Die Kolumne von Carla Reemtsma | Überwinden wir unsere Überheblichkeit

Porträt von Carla Reemtsma
Mit Carla Reemtsma

Guten Tag,

39 Grad. Das ist die aktuelle Wetterprognose für Dienstag in Münster. Sollten die Thermometer kommende Woche tatsächlich solche Temperaturen anzeigen, dann wäre das ein neuer Hitzerekord. Dabei wurde der aktuelle Höchstwert von 38,4 Grad erst vor weniger als drei Jahren, im Juli 2019 aufgestellt. Auch für weitere Teile Westdeutschlands sind Hitzewarnungen ausgesprochen und Rekordtemperaturen werden erwartet. Dabei bekommen wir im Norden Europas nur einen Ausläufer dessen zu spüren, was in Südeuropa bereits seit Wochen für dramatische Bilder sorgt.

Die anhaltend hohen Temperaturen und das teilweise wochenlange Ausbleiben von Niederschlägen hat zu großen, teilweise kaum zu kontrollierenden Waldbränden in Portugal, Frankreich und Kroatien geführt. In der italienischen Po-Region hat die Regierung aufgrund der Trockenheit den Notstand ausgerufen, die private Wassernutzung wird auf die relevanten Zwecke beschränkt, Pools müssen leer und Autos staubig bleiben, während in der Landwirtschaft große Ernteeinbußen drohen.

Zur gleichen Zeit jährt sich die Flutkatastrophe im Ahrtal zum ersten Mal. Eine Katastrophe, die über hundert Menschen das Leben kostete, eine Region verwüstete, Schäden in Milliardenhöhe verursachte und die verheerenden Lücken in unseren Katastrophenschutzsystemen aufzeigte.

Nie waren die Einschnitte so tief

Während der russische Angriffskrieg in der Ukraine den bisher sicher geglaubten Frieden von heute auf morgen zunichtemachte, müssen Gesellschaft, Politik und Wirtschaft nicht nur eine direkte Antwort auf diesen Angriff finden, sondern auch mit den Folgen – drohender Gasmangel, Lebensmittelknappheit, Inflation – umgehen. Und das, während die Coronazahlen in die Höhe steigen und neue Mutationen ganze Betriebe lahmlegen, die teilweise noch mit den Einbußen der vergangenen Jahre kämpfen.

Das Vertrauen der vergangenen Jahre in die Beständigkeit der politischen Stabilität und Sicherheit, in eine florierende Wirtschaft und eine funktionierende Sozialpolitik mag leichtgläubig oder sogar überheblich gewesen sein. Trotz immer wieder aufflammender krisenhafter Momente (Finanzkrise, Euro-Krise, Flüchtlingskrise), nie waren die Einschnitte so tief, so rasch aufeinanderfolgend, so weitreichend.

Spätestens die kommunalen Maßnahmen als Reaktion auf den absehbaren Gasmangel, wie die Abschaltung von Ampeln und Gebäudebeleuchtung, die Temperatursenkungen in Schwimmbädern und öffentlichen Gebäuden und die Kürzung von Bibliotheks- und Mensaöffungszeiten machen deutlich: Eine Politik, die der Situation angemessen ist, aber keine Einschnitte in Kauf nimmt, gibt es nicht.

Unsere Überheblichkeit steht im Weg

Gleichzeitig machen die reflexhaften Abwehr-Antworten vom Beginn des Kriegs klar – man erinnert sich an den Tankrabatt und die pauschalen Energiesubventionen für Konzerne –, dass wir weder gesellschaftlich noch politisch in der Lage sind, in angemessener Zeit angemessene Antworten zu finden. Stattdessen versuchen wir alles, um einen Status Quo aufrecht zu erhalten, den es schon lange nicht mehr gibt und auch so nicht mehr geben wird.

Das gilt umso mehr für eine Krise, die uns schleichend, aber dafür mit jahrzehntelanger Vorankündigung erreicht. Während Sommer für Sommer Tausende von den Statistiken unerfasst an Hitzefolgen sterben, sind wir nicht in der Lage, uns einzugestehen, dass es Pläne braucht, um mit dieser neuen Realität umzugehen.

Während katastrophale Extremwetterereignisse wie im Ahrtal immer häufiger werden, hindert uns unsere Überheblichkeit daran, die Dramatik anzuerkennen und wir drohen immer öfter und immer stärker die Kontrolle zu verlieren.

Wir sind gesellschaftlich in der Lage, aus unserer Komfortzone zu gehen. Wir mussten es in der Coronapandemie und konnten sie damit zumindest eindämmen. Wir tun dies aufgrund des Kriegs in der Ukraine und werden damit hoffentlich verhindern, dass der Gasmangel so dramatisch wird, dass die Einschnitte um ein Vielfaches heftiger werden als das, was wir gerade vorausschauend und freiwillig tun.

Wer gestaltet die Veränderung?

Und wir müssten dies auch in der Klimakrise tun. Sie ist längst da und vielerorts müssen betroffene Landwirt:innen, Altenpfleger:innen und viele weitere schon jetzt alleine Antworten auf diese Folgen geben. Damit sich das politisch ändert und wir gesamtgesellschaftlich Antworten geben können, müssen wir aber mehr tun.

Als Allererstes müssen wir die Lage anerkennen, statt sie wieder und wieder kleinzureden. Danach müssen wir unsere überhebliche Vorstellung, alles kontrollieren zu können und im Griff zu haben, ablegen. Und dann müssen wir uns eingestehen, dass wir einen Status Quo, den es gar nicht mehr gibt, nicht aufrechterhalten können und dass Veränderung das beste Mittel ist, um noch größerer Veränderung aufgrund des Kontrollverlustes vorzubeugen.

Dafür sollten wir nicht auf den nächsten Hitzerekord oder das nächste Extremwetter warten, nur um uns dann in den immergleichen Debatten rund um die Fragen „Aber das war doch jetzt das Wetter?“ und „Aber müssen wir deswegen jetzt auf Dinge verzichten?“ zu verlieren. Die Klimakrise ist da und sie wird unser aller Leben entscheidend verändern. Die Frage ist, ob wir die Veränderung mitgestalten oder das allein der Unberechenbarkeit der Natur überlassen. Und das gilt nicht erst, wenn die Thermometer am Dienstag in bisher unerreichte Höhen steigen.

Ich wünsche Ihnen einen schönen Sonntag
Ihre Carla Reemtsma

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Carla Reemtsma

Im Januar 2019 hat Carla Reemtsma den ersten Klimastreik in Münster organisiert. Es war eine kleine Kundgebung im Nieselregeln vor dem historischen Rathaus am Prinzipalmarkt. Wenige Wochen später sprach das ganze Land über die Klima-Proteste der „Fridays For Future“-Bewegung. Der Rat der Stadt Münster beschloss das Ziel Klimaneutralität 2030. Inzwischen ist Carla Reemtsma eine der bekanntesten deutschen Klimaaktivistinnen. Geboren wurde sie in Berlin.

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