Die Kolumne von Juliane Ritter | Wir für euch, ihr für uns

Porträt von Juliane Ritter
Mit Juliane Ritter (Name geändert)

Guten Tag,

es sind nun sechs Wochen vergangen, seit meine Kolleg:innen der sechs Universitätskliniken Nordrhein-Westfalen mit der Bewegung ‚Notruf NRW‘ in die Offensive gegangen sind und Arbeitgeberverbänden ein Ultimatum gestellt haben: In 100 Tagen wollen wir verhandeln – oder wir treten in den Streik.

Noch 56 Tage verbleiben.

In diesen sechs Wochen haben sich Tausende Kolleg:innen zusammengeschlossen. Innerhalb der Kliniken bewegt sich etwas. Aktive Beschäftigte der verschiedensten Berufsgruppen ziehen zurzeit durch die Kliniken und sprechen mit ihren Kolleg:innen. Unser Plan wird so an immer mehr Beschäftigte herangetragen. Er findet wachsenden Zuspruch.

Fest steht, im Mai werden wir einen ‚Tarifvertrag Entlastung‘ erkämpfen, der genau das bringen soll: Entlastung durch zusätzliche Freizeit bei Unterschreitung der dann verhandelten Personalbesetzungen, um weiterer Personalflucht vorzubeugen und die Versorgungsqualität zu gewährleisten.

Eine Hürde bei der Vorbereitung dieser Bewegung ist es, die eigenen Kolleg:innen zu überzeugen. Vielen fehlt es an Kreativität, sich vorzustellen, wie es sein könnte, wenn sie selbst ihre Arbeitsbedingungen gestalten könnten.

Wie in vielen europäischen Ländern bereits gearbeitet wird, das scheint bei uns unerreichbar.

Die leere Versprechen

Utopisch erscheint ihnen eine Personalstärke, die es zulässt, dass man sich eine Pause nehmen kann. Utopisch erscheint es, dass die Zahl der Patient:innen so überschaubar ist, dass man jeden einzelnen Menschen gut versorgen kann und vielleicht sogar Zeit hat, den Menschen zuzuhören.

Wieder so arbeiten zu können, wie es uns vor Jahren beigebracht wurde, halten viele Pflegekräfte oft für ein Ding der Unmöglichkeit. Zu viele leere Versprechen haben sie in den vergangenen Jahren gehört. Zu lange erleben sie schon, dass sie für ihre harte Arbeit keine Anerkennung bekommen und ihre Bemühungen um bessere Arbeitsbedingungen fruchtlos bleiben.

Und doch gibt es sehr viele Kolleg:innen, die bereit sind, auf eine neue Art und Weise gemeinsam für ein besseres System zu kämpfen. Motivierend sind die Treffen, die regelmäßig stattfinden. Immer mehr Beschäftigte schließen sich zusammen, informieren sich gegenseitig und planen die nächsten Schritte.

In dieser Woche haben Beschäftigte der Unikliniken in Nordrhein-Westfalen zu sechs Stadtgesprächen eingeladen. Sie haben die Stadtgesellschaft sowie lokale Spitzenkandidat:innen der Parteien zur Solidarität und aktiven Unterstützung aufgefordert. In den offenen Videokonferenzen kamen Beschäftigte aus unterschiedlichsten Berufsgruppen sowie zahlreiche Auszubildende zu Wort.

Sie erzählten Geschichten aus ihren Arbeitsbereichen und stellten dar, warum nicht nur sie selbst von einer Bewegung wie dieser profitieren würden, sondern auch wie die Versorgung der Menschen Verbesserung bedarf.

Eine dieser alltäglichen Geschichten handelte zum Beispiel von einer Kollegin, die kurz nach der Ausbildung weinend im Schwesternzimmer saß und ihre Berufswahl verteufelte. Sie hatte ständig Angst, dass Patient:innen sterben.

Solidarität, Hilfe, Unterstützung

Eine Kollegin erzählte, wie sie sich praktisch zerreißen musste, um sich gleichzeitig um zwei Menschen kümmern zu können – einer bedrohlich krank und einer schwer verletzt. Gerecht werden konnte sie keinem der beiden.

Zwei Dinge hatten alle Geschichten gemeinsam: den Personalnotstand und eine Erzählerin, die ihren Beruf liebt und bereit ist, für ihn zu kämpfen.

Die Reaktionen waren eindeutig: Menschen sicherten ihre Solidarität zu, ihre Hilfe. Lokalpolitiker:innen der meisten Parteien versprachen ihre Unterstützung.

Und das ist wichtig, denn alleine geht es nicht. So sehr wir auch bereit sind, selbst für ein besseres System zu kämpfen, wir werden die Unterstützung derer brauchen, die eine Stimme haben. Bevölkerung und Politik. Ob es nun Plakate sind, die Menschen malen und an ihre Balkone hängen, ob es Gespräche sind, die Menschen sensibilisieren, oder Anrufe der Politiker:innen bei Arbeitgebern: Jede:r kann sich stark machen für dieses Anliegen.

Mitte dieses Monats übergeben wir eine Petition an die Arbeitgeber. Und wir arbeiten weiter an unseren Forderungen. Ob auf der Pflegestation, in der Küche oder im Labor: Als Expert:innen der eigenen Bereiche wissen die Kolleg:innen am besten, wo es mangelt und wie man diese Probleme beheben kann. Jede und jeder aktive Beschäftigte bekommt somit eine Stimme für den eigenen Bereich.

Sind dann alle Missstände erfasst und die passenden Forderungen zusammengetragen, verhandeln die Tarifkommission und die Gewerkschaft mit den Arbeitgebern – wenn diese dazu bereit sind. Wenn das Ultimatum am 1. Mai ausläuft, sind die Beschäftigten der sechs Unikliniken bereit, ihre Forderungen mittels Streiks durchzusetzen.

Wie verhandlungsfreudig die Arbeitgeberverbände sind, wird sich zeigen.

Wir bereiten uns weiter vor, zählen die Tage und zählen auf eure Unterstützung.

Wir für euch, ihr für uns.

Herzliche Grüße

Ihre Juliane Ritter

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Porträt von Juliane Ritter

Juliane Ritter (Name geändert)

… arbeitet als Pflegekraft in einem Krankenhaus in Münster. Sie schreibt in dieser Kolumne darüber, warum sie ihren Beruf liebt. Und darüber, wo es hakt und was in der Pflege besser laufen müsste – grundsätzlich und in Münster. Juliane Ritter ist nicht ihr richtiger Name. Sie schreibt unter einem Pseudonym, damit sie frei über Schwierigkeiten und Missstände erzählen kann.

Die Kolumne

Immer sonntags schicken wir Ihnen eine Kolumne. Das sind Texte, in denen unsere acht Kolumnistinnen und Kolumnisten Themen analysieren, bewerten und kommentieren. Die Texte geben ihre eigene Meinung wieder, nicht die der Redaktion. Mitgliedschaften in politischen Parteien oder Organisationen machen wir transparent. Wenn Sie zu den Themen der Kolumnen andere Meinungen haben, schreiben Sie uns gern. Wenn Sie möchten, veröffentlichen wir Ihre Zuschrift im RUMS-Brief. Wenn Sie in unseren Texten Fehler finden, freuen wir uns über Hinweise. Die Korrekturen veröffentlichen wir ebenfalls im RUMS-Brief.

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