Die Kolumne von Juliane Ritter | Warum der Pflegeberuf so schön ist – und so schwer

Porträt von Juliane Ritter
Mit Juliane Ritter (Name geändert)

Guten Tag,

das erste Mal, dass man ein Leben rettet, vergisst man so schnell nicht. Wenn das Wissen und die Fertigkeiten, die man über Jahre gelernt und antrainiert hat, einen echten Unterschied im Leben eines fremden Menschen machen. Eine Patientin hört wenige Tage nach einer großen Operation plötzlich auf zu atmen. Ihr Herz schlägt also nicht mehr. Ich bin direkt zur Stelle, alarmiere meine Kolleginnen. Wir leiten Maßnahmen ein, reanimieren, übernehmen die Atmung der Patientin, verabreichen Sauerstoff sowie Medikamente, erkennen die Ursache für den Herzstillstand, können ihn beheben und so dafür sorgen, dass sie nach wenigen Tagen wieder lächelt und mit uns spricht. Ich muss sagen: Das gibt ein tolles Gefühl.

Ebenso bleiben die Momente, in denen man einfach ein von Herzen kommendes Danke hört, weil man mit einer alltäglichen, kleinen Tätigkeit einer Person helfen konnte. Selbst in emotionalen und schwierigen Zeiten, wenn man Menschen in ihrem dunkelsten Moment beisteht und eine besondere Verbindung aufbaut, weiß man, dass der eigene Beruf der schönste sein muss.

Diese Erfahrungen halfen mir lange Zeit, meinen Beruf auszuüben.

Doch all das Schöne kann die zunehmenden negativen Seiten kaum noch aufwiegen.

Ich liebe meinen Beruf. Aber ich bereue es, ihn gewählt zu haben.

Ich bin Gesundheits- und Krankenpflegerin seit über zehn Jahren. Der Beruf war nie mein Wunsch. Vielmehr war die Wahl ein Zufall. Der Krankenhausaufenthalt und Tod eines mir nahestehenden Menschen zeigte mir erstmals, was es bedeutet, im Sterben zu liegen, Hilfe zu benötigen und diese von herzlichen und professionellen Menschen zu erfahren. Das beeindruckte mich sehr, und ich wählte den Berufsweg für mich.

Mein Umfeld zeigte sich begeistert, der Beruf sei so wichtig und wertvoll. Viele könnten es nicht, hieß es immer wieder. Doch keiner erwähnte, dass der Beruf wenig Zukunft hat. Im Gegenteil, kaum ein Beruf erscheint uns doch wichtiger und unersetzbarer. Kranke Menschen wird es doch immer geben, und somit auch immer den Bedarf für Pflege.

Nach der Ausbildung arbeitete ich in verschiedenen Bereichen und begann, mir mein eigenes Bild zu machen. Viele Jahre lang war ich damit beschäftigt, die Erfahrungen zu sammeln, die mir meine heutige Sicht geben würden.

Ich lernte alle wunderschönen Seiten kennen, aber auch die Schattenseiten.

Ich liebe meinen Beruf. Aber ich bereue es, ihn gewählt zu haben.

Ein System, das schwachen und kranken Menschen Hilfe verwehrt, ist krank.

Immer mehr Verantwortung

Auf Pflegekräften lasten ein stetig steigender Leistungsdruck und immer mehr Verantwortung. Die Zahl der Patient:innen steigt. Das heißt, ich habe es mit sehr viel mehr Menschen zu tun als noch vor ein paar Jahren. Das liegt an der älter werdenden Bevölkerung, aber auch an finanziellen Fehlanreizen für Klinikleitungen, die gezwungen sind, Gewinne zu erwirtschaften, und deshalb unter anderem Personalkosten sparen wollen.

Wir Pflegekräfte müssen mehr und mehr Patient:innen versorgen, und die zaghaften Versuche der Politik, dies zu deckeln, gingen teilweise nach hinten los. Die Versorgung der Menschen in den Krankenhäusern leidet darunter. Wir müssen priorisieren. Wir müssen entscheiden: Wem helfe ich jetzt als Erstes?

Ich habe erlebt, wie Pfleger:innen gingen und ihre Stellen nicht nachbesetzt wurden. In Deutschland fehlen etwa 200.000 Pflegekräfte. Die Kliniken finden kein Personal. Die Arbeitslast steigt. Andere müssen die Arbeit übernehmen. Sie arbeiten schneller und länger. Denn die Alternative ist, dass Patient:innen unter Schmerzen leiden, in ihren Ausscheidungen liegen müssen, wunde Stellen bekommen oder lebenswichtige Medikamente zu spät erhalten, manchmal gar nicht. Die Grundbedürfnisse von kranken Menschen sind nicht planbar, und sie können selten warten.

Oft denke ich an Dienste zurück, in denen ich an meine Grenzen kam. Ich arbeitete auf einer Pflegestation und musste 13 Patient:innen versorgen. Ich weiß, dass ich mit dieser Zahl noch Glück hatte, denn vielerorts ist das wenig.

Keine Zeit, zu essen oder zur Toilette zu gehen

Ich erinnere mich an Tage, an denen ich keine Zeit fand, meine Patient:innen kennenzulernen, weil mich immer wieder irgendwer mit der Klingel rief. Eine Frau meldete sich mit stärksten Schmerzen, ihre Nachbarin kam mit dem Fernseher nicht zurecht. Im nächsten Zimmer stand die Tür offen, und eine alte Dame stand zittrig mitten im Raum. Ihre Demenzerkrankung machte es ihr unmöglich, um Hilfe zu bitten, wenn sie sich eingenässt hatte. Ich musste sofort helfen, sonst wäre sie gestürzt.

Ich wusch sie, half ihr in trockene Wäsche und redete ihr gut zu, dann legte sie sich wieder hin. Angekommen bei der nächsten Klingel, war der Verband eines Mannes durchgeblutet, schon wieder. Er durfte nicht noch mehr Blut verlieren. Ja, ihm sei auch schwindelig, sagte er. Ich probierte es mit dem Druckverband, erfolglos. Ich stellte einen zu niedrigen Blutdruck fest und verständigte eine Ärztin. Sie sagte, sie werde kommen, wenn sie mit einem anderen Notfall auf der Intensivstation fertig sei.

Auf dem Flur in Richtung Pflegezimmer hielt mich eine Angehörige auf. Sie wollte wissen, warum ihr Vater gleich mehrere Antibiotika bekam. Ich bat sie zu warten, das wollte sie nicht, also erklärte ich es ihr.

Währenddessen klingelten meine Telefone, beide, vier Mal. Eine Patientin musste in den Operationssaal gebracht werden, ein Patient aus dem Aufwachraum abgeholt werden. Das ging nur, wenn meine Kollegin meine Patient:innen im Blick behielt. Doch sie war noch mit einem anderen Menschen beschäftigt. Er lag im Sterben.

Dann kam eine Information aus dem Labor. Der Mann mit der Blutung habe einen sehr niedrigen Hämoglobinwert. Eine Ärztin müsse sich das ansehen. Wahrscheinlich brauchte er Blutkonserven, wahrscheinlich musste er wieder in den Operationssaal.

Kurz bevor ich am Pflegezimmer ankam, hörte ich einen Rums. Die ältere Dame auf Zimmer 2 war aus dem Bett gestiegen und gefallen. Ich ertastete eine Beule an ihrem Hinterkopf. Das bedeutete: Die Ärztin würde sie untersuchen müssen, wahrscheinlich käme dann eine Computertomografie, und ich würde alles dokumentieren. Ich rief mit der Notfallklingel meine Kollegin dazu. Wir beförderten die Dame zurück ins Bett.

Das Bett schob ich auf den Flur – in dem Wissen, dass dies ihr Delir verschlimmern würde, aber anders konnten wir die Dame nicht im Blick behalten. Plötzlich lag mein Patient aus dem Aufwachraum auf dem Flur. Man hatte ihn gebracht, da ich es nicht geschafft hatte, ihn zu holen, und der Platz im Aufwachraum eng wurde. Der Patient klagte über Schmerzen und Übelkeit. Er übergab sich auf seine Bettwäsche. Das Telefon klingelte erneut. Ein Patient, der gegen meinen Rat darauf bestanden hatte, kurz nach seiner Operation rauchen zu gehen, war in der Raucherecke kollabiert. Ich sollte kommen.

Zu diesem Zeitpunkt waren erst zwei Stunden vergangen, von insgesamt acht, und noch immer hatte ich das Schmerzmittel für Zimmer 1 nicht vorbereitet. Ich hatte die die Blutung nicht gestillt. Ich hatte die Hälfte meiner Patient: innen noch nicht gesehen. Ich musste zur Toilette, ich hatte Durst, aber das alles musste warten. Etwas zu essen hatte ich nicht mitgebracht, da ich nun schon drei Tage in Folge mein Essen nach Feierabend wieder mit nach Hause genommen hatte.

Nachts erinnerte ich mich an Aufgaben, die ich tagsüber vergessen hatte

Obwohl ich mir viel Mühe gab, wurde ich doch nie fertig. Mir war klar, dass ich gewisse Dinge nicht schaffen würde. Manchmal war das die Dokumentation dessen, was ich gemacht hatte. Manchmal war es das Gespräch, das ich einer Patientin versprochen hatte, die sich einsam fühlte. Und manchmal waren es Fehler, die schwerer wogen. Dieser Zustand wurde Alltag, und die Freizeit schwand immer mehr.

Oft arbeiten wir zwölf Tage am Stück, ohne Unterbrechung. An Wochenenden wie an Feiertagen. Wir standen morgens um 5 Uhr auf oder kamen erst am Morgen um 7 Uhr nach Hause, um am nächsten Tag wieder zum Spätdienst zu fahren. Wenn ich nach dem Frühdienst zuhause ankam, schlief ich sofort ein.

Ich wachte mitten in der Nacht auf und erinnerte mich an Dinge, die ich tagsüber vergessen hatte. Manchmal kamen mir auf dem Weg zum Dienst die Tränen. Danach zog ich Bilanz. So hatte ich mir meinen Beruf nie vorgestellt. Und so konnte ich ihn nicht mehr ausüben.

Mittlerweile arbeite ich in einem anderen Bereich, doch gut ist es noch immer nicht.

Wir opfern unsere Freizeit und riskieren unsere Gesundheit

Meine Kolleg:innen und ich geben seit Jahren alles. Wir opfern unsere Freizeit um Dienste zu übernehmen. Tagtäglich klingeln unsere Telefone. Jemand sagt: „Kannst du kommen? Die Kollegen sind sonst allein, und du weißt ja, die Patienten.“ Wir riskieren unsere Gesundheit, indem wir schwere Patient:innen alleine heben. Es ist niemand da, der uns helfen könnte.

Auch die psychische Gesundheit leidet unter alldem, was man sieht, und was so nicht sein sollte. Es setzt einem zu, nicht helfen zu können, immer wieder. Einen Menschen alleine sterben lassen zu müssen, weil Personal fehlt und es nicht möglich ist, sich zu ihm zu setzen, das verarbeitet man schlecht, sehr schlecht. Zu erleben, wozu uns das auf den Profit ausgerichtete System zwingt, das hält man nicht lange aus. Und wenn man weiß, wie das System funktioniert, hat man Angst, in diesem System selbst zur Patient:in zu werden. Das sagen viele in meinem Beruf.

Je mehr wir geben, desto mehr wird von uns verlangt. Diese Abwärtsspirale scheint sich nicht durchbrechen zu lassen. Daher wählen immer mehr Pflegekräfte den Ausstieg, denn der Beruf erscheint perspektivlos. Ich kann das niemandem verübeln.

In dieser Kolumne werde ich erzählen, was diesen Beruf so schön macht, und warum es dennoch so schwer ist, ihn auszuüben. Ich werde über das sprechen, was von außen nicht zu sehen ist, aber zu sehen sein sollte. Und ich werde über das schreiben, was sich im Großen ändern müsste, und was sich im Kleinen ändern könnte.

Herzliche Grüße

Ihre

Juliane Ritter

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Porträt von Juliane Ritter

Juliane Ritter (Name geändert)

… arbeitet als Pflegekraft in einem Krankenhaus in Münster. Sie schreibt in dieser Kolumne darüber, warum sie ihren Beruf liebt. Und darüber, wo es hakt und was in der Pflege besser laufen müsste – grundsätzlich und in Münster. Juliane Ritter ist nicht ihr richtiger Name. Sie schreibt unter einem Pseudonym, damit sie frei über Schwierigkeiten und Missstände erzählen kann.

Die Kolumne

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