impfkampagne, die mangelnden Konzepte für einen Umgang mit der dritten Welle der Corona-Pandemie und die fehlende Test-Strategie, die die Union in ihr aktuelles Umfragetief stürzen. Das zeigt sich in den Ergebnissen der Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen und Hessen und Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz, bei denen die Union trotz teilweise regional solider Corona-Bekämpfung reihenweise historisch schlechte Ergebnisse erzielte.

Das Umfragetief ist allenfalls symptomatisch für die verschiedenen Krisen, die die Union zeitgleich durchläuft und von denen sie auf keine nennenswerten Antworten findet. Während keiner der Unionsminister im akuten Krisenmanagement der Coronapandemie eine wirklich gute Figur abgibt, rufen die skandalösen Berichte rund um die Masken- und Aserbaidschan-Connection Erinnerungen an die Union zu Zeiten von Spenden- und Amigo-Affäre wach.

Als Partei, die sich insbesondere über ihren Status als Volkspartei und das damit einhergehende gesellschaftliche Grundvertrauen in ihre Regierungs- und Krisenfähigkeit bei gleichzeitiger inhaltlicher Flexibilität definiert, sind die aktuellen Entwicklungen dramatisch. Wenn die Aufregung über die persönliche Bereicherung einzelner Abgeordneter inmitten einer historischen Gesundheitskrise nicht mehr durch gutes Regieren kompensiert werden kann, bleibt wenig Raum, um politisches Vertrauen zurückzugewinnen.

Vertrauen könnte zwar auch durch Politikkonzepte und Ideen für die Bewältigung der gesellschaftlichen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gewonnen werden. Doch gibt es weder überzeugende Inhalte noch Entscheidungsträger:innen, die diese präsentieren. Damit sind auch hier wenig Stimmen zu gewinnen. Dass jegliche politisch neue Idee ebenso wie mögliches Personal in den nicht enden wollenden Debatten über Verantwortlichkeiten und Erneuerung zerrieben wird, erleichtert es nicht gerade, geschlossen gegenüber den Wähler:innen und überzeugt von der eigenen Regierungsfähigkeit aufzutreten.

Skandale werden vergessen – aber das ist kein Naturgesetz

Dass dies kein alleiniges Phänomen der Bundes-CDU ist, zeigt sich auch in Münster. Während Markus Lewe sowohl mit der Regierungsbilanz der vergangenen Jahre als auch mit einer überdurchschnittlichen Bewältigung der Corona-Pandemie im Rücken bei der vergangenen Wahl trotzdem eine Mehrheit der Wähler:innen hinter sich versammeln konnte, war dies für den münsterischen Ableger seiner Partei nicht mehr möglich. Der CDU gelang es nicht, eine Koalition hinter gemeinsamen Inhalten zu versammeln. Es zeigt sich: Verwaltungsfähigkeiten reichen nicht unbedingt aus, um Wahlen zu gewinnen.

Bis zur Bundestagswahl im September ist es noch fast ein halbes Jahr – eine Zeitspanne, in der ein Hund Welpen bekommen und die Wähler:innen die Skandale der vergangenen Wochen vergessen können. Das ist in der Geschichte der Bundesrepublik zwar oft vorgekommen, ist allerdings kein Naturgesetz. Weitaus dramatischer als die scheinbare Vergesslichkeit vieler Wähler:innen ist allerdings der rapide generelle politische Vertrauensverlust, den die Union mit den endlosen Skandalmeldungen auslöst. Denn wo lange Zeit die Social-Media-Affinität junger Erwachsener, und schlechter Politikunterricht für rückläufige Wahlbeteiligung und politisches Desinteresse verantwortlich gemacht wurden, müssen sich CDU und CSU nun vor allem an die eigene Nase fassen.

Das Vertrauen in demokratische Institutionen so zu zerstören und Verantwortung so konsequent nicht wahrzunehmen, ist nicht nur im Jahr einer Bundestagswahl demokratieschädigend und nicht zu entschuldigen.

Hoffnungsvoll stimmt mich aber, dass die Gesellschaft diesem Verhalten nicht einfach ausgeliefert ist: Journalist:innen recherchieren den Affären hinterher, engagierte Bürger:innen stellen Anfragen bei den zuständigen Bundesbehörden, Aktivist:innen organisieren Protest, Wähler:innen entziehen Politiker:innen ihr Vertrauen. Das alles zeigt: Demokratie ist eine Aufgabe, keine Selbstverständlichkeit.

Ich wünsche Ihnen einen schönen restlichen Feiertag
Ihre Carla Reemtsma

Korrektur:

In einer früheren Version stand, das Umfragetief der Union zeige sich in den Ergebnissen der Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz und Landtagswahlen in Hessen und Baden-Württemberg. Richtig muss es heißen: Es zeigte sich an die Ergebnissen der Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen und Hessen und Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz. Wir haben das im Text korrigiert.

Porträt von Carla Reemtsma

Carla Reemtsma

Im Januar 2019 hat Carla Reemtsma den ersten Klimastreik in Münster organisiert. Es war eine kleine Kundgebung im Nieselregeln vor dem historischen Rathaus am Prinzipalmarkt. Wenige Wochen später sprach das ganze Land über die Klima-Proteste der „Fridays For Future“-Bewegung. Der Rat der Stadt Münster beschloss das Ziel Klimaneutralität 2030. Inzwischen ist Carla Reemtsma eine der bekanntesten deutschen Klimaaktivistinnen. Geboren wurde sie in Berlin.

Die Kolumne

Immer sonntags schicken wir Ihnen eine Kolumne. Das sind Texte, in denen unsere acht Kolumnistinnen und Kolumnisten Themen analysieren, bewerten und kommentieren. Die Texte geben ihre eigene Meinung wieder, nicht die der Redaktion. Mitgliedschaften in politischen Parteien oder Organisationen machen wir transparent. Wenn Sie zu den Themen der Kolumnen andere Meinungen haben, schreiben Sie uns gern. Wenn Sie möchten, veröffentlichen wir Ihre Zuschrift im RUMS-Brief. Wenn Sie in unseren Texten Fehler finden, freuen wir uns über Hinweise. Die Korrekturen veröffentlichen wir ebenfalls im RUMS-Brief.

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