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Die Kolumne von Carla Reemtsma | Jetzt bloß keine Floskeln
Guten Tag,
heute in vier Wochen werden Sie ins Wahlbüro zur Stimmabgabe gehen können oder bereits einen Brief mit den Kreuzen bei den Parteien und Kandidat:innen Ihrer Wahl abgegeben haben. In vier Wochen wird der nordrhein-westfälische Landtag gewählt. Die Wahl in NRW wird dann nach den Wahlen im Saarland und Schleswig-Holstein die dritte Landtagswahl sein, die inmitten weltumspannender Krisen stattfindet.
Nachdem die Coronapandemie und die politischen Maßnahmen zu ihrer Eindämmung bis in die privatesten Sphären jedes Einzelnen vorgedrungen sind, betrifft der Krieg in der Ukraine viele erstmal nicht direkt. Wer keine Verwandten oder Freund:innen in der Ukraine hat oder in einem Bereich mit Kontakt zur Ukraine oder Russland arbeitet, bekommt den Krieg vor allem als eine Unvorstellbarkeit auf allen Nachrichtenportalen mit. Wer 2020 dachte, mit Trump, Klimakrise und Corona sei schon das Maximum an sich überlagernden Krisen erreicht, hatte sich getäuscht.
In Krisenzeiten offenbart sich vieles über Politik und Gesellschaft – unter anderem wird die implizite Aufgabenteilung zwischen Bund und Ländern plötzlich neu sichtbar. Während der Bund grundsätzliche Entscheidung über die großen politischen Fragen – Impfpflicht, Lockdown, Waffenlieferungen – trifft, bleibt die Umsetzung und Bewältigung der Folgen – Pooltests in Schulen, Geflüchtetenunterkünfte – bei den Ländern liegen. Krisenmanagement findet auf beiden Ebenen statt, mal besser, mal schlechter.
Im Vordergrund steht die starke Symbolik
Die Coronapandemie hat gezeigt, wie Landespolitiker:innen versuchten, Einfluss auf die strahlkräftigen Entscheidungen der Bundesregierung zu bekommen, um auch in den Genuss des guten Eindrucks zu kommen. Im Ukraine-Krieg sieht die Situation anders aus: Gelb-blaue Banner vor den Parteizentralen, schnell abgeänderte Wahlkampfmotive mit Friedensbotschaften, Auftritte mit einer Schar Fotograf:innen an den Ankunftsbahnhöfen ukrainischer Geflüchteter – im Vordergrund steht die starke Symbolik.
Der Ukraine-Krieg, bei dem die grundlegenden Fragen nach Waffenlieferungen, NATO und Sanktionen auf bundes- oder europapolitischer Ebene getroffen werden, ist so mitten ins Zentrum des Wahlkampfes gerückt. Neben den unumgänglichen schönen Worten von Solidarität und Frieden ist es vor allem ein Thema, was die NRW-Minister:innen überall vor sich hertragen: das Nein zum Energieembargo.
NRW ist ein Hauptstandort der energieintensiven Industrie in Deutschland. Von Chemiefabriken über Papierhersteller bis zur Glasproduktion, kaum eine Industrie ist nicht auf fossile Energieträger angewiesen, von denen weit mehr als die Hälfte aus Russland importiert wird. Ein Embargo würde das Gas massiv verknappen, nicht alle Ausfälle könnten anderweitig ersetzt werden.
Der Notfallplan Gas, dessen erste Stufe Robert Habeck vor wenigen Wochen einsetzte, sieht vor, dass bei Knappheit zunächst nicht-existentielle Industrien ihren Verbrauch drosseln müssen. Ein Szenario, das Wirtschaftsminister Pinkwart ablehnt, hatte die Industrie nicht auch schon insbesondere im ersten Coronajahr teilweise erhebliche Einbußen erlebt. Nachdem er sich mit Industrievertreter:innen zu einem Gipfel zu den wirtschaftlichen Auswirkungen des Ukraine-Krieges getroffen hatte, bekräftigte er sein Nein zum Embargo wenig überraschend nochmal. Gleichzeitig ruft Ministerpräsident Hendrik Wüst ebenso wie Ex-Bundespräsident Joachim Gauck die Bürger:innen zum Energiesparen auf.
Der Reflex kommt einem bekannt vor
Hier zeigt sich eine der fatalsten Tendenzen der modernen Krisenpolitik. Anstatt ehrlich zu kommunizieren, eine Debatte über den gesamtgesellschaftlichen Umgang damit zu ermöglichen und politische Verantwortung zu übernehmen, wird die Verantwortung an die einzelnen Bürger:innen als Konsument:innen ausgelagert.
Dieser Reflex kommt einem aus dem Umgang mit der Klimakrise und mit der Coronapandemie bekannt vor, wo wieder und wieder an die „Eigenverantwortung“ appelliert wird. Eigenverantwortung um eine weltweite Gesundheitskrise, die „größte Herausforderung unserer Zeit“ oder einen Angriffskrieg zu lösen? Es ist einfach absurd. Die Politiker:innen entziehen sich ihrer Verantwortung. Sie sind die Menschen, die Entscheidungen treffen, um Gesellschaft zu gestalten.
Jetzt in Privathaushalten Energie zu sparen ist nicht falsch – der politische Aufruf dazu ist es aber, wenn er nicht mit dem Aufruf an die Industrie, dasselbe zutun, einhergeht. In einer Welt, die auf eine Klimaerhitzung von mehr als drei Grad zusteuert, gibt es kein Recht auf Energieverschwendung. In einer Welt, in der der Bezug von Energie die Kriegskasse von Autokraten füllt, noch weniger.
Wenn die Minister:innen und Landtagswahl-Kandidat:innen es ernst meinen mit ihren Plakaten und der geforderten Solidarität, dann müssen sie gerade als Politiker:innen in einem Bundesland mit viel Industrie jetzt die unbequemen Fragen stellen. Wer sich gegen Krieg ausspricht, muss ehrlich darüber debattieren, welche unangenehmen Konsequenzen auch hier vor Ort für wirksame Sanktionen in Kauf genommen werden können.
Vier Wochen bis zur Wahl
Wo in der Coronapandemie Unternehmen unterstützt werden konnten, um Arbeitsplätze zu sichern, muss das auch bei einem Energieembargo diskutiert werden. Wo wir Dinge produzieren, die in der Pandemie nicht als systemrelevant gegolten hätten, können wir kein Gas verbrennen, was russische Panzer finanziert. Sonst sind die blau-gelben Wimpel nicht mehr als Heuchelei.
Das gilt nicht nur für diejenigen, die gerade bundespolitische Entscheidungen treffen und das Energieembargo in der EU blockieren. Das gilt auch für die Landesregierungsvertreter:innen, die genau diese Position immer wieder mit Verweis auf die heimische Industrie unterstützen. Noch sind es vier Wochen bis zur Wahl in Nordrhein-Westfalen. Jetzt dürfen die Parteien und Kandidat:innen sich nicht in schönen Wahlkampffloskeln verfangen.
Ich wünsche Ihnen einen schönen Sonntag.
Carla Reemtsma
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Carla Reemtsma
Im Januar 2019 hat Carla Reemtsma den ersten Klimastreik in Münster organisiert. Es war eine kleine Kundgebung im Nieselregeln vor dem historischen Rathaus am Prinzipalmarkt. Wenige Wochen später sprach das ganze Land über die Klima-Proteste der „Fridays For Future“-Bewegung. Der Rat der Stadt Münster beschloss das Ziel Klimaneutralität 2030. Inzwischen ist Carla Reemtsma eine der bekanntesten deutschen Klimaaktivistinnen. Geboren wurde sie in Berlin.
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