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Die Kolumne von Carla Reemtsma | Die Möglichkeit großer Fortschritte
Liebe Leser:innen,
während im Berliner Regierungsviertel die politisch brisanten Gespräche derzeit meist hinter verschlossenen Türen stattfinden, hat der Stadtrat in Münster mit dem neu eingeführten Live-Stream seiner Sitzungen einen ersten Schritt in Richtung gläserne Verwaltung gemacht.
Wer am späten Mittwochnachmittag noch nicht anderweitig verplant ist, kann nun also alle paar Wochen sein Image als gut informierte:r Bürger:in aufpolieren und die Sitzungen live verfolgen. Wer aufgepasst hat, weiß, dass das bereits seit Juni möglich ist – nichtsdestotrotz schadet es ja nicht, auf die Kontrollmöglichkeiten, die die Zivilgesellschaft für ihre demokratisch gewählten Vertreter:innen hat, aufmerksam zu machen.
Eines der in den vergangenen Ratssitzungen am häufigsten diskutierten Themen ist das Klima – oder eher gesagt die Umsetzung konsequenter Klimaschutzkonzepte in Münster (hier der RUMS-Brief dazu). Münster ist hierbei eines der Paradebeispiele dafür, wie eine lautstarke Zivilgesellschaft massenhaft in den politischen Betrieb eingreifen kann.
Wer die relevanten klimapolitischen Ereignisse in der Münsteraner Politik in den vergangenen Jahren rekapituliert, kann schnell ein Muster zwischen Protesten und politischem Handeln erkennen. Vor fast zehn Jahren startete die Divestment-Gruppe Fossil Free ihre ersten Aktionen, um die städtischen Einrichtungen dazu zu bringen, ihre bei RWE und anderen klimaschädlichen Konzernen angelegten Gelder umzuschichten.
2015 war Münster die erste Stadt, die ihr Geld diesen Anlagen vollständig entzogen hatte. In der Folge adressierte Fossil Free zumindest teilerfolgreich die Uni und den Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL). Im Sommer 2019 rief der Rat den Klimanotstand aus – nachdem Fridays for Future und andere Klimagruppen die größten Proteste seit mehreren Jahrzehnten in Münster organisiert hatten. Ein Jahr später beschloss dasselbe Gremium als Folge auf den Klimaentscheid vieler zivilgesellschaftlicher Gruppen das Ziel Klimaneutralität 2030. Drei Beispiele, die zeigen: Protest wirkt.
Begriff “Menscheitsaufgabe” ist keine Übertreibung
Ohne die Demonstrationen, Bürgerbriefe, Petitionen, Blockaden, Gespräche und die vielen weiteren Aktionen würde Münster vermutlich immer noch das Ziel Klimaneutralität 2050 verfolgen und damit das 1,5-Grad-Ziel des Pariser Klimaabkommens krachend verfehlen.
Die Maßnahmen zur Erreichung des nun 20 Jahre nach vorne gezogenen Klimaziels waren Bestandteil der letzten Ratsdebatte. Nach mehr als einer Stunde Redezeit mit Dutzenden Beiträgen wurde dort einmal mehr klar, dass der Begriff „Menschheitsaufgabe“ keine Übertreibung darstellt. Wenn dieser Begriff bei einigen Assoziationen mit Baumhäusern oder mittelalterlichen Kriegszuständen weckt, dann ist das von der Realität und den in der „Konzeptstudie Klimaneutralität 2030“ enthaltenen Maßnahmen sehr weit entfernt.
Begrifflichkeiten wie strategische Wärmeplanung, Effizienz-Standard und Ladeinfrastruktur folgen dicht auf dicht. In der Start-Up-Szene würde man wohl von Buzzwords sprechen, obwohl zunächst wenig Buzz von ihnen auszugehen scheint.
Dabei sind es diese Worte, die einen der vermutlich größten Umbrüche unserer Gesellschaft in den vergangenen Jahrzehnten markieren. Die ökologische Transformation, die Dekarbonisierung aller Lebensbereiche soll – so wird zumindest politisch der Eindruck vermittelt – ohne relevante Veränderungen oder gar Einschnitte für die Bürger:innen passieren. Wenn doch, dann ist es primär Aufgabe einer besseren Kommunikation, für mehr Verständnis und das Gefühl der Partizipation bei den Betroffenen zu werben.
Diese Vorstellung ist allerdings eine Illusion. Die Transformation wird zwangsläufig Veränderungen mit sich bringen, sie wird in weniger als einem Jahrzehnt die Abhängigkeit von dem buchstäblichen Treibstoff unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens nicht nur eindämmen, sondern komplett überflüssig machen. Offen ist dabei, wie diese Veränderungen aussehen und wer sie besonders spüren wird.
Während einige Maßnahmen wie der Ausstieg aus der Verbrennung von Kohle und Gas zur Energiegewinnung unumgänglich sind, bleiben in anderen Bereichen durchaus politische Spielräume. In Münster machen beispielsweise die konkurrierenden Forderungen zur autofreien Innenstadt und zum City-Maut-System deutlich, dass auch bei klaren Emissionszielen der Weg zur Dekarbonisierung immer Ergebnis eines politischen Aushandlungsprozesses ist.
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Diese politischen Spielräume gilt es so auszunutzen, dass auf mehr Klimaschutz nicht mehr soziale Ungerechtigkeit oder mehr persönliche Verzichtskultur folgt. In Anbetracht der Kürze der verbleibenden Zeit muss die Dekarbonisierung in allen Bereichen umgesetzt werden.
Die vom Rat mitsamt der zugehörigen Maßnahmen vorgelegte Klimaschutzstudie wollte die Bereiche Landwirtschaft und Flächennutzung aussparen – doch so wird das nichts mit Klimaneutralität. Im Rat der Stadt Münster verhinderten angenommene Anträge aus der Fraktion von ÖDP, Linken und der Internationalen Liste diese Scheinlösung.
Extrem günstige Ausgangsbedingungen
Der Blick auf die vergangenen Jahre in der Klimapolitik Münsters machen deutlich: Es kann sie geben, die großen Fortschritte beim Klimaschutz. Sie kommen allerdings nicht von alleine, der Protest und Druck aus der Zivilgesellschaft ist mindestens ebenso wichtig wie die Anerkennung von Klima als Querschnittsaufgabe über alle Dezernate und Parteien hinweg.
In Münster kommen zusätzlich noch extrem günstige Ausgangsbedingungen dazu: Eine starke öffentliche Hand, eine junge, studentische Bevölkerung, wenig emissionsintensive Industrie, eine auf das Fahrrad ausgerichtete Stadt. Diese Faktoren machen es einfacher, die Transformation mit Veränderungen und auch weniger Widerständen voranzutreiben.
Münster müsste dementsprechend in Deutschland eine Rolle einnehmen, wie Deutschland sie international haben müsste: Früher klimaneutral werden, um anderen Zeit für Anpassungsmöglichkeiten zu verschaffen und ideelle, technische und finanzielle Unterstützung zu bieten. Mit dem Ziel Klimaneutralität 2030 geht es in Münster einen Schritt in die richtige Richtung.
Jetzt müssen die Maßnahmen umgesetzt und Modelle gefunden werden, wie die Transformation beispielsweise für Konzerne aussehen wird, deren Geschäftsmodell in einer klimagerechten Gesellschaft nicht in der bisherigen Form weiter existieren kann. Wie weit wir davon entfernt sind, zeigen die aktuellen Entwicklungen im Rheinland, wo der Energiekonzern RWE ein weiteres Dorf für die Kohle abbaggern will. Kurz vor der Weltklimakonferenz setzt die reiche Industrienation Deutschland damit ein verheerendes Zeichen sowohl in Richtung internationaler Staatengemeinschaft als auch der am stärksten von der Klimakrise betroffenen Regionen und Menschen im Globalen Süden. Daneben wirkt Münster wie ein kleines gallisches Dorf, das eifrig Widerstand leistet.
Ob dies allerdings nur so wirkt oder ob auf die Worte auch Taten folgen, wird sich noch zeigen. Bis dahin gilt es, als Zivilgesellschaft weiter aktiv zu bleiben – und ein Auge auf die kommenden Ratssitzungen zu halten, jetzt auch vom heimischen Schreibtisch aus.
Ich wünsche Ihnen einen schönen Sonntag.
Ihre Carla Reemtsma
Carla Reemtsma
Im Januar 2019 hat Carla Reemtsma den ersten Klimastreik in Münster organisiert. Es war eine kleine Kundgebung im Nieselregeln vor dem historischen Rathaus am Prinzipalmarkt. Wenige Wochen später sprach das ganze Land über die Klima-Proteste der „Fridays For Future“-Bewegung. Der Rat der Stadt Münster beschloss das Ziel Klimaneutralität 2030. Inzwischen ist Carla Reemtsma eine der bekanntesten deutschen Klimaaktivistinnen. Geboren wurde sie in Berlin.
Die Kolumne
Immer sonntags schicken wir Ihnen eine Kolumne. Das sind Texte, in denen unsere acht Kolumnistinnen und Kolumnisten Themen analysieren, bewerten und kommentieren. Die Texte geben ihre eigene Meinung wieder, nicht die der Redaktion. Mitgliedschaften in politischen Parteien oder Organisationen machen wir transparent. Wenn Sie zu den Themen der Kolumnen andere Meinungen haben, schreiben Sie uns gern. Wenn Sie möchten, veröffentlichen wir Ihre Zuschrift im RUMS-Brief. Wenn Sie in unseren Texten Fehler finden, freuen wir uns über Hinweise. Die Korrekturen veröffentlichen wir ebenfalls im RUMS-Brief.
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