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Die Kolumne von Carla Reemtsma | Politik und Ehrlichkeit
Liebe Leser:innen,
nur knapp vier Wochen ist es her, dass die schlimmsten Überflutungen seit Jahrzehnten große Teile Nordrhein-Westfalens und Rheinland-Pfalz zerstört haben. Viele von Ihnen kennen sicherlich Personen, die von den Fluten betroffen sind oder als Teil der Münsteraner Rettungskräfte vor Ort bei den Bergungsarbeiten geholfen haben. In den reichen Industriestaaten wird mit der Katastrophe zum ersten Mal deutlich, dass die Klimakrise auch nicht vor dem globalen Norden haltmacht. Menschen erleben ganz konkret, wie Familien und Existenzen zerstört werden, wobei die emotionalen Traumata alle Sachschäden übertreffen. Die Soforthilfen für die Betroffenen und der Wiederaufbau müssen im Vordergrund stehen – gleichzeitig wäre es fatal, die Klimaphysik hinter der Katastrophe auszublenden.
Wer aus vorgeblichem Respekt gegenüber den Betroffenen nicht über die klimapolitischen Hintergründe spricht, entpolitisiert ein zutiefst politisches Thema und verkennt dessen systematischen Probleme. Einen ähnlichen Reflex erleben wir regelmäßig, wenn bei rechten Chatgruppen in der Polizei von Einzelfällen oder bei rassistischen Anschlägen von Amokläufen gesprochen wird. Durch die bekundete Betroffenheit und den Verweis auf die Aufklärung zu einem späteren Zeitpunkt werden die strukturellen Probleme von Klimakrise, Rassismus und Rechtsextremismus negiert, die die Vorfälle erst möglich oder zumindest sehr viel wahrscheinlicher machen. Wer aus „Anstand“ notwendige Untersuchungen aufschiebt, möchte vor allem eins: den Status Quo mitsamt seinen Problemen aufrechterhalten.
Jede:r Zweite macht sich große Sorgen
Dabei haben Ereignisse wie die Flut logischerweise sowohl einen politischen Hintergrund als auch politische Konsequenzen: Während die globale Erderhitzung Extremwetterereignisse immer häufiger, schwerwiegender und langanhaltender macht, ist das klimapolitische Bewusstsein in Deutschland als Reaktion auf die Fluten enorm gestiegen. Jede:r Zweite macht sich große Sorgen um die Klimakrise – der Wert ist damit nur kurz hinter dem Allzeithoch aus dem Sommer 2019. Acht von zehn Wähler:innen sehen großen oder sehr großen Handlungsbedarf beim Klima. Und sogar für jede:n Dritte:n ist die Klimakrise nach den Fluten noch wichtiger für die Wahl geworden als zuvor.
Die Reaktion der Politiker:innen? Die könnte kaum verlogener sein. Während Soforthilfen ihren Zweck als schnelle, unbürokratische Unterstützung kaum erfüllen können, versucht die CDU unter ihrem Kanzlerkandidaten Armin Laschet gar nicht erst, angemessen auf die klimapolitischen Herausforderungen zu reagieren. Sie erinnern sich bestimmt an seine Aussage, „wegen so eines Tages“ ändere man jetzt nicht seine ganze Politik. Aber auch von der SPD ist wenig bis nichts zuhören. Und von den Grünen? Die Partei, der die größte Klimakompetenz zugesprochen wird, die mit diesem Thema erst so groß geworden ist? Die Grünen versuchen Teile aus ihrem schon vor Monaten beschlossenen, unzureichenden Wahlprogramm als „Klimaschutzsofortprogramm“ zu verkaufen. Statt neue Maßnahmen zu präsentieren, stellen sie die symbolische Forderung nach einem Klimaministerium inklusive eines Vetorechts in den Vordergrund.
Eine ernsthafte Wahl haben wir nicht
Eine ehrliche Reaktion auf die Fluten mit einer Kombination aus Soforthilfen für Geschädigte in Deutschland, einer Erhöhung der Klimafinanzierung für besonders betroffene Staaten und Regionen sowie einer 1,5-Grad-konformen Neuverhandlung der Koalitionsprogramme bleibt aus. Jahrelang hatten augenscheinlich ambitionierte Politiker:innen gesagt, sie warteten nur auf den Fukushima-Moment beim Klima, auf höhere gesellschaftliche Akzeptanz, auf ein politisches Möglichkeitsfenster, um konsequenten Klimaschutz durchzusetzen. Dabei ist all dies längst da. Der Großteil der Bürger:innen sieht starken Handlungsbedarf in der Klimapolitik. Mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes ist die juristische Grundlage für konsequente Emissionsreduktion klargestellt worden. Schon die Hitzesommer in den vergangenen Jahren hätten einen Kipppunkt in der Klimapolitik darstellen können, spätestens die Fluten hätten nun der vielfach herbeigesehnte Fukushima-Moment sein müssen.
Doch eine angemessene Reaktion bleibt aus. Für die Legislaturperiode, in der die Emissionen unbedingt drastisch sinken müssen, um noch einen Beitrag zur Einhaltung der 1,5-Grad-Grenze zu leisten, hat keine Partei ein Programm, mit welchen Maßnahmen diese Reduktion gelingen kann. Das ist ein Skandal. Eine ernsthafte Wahl zwischen verschiedenen Wegen und Konzepten zur Eindämmung der Klimakrise haben klimabewegte Wähler:innen nicht.
Dabei sollten wir uns alle bewusst sein: Das aktuelle Klima ist das heißeste mit den dramatischsten Wetterextremen, welches die Menschheit je erlebt hat. Es ist zugleich aber auch das kälteste, das sie in den kommenden Jahrzehnten erleben wird. Selbst wenn die Emissionen ab sofort so stark wie möglich reduziert werden, steigt die Temperatur zunächst noch weiter und verursacht so häufigere Hitzewellen, Überflutungen und Waldbrände. Der einzige richtige Moment für konsequenten Klimaschutz ist jetzt; jedes Warten auf höhere Zustimmungswerte, neue wissenschaftliche Erkenntnisse oder weitere Extremwetter macht die notwendigen Maßnahmen noch drastischer.
Ein 100-Tage-Programm reicht nicht aus
Ehrlichkeit mit diesem Wissen gibt es von keiner Partei, von niemandem aus der Spitzenpolitik. Da werden Kompromisse gemacht, um anschlussfähig zu wirken und konsequente Vorschläge aus den eigenen Reihen werden mit dem Argument der fehlenden Umsetzbarkeit abgelehnt. Dabei ist es nicht die technologische, juristische oder gesellschaftliche Machbarkeit, die die Einhaltung der 1,5-Grad-Grenze verhindert. Es ist der fehlende politische Wille, aufgrund dessen die Klimazerstörung durch die Förderung von Kohle, Öl und Gas weiter vorangetrieben wird – während freiwillige Helfer:innen Keller leerpumpen und Schlamm schippen.
Die politischen Reaktionen auf die Flutkatastrophe sind verlogen – aber die gesellschaftliche muss es nicht sein. Während immer mehr Menschen Handlungsbedarf beim Klimaschutz sehen, organisieren Klimaaktivist:innen in ganz Deutschland Proteste für vor und nach der Wahl. Denn klar ist: Kein Wahlergebnis wird verhindern, dass nach der Wahl weiter auf den Straßen für Klimagerechtigkeit gekämpft werden muss. Die notwendige Transformation, vor der wir stehen, wird nicht mal eben durch ein 100-Tage-Programm erreicht. So ehrlich sollten wir miteinander sein. Umso wichtiger ist es, dass wir überall dafür sorgen, dass der gesellschaftliche Wille für eine klimagerechte Zukunft den politischen Unwillen zur Einhaltung der 1,5-Grad-Grenze beendet.
Ich wünsche Ihnen einen schönen Sonntag
Ihre Carla Reemtsma
Carla Reemtsma
Im Januar 2019 hat Carla Reemtsma den ersten Klimastreik in Münster organisiert. Es war eine kleine Kundgebung im Nieselregeln vor dem historischen Rathaus am Prinzipalmarkt. Wenige Wochen später sprach das ganze Land über die Klima-Proteste der „Fridays For Future“-Bewegung. Der Rat der Stadt Münster beschloss das Ziel Klimaneutralität 2030. Inzwischen ist Carla Reemtsma eine der bekanntesten deutschen Klimaaktivistinnen. Geboren wurde sie in Berlin.
Die Kolumne
Immer sonntags schicken wir Ihnen eine Kolumne. Das sind Texte, in denen unsere acht Kolumnistinnen und Kolumnisten Themen analysieren, bewerten und kommentieren. Die Texte geben ihre eigene Meinung wieder, nicht die der Redaktion. Mitgliedschaften in politischen Parteien oder Organisationen machen wir transparent. Wenn Sie zu den Themen der Kolumnen andere Meinungen haben, schreiben Sie uns gern. Wenn Sie möchten, veröffentlichen wir Ihre Zuschrift im RUMS-Brief. Wenn Sie in unseren Texten Fehler finden, freuen wir uns über Hinweise. Die Korrekturen veröffentlichen wir ebenfalls im RUMS-Brief.
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