- Newsletter
- Kolumnen
- Kolumne von Carla Reemtsma
Die Kolumne von Carla Reemtsma | Ohne Druck geht es nicht

Liebe Leser:innen,
drei Wochen vor der Bundestagswahl gibt es kaum einen Lebensbereich, in dem man nicht auf die anstehende Wahl aufmerksam gemacht wird: In den Zeitungen und im Radio übertreffen sich die Politikjournalist:innen mit ihren täglichen Analysen zu den neuesten Umfrageergebnissen, am Aasee und Prinzipalmarkt sorgen die Wahlplakate für bunte Sprenkel, und zwischen den Marktständen versuchen eifrige Wahlkämpfer:innen die samstäglichen Marktgänger:innen in Gespräche zu verwickeln – oder zumindest Flyer, Kugelschreiber oder Traubenzucker an die potentiellen Wähler:innen zu verteilen.
Gerade im Internet und bei jungen Wähler:innen war der Wahlkampf bisher von Aufreger-Video-Schnipseln, polarisierenden Aussagen und persönlichen Angriffen auf die Kandidat:innen geprägt, wirkte inhaltsleer und uninspiriert.
Diese Ausgangslage führte dazu, dass das Triell der Kanzlerkandidat:innen, das vergangene Woche von RTL produziert und ausgestrahlt wurde, von den Hauptstadtjournalist:innen als „Triell der Inhalte“, „politisch spannend“ und „auf den Punkt“ beschrieben wurde.
Mit jeweils knapp einer Woche Abstand zum vergangenen und zum kommenden, von den Öffentlich-Rechtlichen produzierten Triell, kann man eher den Eindruck bekommen, dass die positiven Kommentare vor allem ein Produkt der – aufgrund des unterirdischen Vorwahlkampfes – maximal niedrig angelegten Erwartungen war.
Skurrile Mischung an Behauptungen
Während die Kandidat:innen von persönlichen Angriffen auf ihre Kontrahent:innen absahen, wurde vor allem Kritik – und an der ein oder anderen Stelle auch Eigenlob – an der aktuellen Politik geübt. Dass zwei von drei Diskutant:innen Teil der aktuellen Regierung sind, erschwerte das glaubhafte Vermitteln eines Fortschrittsgedankens allerdings ungemein.
Wenn alle augenscheinlich dasselbe wollen – man denke an die Themen soziale Gerechtigkeit, Bildung, Digitalisierung und Klimaschutz –, aber partout kein gutes Haar an ihren Mitstreiter:innen lassen wollen, kommt diese skurrile Mischung aus Behauptungen, Buzzwords und Blödeleien bei gleichzeitigem Harmoniebedürfnis heraus.
Die Eindämmung der Klimakrise war (mit der obligatorischen Frage nach der Nutzung gendergerechter Sprache in öffentlichen Einrichtungen) das Thema, bei dem die Diskutant:innen sich am vehementesten widersprochen haben. Während die Ideen der Grünen Olaf Scholz nicht sozial genug und Armin Laschet zu wenig wirtschaftsorientiert sind, finden Annalena Baerbock und Olaf Scholz Armin Laschet unglaubwürdig. Die Debatte war exemplarisch für den aktuellen Diskurs rund ums Klima (und auch andere, grundsätzlich bei allen beliebte Themen wie soziale Gerechtigkeit): Anstatt über die offensichtlichen Zielkonflikte zwischen den einzelnen Parteien sowie zwischen den Parteien, wissenschaftlichen Expert:innen und Bürger:innen zu sprechen, wird der Eindruck vermittelt, dass alle dasselbe erreichen wollten, und sich nun nur noch über das „Wie?“ gestritten werden müsste.
Entscheidender Punkt fällt hinten rüber
Dabei ist offensichtlich, dass es zwischen den Parteien Unterschiede gibt: Keines der Programme enthält ausreichende Maßnahmen, um die 1,5-Grad-Grenze einzuhalten; jedoch planen die Grünen beispielsweise mit Klimaneutralität ab 2040, wohingegen Union und SPD am regierungseigenen Klimaneutralitätsziel 2045 festhalten.
Dieser entscheidende Punkt fällt in der Debatte über Tempolimits, Windräder und Lastenräder oft hinten rüber, da schließlich alle Parteien behaupten, konsequenten Klimaschutz zu machen. Kaum anders sieht es aus, wenn man die konkreten Maßnahmen betrachtet: Trotz Blockadehaltung zu jeglicher ordnungsrechtlichen Vorgabe (etwa Tempolimit), jedem Verbot (etwa Verbrennerverbot), Förderprogrammen (etwa bei Lastenrädern und ÖPNV-Tickets) und marktwirtschaftlichen Maßnahmen (etwa dem CO2-Preis) kann sich ein Armin Laschet am Ende der Debatte hinstellen und behaupten, er würde Klimaschutz ernsthaft vorantreiben wollen.
Eine Überprüfung der von ihm vorgeschlagenen Maßnahmen – vor allem das Vertrauen auf technologische Innovation – auf die möglichen Emissionseinsparungen bleibt aus oder mindestens den informierten Zuschauer:innen überlassen.
Ein ähnliches Bild ergeben regelmäßig Debatten zu sozialer Gerechtigkeit: Obwohl sich insbesondere im Bereich des Steuersystems genauestens durchrechnen lässt, welchen Effekt welches Wahlprogramm auf Menschen mit kleinen oder großen Einkommen hat, können sich die Vertreter:innen von FDP und CDU (deren Programme vor allem einkommens- und vermögensstarke Menschen privilegieren würden) oft recht unwidersprochen als Vorkämpfer:innen für soziale Gerechtigkeit inszenieren.
Ohne Einordnung wird’s schwer
Gleichzeitig sind es ja nicht nur die Differenzen zwischen den Parteien, sondern auch zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen und Politik, die im Diskurs insbesondere in Wahlkampfzeiten schnell ausgeblendet werden. In kaum einem Interview müssen sich Politiker:innen dafür rechtfertigen, dass ihre „Klimaschutzprogramme“ nicht für die Einhaltung der 1,5-Grad-Grenze ausreichen.
Auch bei den Fragen nach erfolgreicher Bekämpfung von Rechtsextremismus, Digitalisierung oder Bildungsgerechtigkeit sind es selten die Empfehlungen von Expert:innen, die als Maßstab herangezogen werden, sondern immer nur das, was der:die ambitionierteste Politiker:in vorschlägt.
Kurz vor der Wahl ist es nur logisch, dass Vertreter:innen möglichst vieler Parteien Platz finden müssen in den Talk-, Interview- und Nachrichtenformaten, um den Wähler:innen eine informierte Meinungsbildung zu vereinfachen. Wenn aber einordnende Stimmen fehlen, wird diese Meinungsbildung erheblich erschwert. Es bleibt zwar für die Leser:innen, Hörer:innen und Zuschauer:innen weiter möglich, auf Basis der Diskussion die Parteien miteinander zu vergleichen, lässt aber relevante Aspekte der Diskussion einfach aus. Diese Mechanismen führen die Debatten ad absurdum.
Wozu es führt, wenn nur bereits etablierte Gruppen an politischen Diskussionen teilnehmen können, haben Frauen genauso wie BIPoC (Black, Indigenious and People of Color) erlebt, die bevor sie politische Forderungen stellen konnten, sich zunächst den Raum erkämpfen mussten, um in politischen Institutionen wirken zu können. Natürlich sind Proteste für Gleichberechtigung nicht einfach vergleichbar mit Debatten um Klima und soziale Gerechtigkeit. Der Mechanismus, der sich einstellt, wenn nur etablierte parteipolitische Positionen in der Debatte vertreten sind, ist allerdings ein ähnlicher.
Es braucht gesellschaftlichen Rückhalt
Doch was tun, schließlich leben wir doch in einer Parteiendemokratie? Debatten finden – auch wenn es manchmal so wirkt – ja nicht in einem luftleeren Raum statt. Sie werden geführt für die Gesellschaft und leben von der Diskussion mit dieser und in ihr. Was gesellschaftlich diskutiert wird, wird früher oder später auch bei den Podiumsdiskussionen auf den Bühnen dieses Landes besprochen werden müssen.
Deswegen braucht es informierte, kritische Journalist:innen und Moderator:innen genauso wie ein fragelustiges Publikum und eine aktive Zivilgesellschaft, die die brennenden Themen nicht nur in Meinungsumfragen ankreuzt, sondern auf die Straßen, in die Wahlkreisbüros, Gewerkschaftszentralen und Schulen dieses Landes trägt.
Deswegen streikt Fridays For Future am 24. September, zwei Tage vor der Bundestagswahl, auch wieder fürs Klima. Denn es ist klar: Ohne gesellschaftlichen Druck, ohne das außerparlamentarische Korrektiv, wird die Eindämmung der Klimakrise nicht gelingen. Dafür reicht weder ein Kanzlerkandidat:innen-Triell noch das eine Kreuz auf dem Wahlzettel. Dafür braucht es einen gesellschaftlichen Rückhalt für Klimaschutz, der sich in politische Handlungsbereitschaft übersetzen lässt.
Dazwischen liegen natürlich noch einige Schritte. Die nächste Politikdebatte wird ein kleiner sein, genauso wie der Klimastreik und die Bundestagswahl. Ich hoffe, Sie sind mit dabei.
Ich wünsche Ihnen einen schönen Sonntag
Ihre Carla Reemtsma

Carla Reemtsma
Im Januar 2019 hat Carla Reemtsma den ersten Klimastreik in Münster organisiert. Es war eine kleine Kundgebung im Nieselregeln vor dem historischen Rathaus am Prinzipalmarkt. Wenige Wochen später sprach das ganze Land über die Klima-Proteste der „Fridays For Future“-Bewegung. Der Rat der Stadt Münster beschloss das Ziel Klimaneutralität 2030. Inzwischen ist Carla Reemtsma eine der bekanntesten deutschen Klimaaktivistinnen. Geboren wurde sie in Berlin.
Die Kolumne
Immer sonntags schicken wir Ihnen eine Kolumne. Das sind Texte, in denen unsere acht Kolumnistinnen und Kolumnisten Themen analysieren, bewerten und kommentieren. Die Texte geben ihre eigene Meinung wieder, nicht die der Redaktion. Mitgliedschaften in politischen Parteien oder Organisationen machen wir transparent. Wenn Sie zu den Themen der Kolumnen andere Meinungen haben, schreiben Sie uns gern. Wenn Sie möchten, veröffentlichen wir Ihre Zuschrift im RUMS-Brief. Wenn Sie in unseren Texten Fehler finden, freuen wir uns über Hinweise. Die Korrekturen veröffentlichen wir ebenfalls im RUMS-Brief.
Ihnen gefällt dieser Beitrag?
Wir haben Ihnen diesen Artikel kostenlos freigeschaltet. Doch das ist nur eine Ausnahme. Denn RUMS ist normalerweise kostenpflichtig (warum, lesen Sie hier).
Mit einem Abo bekommen Sie:
- 2x pro Woche unsere Briefe per E-Mail, dazu sonntags eine Kolumne von wechselnden Autor:innen
- vollen Zugriff auf alle Beiträge, Reportagen und Briefe auf der Website
- Zeit, sich alles in Ruhe anzuschauen: Die ersten 6 Monate zahlen Sie nur einen Euro.
Wir freuen uns sehr, wenn wir Sie ab heute in der RUMS-Community begrüßen dürfen!