- Newsletter
- Kolumnen
- Kolumne von Juliane Ritter (Name geändert)
Die Kolumne von Juliane Ritter | Wir bitten nicht mehr, wir fordern
Guten Tag,
während meiner Ausbildung und auch in den Jahren danach habe ich wenig über Gewerkschaften nachgedacht. Ich dachte mir, „die“ regeln das schon. Meine Gehälter wurden hier und da minimal aufgestockt, meist, nachdem ich eher nebenbei mitbekommen hatte, dass irgendwo gestreikt wurde. Beteiligt hatte ich mich nie daran. Wozu auch, dachte ich: „Die“ regeln das ja. Nun denke ich anders.
Seit 21 Tagen streiken wir jetzt. Wir, das sind Beschäftigte der sechs Unikliniken in NRW. Wir streiken für den Tarifvertrag Entlastung. Dieser soll in allen Bereichen Personalbemessungen regeln und einen Freizeitausgleich für Mitarbeiter:innen festlegen, wenn die Personaluntergrenzen mehrfach unterschritten werden oder andere belastende Situationen sich häufen.
Wir stehen nicht allein da
Am Streikposten kommen wir täglich zusammen und tauschen uns aus. Viele Kolleg:innen berichten von Situationen, die einem den Atem stocken lassen: Patient:innen, die Schaden genommen haben, weil auf ihrer Station zu wenig Pflegepersonal gearbeitet hat und in einem Notfall niemand zur Stelle war, und Kolleg:innen, die körperlich und emotional ausgelaugt sind. Dabei ist das leider für jeden von uns Alltag. Wir schöpfen Kraft aus den Berichten der anderen – denn wir stehen nicht allein da.
Wir lernen auch voneinander, dass wir dem Normalzustand, den wir jahrelang erduldet haben, gemeinsam den Kampf ansagen können.
Es ist ein anstrengender Weg. Denn wir hören von Kolleg:innen der Uniklinik Aachen, denen mit Kündigungen gedroht wird. Wir erfahren von den Zuständen in manchen Pflegeschulen, in denen Schüler:innen nach Herkunft in Lerngruppen eingeteilt werden. Und wir erleben, wie in Medienberichten die Berufsgruppe der Pflege immer wieder als die wichtigste herausgestellt wird. Aber die Arbeit im Krankenhaus ist Teamarbeit. Wir stärken einander den Rücken, denn eins haben wir schon vor Monaten beschlossen: Wir lassen uns nicht spalten. Wir lassen nicht zu, dass die Beschäftigten der verschiedenen Uniklinikstandorte oder Berufsgruppen gegeneinander ausgespielt werden.
Wir stehen zusammen und werden, gewerkschaftlich organisiert, eine menschenwohlorientierte Versorgung der Patient:innen und ein zukunftsfähiges Arbeitsumfeld für alle Beteiligten erwirken.
Doch genau das ist eigentlich ein Skandal. Es sollte nicht die Aufgabe von Beschäftigten und Gewerkschaften sein, eine gute Gesundheitsversorgung der Bevölkerung und die Sicherheit der Patient:innen zu erkämpfen. Doch die verantwortlichen Politiker:innen, Arbeitgeber:innen und Krankenhausvorständ:innen haben so lange tatenlos zugeschaut, dass wir nun gezwungen sind, es selbst in die Hand zu nehmen.
Ich erlebe derzeit eine Demokratisierung gewerkschaftlicher Arbeit, die ich nicht für möglich gehalten hätte. Wir erkämpfen uns bessere Arbeitsbedingungen. Forderungen wie „Personalaufbau und Entlastung“, die wir seit Jahren vergeblich an Politiker:innen gerichtet haben, setzen wir nun selbst durch.
Dabei lösen wir uns von dem, was die Verantwortlichen uns jahrelang gesagt haben: „Es gibt kein Personal, da kann man halt nichts machen.“
Denn das ist die größte Lüge der Politik gegenüber meiner Berufsgruppe. Es gibt keinen Personalmangel, sondern nur eine politisch erzeugte Personalflucht, raus aus einem Beruf, den kaum noch jemand unter diesen Arbeitsbedingungen ausüben möchte.
Wir haben es in der Hand
Für unsere gewerkschaftliche Arbeit haben wir Strukturen bis in die kleinsten Bereiche aufgebaut. Von der Küche über die Intensivstation bis zur Radiologie sind wir nun vernetzt. Teams haben ihre Vertreter:innen gewählt, und die wiederum einen Verhandlungsrat, in dem alle Berufsgruppen vertreten sind. Und die Expert:innen der jeweiligen Berufsgruppen werden nun die Tarifkommission in den Verhandlungen mit den Arbeitgebern unterstützen und ihr Fachwissen einbringen. Durch diese Organisation erfahren alle Beschäftigten schnell, wenn es etwas Neues gibt, damit sie Angeboten zustimmen oder diese ablehnen können. Die Gewerkschaft steht uns dabei stützend zur Seite, wir nutzen ihr rechtliches Fachwissen.
Das Ergebnis unserer Verhandlungen gestalten wir selbst. Und wir können auf das, was wir jetzt lernen, auch in zukünftigen Tarifauseinandersetzungen zurückgreifen. Die Basisbeteiligung, die in anderen Berufsgruppen und Gewerkschaften ganz selbstverständlich ist, lernen wir Krankenhausbeschäftigten gerade von Grund auf neu.
Sind wir zufrieden mit einem Angebot oder erkämpfen wir ein besseres? Wir haben es in der Hand. Seit Freitag sitzen meine Kolleg:innen und ich nun den Arbeitgebern gegenüber und verhandeln genau die Bedingungen, die wir für unseren Arbeitsalltag brauchen. Es geht nicht mehr darum, zu bitten: Wir fordern. Nicht nur für uns, sondern ebenso für unsere Patient:innen.
Wir sind viele, und wir werden gewinnen.
Herzliche Grüße
Juliane Ritter
Diese Kolumne teilen und RUMS weiterempfehlen
Juliane Ritter (Name geändert)
… arbeitet als Pflegekraft in einem Krankenhaus in Münster. Sie schreibt in dieser Kolumne darüber, warum sie ihren Beruf liebt. Und darüber, wo es hakt und was in der Pflege besser laufen müsste – grundsätzlich und in Münster. Juliane Ritter ist nicht ihr richtiger Name. Sie schreibt unter einem Pseudonym, damit sie frei über Schwierigkeiten und Missstände erzählen kann.
Die Kolumne
Immer sonntags schicken wir Ihnen eine Kolumne. Das sind Texte, in denen unsere acht Kolumnistinnen und Kolumnisten Themen analysieren, bewerten und kommentieren. Die Texte geben ihre eigene Meinung wieder, nicht die der Redaktion. Mitgliedschaften in politischen Parteien oder Organisationen machen wir transparent. Wenn Sie zu den Themen der Kolumnen andere Meinungen haben, schreiben Sie uns gern. Wenn Sie möchten, veröffentlichen wir Ihre Zuschrift im RUMS-Brief. Wenn Sie in unseren Texten Fehler finden, freuen wir uns über Hinweise. Die Korrekturen veröffentlichen wir ebenfalls im RUMS-Brief.
Ihnen gefällt dieser Beitrag?
Wir haben Ihnen diesen Artikel kostenlos freigeschaltet. Doch das ist nur eine Ausnahme. Denn RUMS ist normalerweise kostenpflichtig (warum, lesen Sie hier).
Mit einem Abo bekommen Sie:
- 2x pro Woche unsere Briefe per E-Mail, dazu sonntags eine Kolumne von wechselnden Autor:innen
- vollen Zugriff auf alle Beiträge, Reportagen und Briefe auf der Website
- Zeit, sich alles in Ruhe anzuschauen: Die ersten 6 Monate zahlen Sie nur einen Euro.
Wir freuen uns sehr, wenn wir Sie ab heute in der RUMS-Community begrüßen dürfen!
Sie möchten dieses Thema mit anderen Leser:innen diskutieren oder uns Hinweise geben
Nutzen Sie einfach unsere Kommentarfunktion unterhalb dieses Textes. Wenn Sie diese Kolumne gerade als E-Mail lesen, klicken Sie auf den folgenden Link, um den Text auf unserer Website aufzurufen:
diese Kolumne kommentieren