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Die Kolumne von Carla Reemtsma | Gerichte werden das Problem nicht lösen

Guten Tag,
stellen Sie sich mal 4.500 Bäume vor. 4500 Bäume sind eine ganze Menge. 4.500 Bäume brauchen knapp 25 Hektar und kosten zusammen etwa 23.000 Euro. 4500 Bäume – so viele hat das Land NRW in einem Wald südlich von Hiltrup aufgeforstet, um einen Teil der Emissionen der landeseigenen Dienstreisen zu kompensieren. Klingt gut, nicht?
Parallel dazu kommen die Push-Mitteilungen zum Beschluss der UN-Klimakonferenz, ab 2030 keine Wälder mehr zu roden und einer Anti-Methan-Initiative der EU. Methan, das ist ein um ein vielfaches klimaschädlicheres Treibhausgas als CO2. Während die internationale Politik also handelt, übernehmen Privatpersonen wie der superreiche Amazon-Gründer Jeff Bezos Verantwortung und finanzieren mit Milliarden aus ihrem Privatvermögen Klimaschutz- und Biodiversitätsprojekte. Und um dem Ganzen noch eine Krone aufzusetzen, kommt selbst die verrufenste aller Industrien langsam auf einen guten Weg: In Niedersachsen eröffnet die erste Industrieanlage zu massenhaften Herstellung von CO2-neutralem Kerosin, und auf dem Gelände des ehemaligen Flughafen Tegels in Berlin soll ein klimaneutraler Stadtteil entstehen. Man könnte als klimabewegter Mensch glatt denken: „Klimakrise? Gelöst. Entspannung angesagt, es läuft doch.“
Überall wird das Klima verhandelt
Die Aussichten dafür sehen gar nicht mal so schlecht aus: Im schottischen Glasgow wird gerade auf der angeblich ambitioniertesten Klimakonferenz, die es jemals gab, das Weltklima verhandelt, während in Berlin die Ampel-Parteien einen Plan für eine „Zukunftsregierung“ unter einem „Klimakanzler“ Olaf Scholz ausbaldowern.
Nach jahrelangen Klimaprotesten stehen beide Verhandlungen im maximalen Rampenlicht. Alle erwarten, dass nach vielen Sonntagsreden nun auch inhaltlich geliefert wird. Dass mit Svenja Schulze im Klimateam der SPD sowie mit dem Klimawissenschaftler Stefan Lechtenböhmer sowohl in Glasgow als auch in Berlin Münsteraner:innen mit am Verhandlungstisch sitzen, ändert vermutlich wenig an der kollektiven öffentlichen Aufmerksamkeit außerhalb von Münsteraner Juso-Kneipen.
Realistisch betrachtet werden Klimakonferenz und Koalitionsverhandlungen eine Emissionsreduktion auf die ein oder andere Art erreichen. Mit internationalen Zusagen zum Kohleausstieg und dem Stopp der Finanzierung fossiler Projekte hat die Konferenz der Vertragsparteien (COP) noch keinen Plan für eine 1,5-Grad-konforme Gesellschaft vorgelegt, aber zumindest die dafür notwendigen Bedingungen ein kleines bisschen mehr in Reichweite gebracht. Und selbst NRW, das Braunkohleland Nummer eins, ist dem Kohleausstieg 2030 nicht mehr abgeneigt.
Das Problem: Die Klimakrise lösen wir nicht mit Tippelschritten. Die 1,5-Grad-Grenze ist nicht ein willkürlich festgelegter politischer Kompromiss. Steigt die globale Durchschnittstemperatur um mehr als 1,5 Grad gegenüber dem vorindustriellen Zeitalter, steigt die Wahrscheinlichkeit für das Überschreiten existenzieller Kipppunkte exponentiell an: Große Teile des Arktiseises drohen zu schmelzen, woraufhin weniger Sonnenlicht reflektiert werden kann, was wiederum den Temperaturanstieg drastisch beschleunigen würde. Die Verlangsamung des Golfstroms würde existenzielle Funktionen von Ökosystemen zerstören, Nahrungsmittelknappheit verursachen und Küstenregionen überschwemmen, und die Schmelze des Grönländischen Eisschilds würde den sowieso schon nicht mehr aufzuhaltenden Meeresspiegelanstieg weiter befeuern.
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Klimakrise eindämmen heißt Kipppunkte verhindern
Wir können die Klimakrise nicht „ein bisschen“ eindämmen. Wir können entweder alles Menschenmögliche unternehmen, um die Zerstörung von Lebensgrundlagen und die absurden Vorhaben fossiler Großkonzerne zu stoppen oder wir machen weiter wie bisher, nur dass die Jahresabschlussbilanzen um Tabellen mit CO2-Kompensationsmaßnahmen voller Aufforstungsprojekte und Fördergelder für die Anschaffung von Solarpanels an einer Mosambikanischen Schule ergänzt werden. Die Erzählung von besseren, wenn auch nicht ausreichenden Ambitionen verteidigt schlussendlich genau den Status Quo, der uns erst in diese Krise gebracht hat.
Die am Anfang genannten vermeintlich guten Nachrichten für das Klimasystem der Erde sind bei genauerem Hinsehen alles Beispiele für genau diese Logik:
- Am Tag nach der Methan-Initiative labelt die EU Investitionen in Pipelines, Kraftwerke und Anlagen für fossiles Gas (was zu mehr als 90 Prozent aus Methan besteht) als „grüne Investition“
- Die Idee vom klimaneutralen Fliegen mithilfe synthetischer Kraftstoffe lenkt davon ab, dass der selbst 2030 maximal 2 Prozent des Kerosins klimaneutral sein werden und relevante Emissionseinsparungen nur durch eine massive Reduktion des Flugverkehrs erreicht werden können
- Bereits 2014 hatten dutzende Staaten angekündigt, die Zerstörung von Wäldern bis 2020 zu bremsen und bis 2030 zu stoppen. Die Rodungen gingen trotzdem die vergangenen Jahre ungebremst weiter, und für das gesamte Jahrzehnt der 2020er-Jahre gibt es keinen Plan zum Stopp, obwohl Artensterben und Klimakrise dutzende Anlässe böten
Den Gipfel der Absurdität liefert Jeff Bezos‘ Rede, in der er seinen Blick auf die Erde bei seinem Weltraumflug im Juli als Erweckungsmoment beschreibt, der ihn die Fragilität des Planeten hat realisieren lassen. Denn während Superreiche wie der Amazon-Gründer Bruchteile ihres Vermögens in Klimaschutzmaßnahmen investieren und sich als großzügige und problembewusste Zeitgenossen inszenieren, sind es ihre Geschäftsmodelle und Produktionsweisen, die die Klimakrise immer weiter antreiben. Doch an denen werden sie aus Profitinteresse höchstens minimale Reförmchen durchführen, um Proteste der Beschäftigten zu verhindern.
Der Kohleausstieg in NRW ist erst der Anfang
Dass die Klimakrise trotz öffentlicher Aufmerksamkeit und ausufernder Willensbekundungen nicht die Grenzen politischen Handelns setzt, die sie eigentlich darstellen müsste, zeigt sich zuletzt wieder in Nordrhein-Westfalen. Kurz nach seinem Amtsantritt als Ministerpräsident und Nachfolger von dem als Kumpel der Kohleindustrie bekannten Armin Laschet verkündet Hendrik Wüst seine Bereitschaft dazu, den Kohleausstieg bis 2030 umzusetzen. Diese Aussage ist in sich schon eine Sensation und sowohl auf die sich verändernden Bedingungen in der Energiewirtschaft als auch die Proteste der Klimabewegung zurückzuführen.
Verräterischer ist jedoch, was Wüst nicht sagt: Er spricht vom Erhalt der fünf Dörfer, die am Tagebau Garzweiler noch abgebaggert werden sollten, lässt dabei jedoch Lützerath außer Acht – das Dorf, das als Nächstes enteignet und abgebaggert werden sollte. Wird jedoch die Kohle unter Lützerath verbrannt, dann können die Klimaziele in Deutschland nicht eingehalten werden oder, wie die Aktivist:innen vor Ort sagen: Die 1,5-Grad-Grenze verläuft vor Lützerath.
In Lützerath zeigt sich ganz konkret, wie politische Maßnahmen ohne den Widerstand aus der Zivilgesellschaft zwar Emissionen einsparen können, aber nicht einfach ausreichen, um die klimazerstörerischen Verhältnisse ernsthaft zu verändern. Aktuell liegt der Fall vor dem Oberverwaltungsgericht Münster. Das muss nun entscheiden, ob im Jahr 2021 noch Menschen wie der Bauer Eckhardt Heukamp für den dreckigsten Energieträger der Welt enteignet werden dürfen. Das Gericht in Münster hatte 2018 bereits den vorläufigen Rodungsstopp im Hambacher Forst angeordnet.
Doch Gerichte allein werden die klimazerstörerischen Verhältnisse nicht aufbrechen können, die es zu hinterfragen und überwinden gilt. Wenn die Antwort auf klimaschädliche Dienstreisen im Auto und Flugzeug lieber das Pflanzen von 4.500 Bäumen südlich von Münster mit fragwürdiger Klimabilanz als der Umstieg auf die für Amtsträger:innen kostenlose Deutsche Bahn ist, dann sind wir davon allerdings noch meilenweit entfernt – selbst wenn die Nachricht mit hübschem Spatenstichfoto uns ein Gefühl der Klima-Behaglichkeit vermitteln mag. Es bleibt also mal wieder der Zivilgesellschaft überlassen.
Ich wünsche Ihnen einen schönen Sonntag mit einem kritischen Blick auf alle „Durchbruchsnachrichten“ von der Klimakonferenz und vielleicht einem Spaziergang in einem naturbelassenen Wald im Umland von Münster.
Ihre Carla Reemtsma

Carla Reemtsma
Im Januar 2019 hat Carla Reemtsma den ersten Klimastreik in Münster organisiert. Es war eine kleine Kundgebung im Nieselregeln vor dem historischen Rathaus am Prinzipalmarkt. Wenige Wochen später sprach das ganze Land über die Klima-Proteste der „Fridays For Future“-Bewegung. Der Rat der Stadt Münster beschloss das Ziel Klimaneutralität 2030. Inzwischen ist Carla Reemtsma eine der bekanntesten deutschen Klimaaktivistinnen. Geboren wurde sie in Berlin.
Die Kolumne
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