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Die Kolumne von Juliane Ritter | Zeit zum Umdenken
Guten Tag,
die Pflege streikt.
Und das während einer Pandemie. Darf das denn sein?
Diese Frage wurde Pflegenden in diesen Wochen immer wieder gestellt.
Hunderte Pflegekräfte und andere Beschäftigte des Landes ziehen derzeit in vielen Städten auf die Straßen, um sich für ihre Belange einzusetzen. Auch meine Kolleg:innen und ich haben für eine bessere Vergütung unsere Stimmen eingesetzt, ob im Streik oder nur solidarisch.
Derzeit laufen die Verhandlungen der Tarifrunde der Länder. Das bedeutet, unsere Gehälter werden neu verhandelt. Den Zeitpunkt haben wir uns nicht ausgesucht. Der Tarifvertrag ist ausgelaufen. Daher die Verhandlungen.
Die Frage ist damit nicht: Warum jetzt? Sie lautet eher: Warum streikt die Pflege, wenn sie doch eigentlich die Versorgung der Gesellschaft sicherstellen müsste? Darf die Pflege streiken, während andere Shoppen gehen und in den Urlaub fliegen?
Meine Meinung ist: Sie darf. Denn warum sollte ein kontrollierter Streik, bei dem wir selbst in Absprache mit Klinikvorständen die Bedingungen festlegen, mehr Schaden anrichten als die Tatsache, dass ständig Dienste nicht besetzt werden können? Warum sollten Pflegekräfte auf die Chance eines fairen Gehaltes verzichten, nur weil sie sich nicht den Flughafen als Arbeitsplatz ausgesucht haben, sondern das Krankenhaus.
Es ist ja nicht so, als würde man am Streiktag alles liegen lassen und vor der Klinik demonstrieren, während drinnen die Menschen sterben.
Nicht die Streiks gefährden die Versorgung
Meine Kolleg:innen und ich sind sauer, wenn wir Schlagzeilen wie diese lesen: „Uniklinik Essen warnt: Streik gefährdet die Patienten massiv.“
In solchen Artikeln fällt immer wieder eines unter den Tisch: Nicht Streiks gefährden Patient:innen, sondern die Normalbesetzung. Im Alltag verlassen Kliniken sich auf unsere Gutmütigkeit und unser ausgeprägtes Verantwortungsbewusstsein, indem sie lange im Voraus mit unserer Freizeit kalkulieren. Sie planen damit, dass wir einspringen werden, um Lücken zu füllen. Sie planen damit, dass wir länger bleiben werden, dass wir aus dem Urlaub zurückkommen, um für unsere Patient:innen da zu sein, die am Pflegenotstand ebenso wenig Schuld tragen wie wir.
Die Chefetagen segnen Dienstpläne mit Hunderten Lücken ab. Sie nehmen sogenannte Schaukeldienste in Kauf. Das bedeutet: Nach dem Frühdienst geht es ohne Pause direkt mit dem Spätdienst weiter oder umgekehrt. Unsere Hilferufe und Gefährdungsanzeigen werden seit Jahren systematisch ignoriert.
Viele Pflegende berichten, und ich kann das nur bestätigen: Während des Streiks mit selbst festgelegten Regeln ist die Versorgung besser als in manch einem geplanten Dienst.
Wieso streiken wir also, wenn wir sowieso schon zu wenige sind? Es gibt verschiedene Konzepte. In Münster läuft es derzeit so, dass Betten sowie Stationsschließungen angemeldet werden. Dafür reduziert man planbare Operationen und Termine vor und am Streiktag, um so möglichst vielen Kolleg:innen das Grundrecht zum Streik zu gewähren.
Notfälle, Covidpatient:innen, Krebspatient:innen und Kinder betrifft das nicht. Während des Streiks gibt es einen direkten Draht zwischen Vorstand und Gewerkschaft. So können, falls nötig, Kolleg:innen direkt in den Dienst zurückkehren.
Die Zeitung Die Welt schreibt: Streiks an Unikliniken? „Das zeugt nicht von Nächstenliebe für die Patienten“
Versteht mich nicht falsch – Patient:innen und Pflegekräfte haben häufig ein besonderes Verhältnis. Wir verbringen sehr viel Zeit miteinander, oft sind es intime Momente. Wir erleben Hochzeiten am Krankenhausbett, wir hören uns Lebensgeschichten und Geheimnisse an. Ich bin gern für meine Patient:innen da. Nächstenliebe ist Teil meiner Arbeit, aber nicht Teil meiner Berufsbeschreibung. Man kann sich nicht auf Nächstenliebe berufen, während die Belastung uns zeitgleich in den Burnout treibt.
Als Dankeschön für Ihre Unterstützung: Journalistisches Arbeiten mit Jugendlichen
Im Juni 2021 haben wir mit Ihrer Hilfe ein wichtiges Etappenziel erreicht, um unser Angebot aufrechterhalten und im besten Fall weiterentwickeln zu können: 1.750 RUMS-Abonnent:innen.
Als Dank für Ihre Hilfe hatten wir Ihnen versprochen, einen ganztägigen Medien-Workshop für eine Jugendeinrichtung zu veranstalten.
Dieses Versprechen haben wir nun – wegen der Corona-Pandemie etwas später, als es eigentlich geplant war – eingelöst. Anfang November waren wir im Jugendzentrum Black Bull in Münster-Amelsbüren zu Gast. Mit dabei waren unser Redaktionsleiter Ralf Heimann, unser Mitgründer Marc-Stefan Andres und unser Fotograf und Bildredakteur Nikolaus Urban. Sie haben sich gemeinsam mit den Jugendlichen an die Grundregeln des journalistischen Arbeitens herangetastet und erste Themen mit ihnen zusammen entwickelt.
Das nächste Etappenziel liegt schon in greifbarer Nähe!
Wir kratzen bereits an der Marke von 2.000 Abonnent:innen. Helfen Sie also noch einmal mit und empfehlen Sie uns weiter! Das ist ganz einfach. Wenn Sie einen Brief besonders interessant finden, leiten Sie ihn weiter.
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Ich habe mich nicht verpflichtet, Nächstenliebe über mein eigenes Wohl zu stellen. Wenn meine Kolleg:innen und ich ausgebrannt sind, bleibt uns nichts mehr, mit dem wir unsere Patient:innen versorgen können.
Im Flugzeug soll man zuerst sich selbst und dann hilfebedürftigen Menschen die Sauerstoffmaske aufsetzen. Genau so sehe ich das auch: Wir brauchen steigende Löhne und vor allem verbesserte Arbeitsbedingungen, sonst werden wir ersticken, während wir versuchen, unseren Patient:innen zu helfen.
Die Anerkennung, die unsere Gesellschaft für uns übrig hat, ist erschreckend schwankend. Vor Corona waren wir da, aber eigentlich war das, was wir machen, doch ein bisschen eklig. Ich hörte oft Sätze wie: „Oh wow, also ich könnte das ja nicht.“
Mit Corona stieg das Interesse an meiner Berufsgruppe ins gefühlt Unermessliche. Jetzt kamen andere Fragen: „Wie ist das denn so im Krankenhaus?“ – „Hast du schon mal einen Toten gesehen?“ – „Ist es wirklich so schlimm? Oder übertreiben die im Fernsehen?“
Wir wurden zu Held:innen gemacht, gefeiert von den Balkonen. In der medialen Berichterstattung ging es nur noch um die Versorgung von Covidpatient:innen. Im Sommer, als Corona schon fast in Vergessenheit geraten war, wurden wir wieder irrelevant. Versprechungen der Politik waren vergessen. Dabei spitzte sich die Situation im Alltag zu. Immer mehr Kolleg:innen entschieden sich, zu gehen.
Warum kamen die Testangebote so spät?
Immer wieder war von einem Bonus die Rede. Man hat ihn uns oft versprochen. Meine Kolleg:innen und ich haben davon bis heute nichts gesehen. Und Testungen? Gab es für uns anfänglich nicht. Wir musste ansehen, wie um uns herum Menschen getestet wurden. Fürs Shoppen, für den Urlaub, für das Büro, gefühlt für alles Mögliche.
Meinen Kolleg:innen und mir wurden Dinge gesagt wie: „Wenn es nur leichte Erkältungssymptome sind, arbeiten Sie halt mit einer FFP2-Maske. Ansonsten legen sie sich für zwei, drei Tage ins Bett und kommen dann wieder.“
Wir haben Begriffe gelernt wie Arbeitsquarantäne. Das bedeutet: Menschen, die sich eigentlich in häusliche Quarantäne begeben müssten, dürfen in Ausnahmefällen doch zur Arbeit kommen – weil sonst alles zusammenbrechen würde.
Ob wir überhaupt bereit waren, uns dieser Gefahr auszusetzen, oder ob es in unserem Haushalt Risikopatient:innen gab, das hat niemand gefragt. Wir mussten Urlaube abbrechen. Wir wurden zurück in den Dienst gerufen.
Mittlerweile bekommen auch wir regelmäßige Testangebote. Warum, frage ich mich, hat man damit so lange gewartet? Ich kann nur vermuten, dass man die hohen Kosten und einen Kollaps des bekanntermaßen instabilen Gesundheitssystems vermeiden wollte. Verständlich. Aber auch auf Kosten unserer Gesundheit.
Nun wird eine Impfpflicht für Pflegende und Ärzt:innen diskutiert. Ich bin mittlerweile dreifach geimpft und habe Schwierigkeiten, einige der Argumente gegen eine Impfung ernst zu nehmen. Doch es gibt Kolleg:innen mit Vorerkrankungen oder schlichtweg Angst.
Wir sprechen über die Verantwortung gegenüber gefährdeten Bevölkerungsgruppen. Doch nirgendwo wird die Verantwortung der Gesellschaft uns gegenüber erwähnt. Ich behandle immer wieder ungeimpfte Patient:innen, werde immer wieder in Diskussionen verwickelt, des Betrugs beschuldigt und belogen, wenn es um Testergebnisse geht. Meine Kollegin ist bespuckt und geschlagen worden, weil sie sich an die Regeln halten wollte – zu ihrem eigenen Schutz. Konsequenzen gab es keine.
Es ist Zeit umzudenken
Wir sind also die Held:innen der Nation, massiv unterbezahlt, immer wieder selbst schutzlos gegen Corona, und nun gemeinsam mit Ärzt:innen als einzige körpernahe Berufsgruppen für die Impfpflicht vorgesehen. Was ist mit der Verantwortung der Gesellschaft?
Auch an anderer Stelle bemühen sich Wirtschaft und Politik seit Jahren, auf jegliche Gesundheitsförderung für mich und meine Berufsgruppe zu verzichten. Leicht zugängliche Fitnessangebote wie Rückenschule? Fehlanzeige. Psychosoziale Unterstützung für tagtägliche traumatisierende Situationen? Gibt es bei der Feuerwehr und der Polizei. Doch bei uns heißt es: „Weiter geht’s. Du hast dir den Job ja selbst ausgesucht.“
Es ist für die Gesellschaft und die Politik Zeit umzudenken, wenn es um die Pflege geht. Auch wir selbst müssen lernen umzudenken. Wir sind der Kleber, der dieses Gesundheitssystem zusammenhält. Doch der Kleber droht sich aufzulösen. Wir können und wir wollen auch nicht mehr. Neulich sagte eine Kollegin zu mir: „Wir sind doch nicht der Fußabtreter der Nation!“
Inzwischen beginnt die Pflege, sich zu wehren. Pflegekräfte streiken in der gesamten Bundesrepublik. Und es zeigen sich erste Erfolge, auch wenn der Kampf jedes Mal wieder hart ist. Immer wieder fallen Medien und die Politik uns in den Rücken. So empfinden wir es. Eine Reform des Systems, so wie es nötig wäre, ist ein teures Bestreben. Doch es ist unvermeidlich.
Wir streiken für steigende Gehälter, für bessere Arbeitsbedingungen, für mehr Personal und für spürbare Entlastung. Nicht nur für uns, sondern um unsere Patient:innen gut und menschlich versorgen zu können. Und das sind Ihre Freunde, Ihre Eltern, Ihre Kinder und vielleicht auch Sie selbst.
Alles, was wir dafür verlangen, ist Solidarität.
Herzliche Grüße
Ihre Juliane Ritter
Juliane Ritter (Name geändert)
… arbeitet als Pflegekraft in einem Krankenhaus in Münster. Sie schreibt in dieser Kolumne darüber, warum sie ihren Beruf liebt. Und darüber, wo es hakt und was in der Pflege besser laufen müsste – grundsätzlich und in Münster. Juliane Ritter ist nicht ihr richtiger Name. Sie schreibt unter einem Pseudonym, damit sie frei über Schwierigkeiten und Missstände erzählen kann.
Die Kolumne
Immer sonntags schicken wir Ihnen eine Kolumne. Das sind Texte, in denen unsere acht Kolumnistinnen und Kolumnisten Themen analysieren, bewerten und kommentieren. Die Texte geben ihre eigene Meinung wieder, nicht die der Redaktion. Mitgliedschaften in politischen Parteien oder Organisationen machen wir transparent. Wenn Sie zu den Themen der Kolumnen andere Meinungen haben, schreiben Sie uns gern. Wenn Sie möchten, veröffentlichen wir Ihre Zuschrift im RUMS-Brief. Wenn Sie in unseren Texten Fehler finden, freuen wir uns über Hinweise. Die Korrekturen veröffentlichen wir ebenfalls im RUMS-Brief.
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