Die Kolumne von Carla Reemtsma | Hoffentlich kein Wahlkampf à la Trump

Porträt von Carla Reemtsma
Mit Carla Reemtsma

Liebe Leser:innen,

schreiben selbst Hauptstadtjournalist:innen bereits im Vorwahlkampf, dass sie keine Lust auf die kommenden drei Monate Wahlkampf haben, ist das kein gutes Zeichen. Genauso wenig ist es das, wenn zu einem Zeitpunkt, an dem noch nicht einmal alle Wahlprogramme feststehen, schon die Schlammschlacht um Personalien und politische Positionen beginnt.

Müssten politisch aktive junge Menschen nicht so extrem auf ihre Ausdrucksweise bedacht sein, um ernst genommen zu werden, wir würden in diesen Tagen wohl öfter Aussagen wie „Bundestagswahl? Ja lol ey“ hören. Daraus spricht kein allgemeines Desinteresse an Politik oder die angebliche Demokratiemüdigkeit der Jungen. Viele Menschen sind unzufrieden mit der aktuellen Politik, ja, das ist per se nichts, was nur auf junge Menschen zutrifft. Aber: Nach 16 Monaten Pandemiepolitik, in der die Interessen meiner Generation immer nur als Rechtfertigung für Öffnungsschritte, nie aber als Anlass für tatsächliche Maßnahmen herangezogen wurden, ist der Frust über die politische Debatte unter jungen Leuten besonders groß.

Dabei besteht für die Parteien gerade in einem Wahljahr die Möglichkeit, sich unter dem Blick der Öffentlichkeit zu artikulieren, sich außerhalb vom Tagesgeschehen zu Themen zu positionieren, Perspektiven für eine Gesellschaft aufzuzeigen, die sie sich vorstellen. Doch Stand jetzt bekommen wir, knapp hundert Tage vor der Wahl, erschreckend wenig präsentiert, woran sich Parteien und ihr Personal messen ließen. Von der Union, der stärksten Partei in der aktuellen Regierung und der voraussichtlich stärksten Partei nach der Wahl im September, gibt es noch nicht einmal ein Wahlprogramm. Inhaltliche Aussagen finden vor allem als Ablehnung der Positionen anderer („Laschet lehnt zentrale Forderungen der Grünen ab“) statt.

Postfaktische Debatten beherrschen den Wahlkampf

So uneindeutig, wie die Prognosen gerade sind, so schwankend, wie die Wahlumfragen jeden Sonntag ausfallen, ist aktuell beim Wahlergebnis und den daraus folgenden möglichen Regierungskoalitionen noch alles drin. Zeit also, um über Konzepte, Ideen und Vorstellungen für Gesellschaft und Politik nach der Pandemie zu sprechen, den Bürger:innen Angebote zu machen, sich um die besten Konzepte zu streiten.

Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt, um Antworten auf die drängenden Fragen der Wähler:innen zu geben, Maßnahmen zu präsentieren, um die Klimakrise einzudämmen, die sich verschärfenden sozialen Ungleichheiten zu bekämpfen, die Arbeitsbedingungen in der Pflege zu verbessern, die Menschenrechtsverletzungen an den EU-Außengrenzen zu stoppen und nach eineinhalb Jahren Fern- und Wechselunterricht echte Perspektiven für Schüler:innen, Auszubildende und Studierende zu schaffen. Stattdessen beherrschen postfaktische Debatten wie etwa um einen angeblichen „Klimalockdown“ den Wahlkampfbeginn.

An der Aufregung um Spritpreiserhöhungen zeigt sich sehr gut, wie diese Art von Diskursverschiebung funktioniert. Die eigentlich von allen grundsätzlich befürwortete Erhöhung des CO2-Preises (CDU und SPD haben sie in der Regierung beschlossen, FDP und Grüne fordern sie im Wahlprogramm) wird genau dann abgelehnt, wenn sich vermeintlich politisch Gewinn daraus schlagen lässt. Preiserhöhungen, insbesondere für Benzin und Heizmittel, belasten einkommensschwächere Haushalte stärker als solche mit hohem Einkommen – vor allem solange Menschen aufgrund mangelnder Alternativen auf ihr Auto angewiesen sind und als Mieter:innen nicht über die Art der Heizung oder die energetische Sanierung der Wohnung entscheiden können.

Fruchtbarer Streit braucht gute Argumente

Diese soziale Schieflage ist allerdings auch allen Parteien bewusst, weshalb sie verschieden betitelte Konzepte für einen finanziellen Ausgleich vorschlagen, die – ob nun als Bürgergeld, Energiegeld, Pro-Kopf-Pauschale oder über die Energiesteuer – am Ende mehr oder weniger auf dasselbe hinauslaufen und einkommensschwächere Haushalte entlasten.

Doch anstatt nun über genau diese Vorschläge zu diskutieren und aufzuzeigen, wie eine wichtige klimapolitische Maßnahme sozial gerecht gestaltet werden kann, verfängt vor allem die reflexartige Ablehnung mit dem pauschalen Argument der sozialen Gerechtigkeit. Natürlich müssen wir über politische Maßnahmen streiten (und werden dabei auch oft genug nicht zu einem gesellschaftlichen Konsens kommen), um Fortschritt zu erreichen. Aber Streit ist nur dann fruchtbar, wenn die Argumente stichhaltig und die Auseinandersetzung nicht durch Falschbehauptungen und Ad-hominem-Argumente verzerrt wird.

Noch viel schlimmer wird die Debatte mit Unterstellungen von Falschbehauptungen wie dem „Klimalockdown“. Ministerpräsident Kretschmer forderte jüngst, dass wir vom Corona-Lockdown nicht in den „Klimalockdown“ gehen dürften. Nur: Niemand hatte je einen Lockdown für den Klimaschutz gefordert, schließlich waren die Emissionen schon im Dezember 2020 höher als vor Beginn der Pandemie. Der Schaden war trotzdem angerichtet, Klimaaktivist:innen und andere mussten erst mal klarstellen, dass sie dies nicht fordern. Und wieder war eine Chance vertan, um über die tatsächlich notwendigen Maßnahmen zur Begrenzung der Klimakrise zu sprechen.

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Scheinbar einfache Lösungen hinterfragen

Dabei haben wir mehr verdient. Eine ehrliche Debatte, ja, auch Streit und unterschiedliche Meinungen darüber, wie in diesem Land Politik gemacht werden soll. Die Zivilgesellschaft ist politisch interessiert und engagiert, das zeigen nicht zuletzt die in den letzten Jahren immer stärker gewordenen Bewegungen fürs Klima, für die Pflege, gegen die Internetgesetze Artikel 13 und 17, für Frauenrechte, für bezahlbaren Wohnraum und gegen Rassismus.

Diese Bewegungen sind unglaublich wichtig, während der Wahlperiode genauso wie in den Wahljahren. Sie zeigen Unzulänglichkeiten der Politik und die Unzufriedenheit der Bürger:innen auf und bieten eine niedrigschwellige Möglichkeit, seiner Meinung ohne Partei- oder Vereinsmitgliedschaft Gehör zu verschaffen.

Im Wahljahr haben Parteien die wichtige Aufgabe, Angebote auch für die Bürger:innen zu machen, die sich engagieren und protestieren. Ohne solche Angebote riskieren sie es, dass insbesondere junge Menschen, die in vielen Protesten stark engagiert sind, ihr Vertrauen in Politik und Parteien noch weiter verlieren. Für Kompromisse innerhalb einer Koalitionsregierung haben viele noch Verständnis. Kein Verständnis haben sie dafür, wenn mit Fotos von Protesten und Bekundungen zu Klimaschutz, Antirassismus oder sozialer Gerechtigkeit Wahlkampf gemacht werden, ohne dass es dazu konsequente Programme gibt.

Ich hoffe, dass die Befürchtungen der Journalist:innen nicht eintreten werden – und es keinen Wahlkampf à la Trump geben wird. Dafür braucht es aber mehr als nur die Wahl. Es braucht uns alle, die in politischen Diskussionen ehrlich und auf Augenhöhe diskutieren, uns nicht mitreißen lassen von Populist:innen und ihren Kampagnen – wir müssen scheinbar einfache Lösungen für schwierige Probleme auch mal hinterfragen.

Ich wünsche Ihnen einen schönen Sonntag.

Ihre Carla Reemtsma

Porträt von Carla Reemtsma

Carla Reemtsma

Im Januar 2019 hat Carla Reemtsma den ersten Klimastreik in Münster organisiert. Es war eine kleine Kundgebung im Nieselregeln vor dem historischen Rathaus am Prinzipalmarkt. Wenige Wochen später sprach das ganze Land über die Klima-Proteste der „Fridays For Future“-Bewegung. Der Rat der Stadt Münster beschloss das Ziel Klimaneutralität 2030. Inzwischen ist Carla Reemtsma eine der bekanntesten deutschen Klimaaktivistinnen. Geboren wurde sie in Berlin.

Die Kolumne

Immer sonntags schicken wir Ihnen eine Kolumne. Das sind Texte, in denen unsere acht Kolumnistinnen und Kolumnisten Themen analysieren, bewerten und kommentieren. Die Texte geben ihre eigene Meinung wieder, nicht die der Redaktion. Mitgliedschaften in politischen Parteien oder Organisationen machen wir transparent. Wenn Sie zu den Themen der Kolumnen andere Meinungen haben, schreiben Sie uns gern. Wenn Sie möchten, veröffentlichen wir Ihre Zuschrift im RUMS-Brief. Wenn Sie in unseren Texten Fehler finden, freuen wir uns über Hinweise. Die Korrekturen veröffentlichen wir ebenfalls im RUMS-Brief.

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