Die Kolumne von Roudy Ali | Das Ehrenamt ehrt Menschen

Porträt von Roudy Ali
Mit Roudy Ali

Guten Tag,

in meiner ersten deutschsprachigen Kolumne möchte ich mich Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, vorstellen. Mein Name ist Roudy Ali. Ich bin 26 Jahre alt, Kurdin und 2015 aus Afrin in Nordsyrien nach Deutschland geflohen. Ich habe einen achtjährigen Sohn, den ich allein großziehe, und lebe hier in Münster mit ihm und meinen beiden jüngeren Schwestern zusammen. In dieser Kolumne möchte ich Ihnen über eine Gruppe schreiben, die in der Öffentlichkeit und in den Medien meiner Meinung nach zu wenig wahrgenommen wird: Menschen, die wie ich eine Flucht- oder Migrationsvorgeschichte haben. Ich möchte Ihnen erzählen, wie die „neuen Münsteranerinnen und Münsteraner“ die Stadt und verschiedenste Aspekte des Zusammenlebens sehen.

Ich habe an der Katholischen Hochschule Soziale Arbeit studiert, inzwischen bin ich im zweiten Master-Semester im Studiengang Netzwerkmanagement. Neben meinem Studium arbeite ich als freie Journalistin, unter anderem bei der WDR-Lokalzeit Münsterland, und beleuchte mit meinen Beiträgen vielfältige gesellschaftliche Themen.

Die Verteidigung von Frauenrechten und der Chancengleichheit von Migrantinnen und Migranten ist meine Leidenschaft und ich fühle mich verpflichtet, dafür einzutreten. Deshalb engagiere ich mich neben meinem Studium und meiner Arbeit ehrenamtlich: Ich setze mich als Mitglied des Integrationsrats und als Mitglied des Ausschusses für Soziales und Wohnen der Stadt Münster für die Gleichstellungspolitik ein.

Ein neuer Anfang in Münster

Nach einer mühsamen 28-tägigen Flucht bin ich 2015 gut und sicher in Deutschland angekommen. Anfänge sind jedoch immer ungewiss, anstrengend und mit Herausforderungen behaftet, besonders wenn man bei einem Punkt auf der Minusskala anfängt. Eigentlich wollte ich mein Agraringenieurstudium, das ich in Syrien begonnen hatte, in Deutschland fortsetzen. Aber durch die neuen Umstände änderten sich auch meine Pläne. Während meines Aufenthalts in mehreren Unterkünften half ich ehrenamtlich anderen geflüchteten Menschen, indem ich für sie übersetzte und sie zu ihren Behördenterminen begleitete. So etwas wollte ich professionell und beruflich machen, sobald ich die deutsche Sprache beherrschte. Denn durch meine ehrenamtliche Tätigkeit in den Flüchtlingsunterkünften war mir bewusst geworden, dass meine Stärke darin liegt, Menschen zu helfen. Menschen verschiedener Kulturen und Nationalitäten kennenzulernen und die Möglichkeit, mit ihnen in ihrer Sprache zu kommunizieren, eröffnete mir Horizonte, die ich vorher nicht gesehen hatte. Die ehrenamtliche Arbeit mit Geflüchteten hat mich nicht nur menschlich sehr beeindruckt und geprägt, sondern auch mein Selbstbewusstsein, meine Aufgeschlossenheit und meine Toleranz erweitert.

Professionalität ist für das Ehrenamt ebenso wichtig wie meine eigenen Erfahrungen

Um möglichst viele Menschen in Münster zu erreichen, habe ich bei mehreren Organisationen wie der Arbeiterwohlfahrt, dem Arbeiter-Samariter-Bund, dem Sozialamt und dem Verein AFAQ Praktika absolviert oder ehrenamtlich mitgearbeitet. Später nutzte ich auch soziale Medien, um möglichst viele gewaltbetroffene Mädchen und junge Frauen zu unterstützen, die in meiner Heimat unter anderem von Zwangsheirat bedroht sind – ein Thema, welches mich auch selbst betraf. Für mich war es und ist es immer noch enorm wichtig, dass Hilfebedürftige in ihrer neuen Heimat Hilfsbereitschaft, Solidarität und Mitgefühl erfahren. Genauso wichtig war und ist es mir aber auch, ihnen den Wert der Selbsthilfe bewusst zu machen, um ihr Selbstvertrauen und ihre Eigenständigkeit zu stärken.

Als Frau of Color habe ich Flucht, Rassismus und Gewalt gegen Frauen selbst erfahren und erlebt. Deshalb weiß ich als Betroffene und durch mein Studium zugleich als Expertin, worunter diese Gruppe von Menschen leidet, und bin für viele eine wichtige Ansprechpartnerin. Menschen mit Migrationserfahrungen können die Dinge aus einem anderen Blickwinkel betrachten, was eine wichtige Ressource für das gesellschaftliche Zusammenleben ist. Gleichzeitig hat mir mein Studium dabei geholfen, Mitgefühl und fachliche Distanz auszubalancieren. Professionalität ist sehr wichtig für alle, die sich ehrenamtlich engagieren, nicht nur für traumatisierte Menschen, die zuvor gelitten haben und nun selbst anderen helfen möchten.

Wie Integration gelingen kann

Wenn Menschen in ein für sie neues Land kommen, müssen sie sich mit ihrer Integration in die Gesellschaft, die sie aufnimmt, auseinandersetzen. Es ist wichtig, dass sie sich gesellschaftlich beteiligen, und dafür ist ehrenamtliches Engagement eine gute Möglichkeit. Die Sensibilisierung für die eigenen Rechte und Pflichten sind für mich zentrale Themen. Die Integration ist meines Erachtens aber keine Assimilation, sondern ein wechselseitiger Vorgang. Denn Neuankömmlinge müssen sich nicht in den für sie neuen Gepflogenheiten auflösen und sich anpassen, um akzeptiert und berücksichtigt zu werden. Sie sollen sich in der neuen Heimat wohl, sicher und zugehörig fühlen. Aber um dieses Gefühl zu haben und aktive Mitglieder der Gesellschaft zu sein, müssen sie auch etwas tun. Der Schlüssel zu einer erfolgreichen Integration und eine relevante Bereicherung ist es, die Sprache zu lernen. Aber ich glaube, das reicht nicht. Partizipatives Ehrenamt eines Menschen ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für eine gelungene Integration und ein gesundes Selbstwertgefühl, unabhängig von der Herkunft und egal, ob mit oder ohne Migrationshintergrund.

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Ehrenamtliche Arbeit ist wichtig. Aber um politisch etwas zu erreichen, erschien sie mir nicht wirkungsvoll genug. Daher habe ich mich entschieden, mich um ein Mandat zu bemühen, um selbst etwas ändern zu können. Im Jahr 2020 trat ich als Kandidatin für den Integrationsrat an und wurde gewählt. Seitdem vertrete ich diesen als sachkundige Einwohnerin im kommunalen Ausschuss für Soziales, Wohnen und Verbraucherschutz. Ich engagiere mich also weiter ehrenamtlich, indem ich Menschen mit Migrationsvorgeschichte auf politischer Ebene vertrete, um ihr Recht auf Chancengleichheit zu verteidigen.

Durch ehrenamtliche Arbeit gewinnen alle

Mehr Menschen in Münster sollten sich ehrenamtlich in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen engagieren, nicht nur für Geflüchtete. Viele Menschen arbeiten aber nicht dauerhaft ehrenamtlich. Das hat verschiedene Gründe, unter anderem finanzielle. Viele konnten es sich gerade während der Coronapandemie nicht leisten, weil sie ihren Job verloren haben und einen neuen finden mussten. Andere engagieren sich nicht, weil das Ehrenamt von der Gesellschaft zu wenig wertgeschätzt wird. In vielen Beratungsgesprächen, die ich führe, frage ich auch nach freiwilligem Engagement. Bedauerlicherweise höre ich dann oft, dass ehrenamtliche Arbeit sich nicht lohnt, um beruflich weiterzukommen. Ich versuche dann, zu erklären, welche Bedeutung das Ehrenamt auch für das Bildungs- und Berufsleben hat. Darüber hinaus finde ich es für die Persönlichkeitsentwicklung wichtig, und Menschen lernen durch ein Ehrenamt neue soziale Kompetenzen und stärken ihre Kommunikationsfähigkeit. Nicht jeder Gewinn zeigt sich in Form von Geld. Wenn Menschen Freiwilligenarbeit leisten, geben sie etwas, ohne auf eine finanzielle Entschädigung zu warten. Stattdessen stärken sie andere, sich selbst und ihre Fähigkeiten.

Die Welt positiv verändern

Ich selbst habe für mein ehrenamtliches Engagement zwei schöne Auszeichnungen bekommen: den „Diana Award 2021“ und den „Legacy Award 2021“, die Prinzessin Dianas Bruder Lord Earl Charles Spencer und ihr Sohn Prinz Harry mir via Zoom verliehen haben. Mit dem Diana Award werden jedes Jahr junge Engagierte weltweit ausgezeichnet, die sich in besondere Weise für andere Menschen eingesetzt haben. Prinzessin Diana, nach der dieser Preis benannt ist, war davon überzeugt, dass junge Menschen die Welt durch das Ehrenamt positiv verändern können. Der Legacy Award wiederum wird alle zwei Jahre an 20 ausgewählte Gewinnerinnen und Gewinner des Diana Awards verliehen. Unter den zehn internationalen Preisträger:innen war ich die einzige aus Deutschland.

Ich werde weiterhin versuchen, auch andere Menschen zu einer ehrenamtlichen Tätigkeit zu motivieren. Und ich möchte für andere Menschen kämpfen, damit sie ihre Rechte selbst verteidigen können. Genau wie ich es getan habe.

Herzliche Grüße
Ihre Roudy Ali

Porträt von Roudy Ali

Roudy Ali

Die Kurdin Roudy Ali ist aus Syrien geflohen. In Münster hat sie Soziale Arbeit studiert und inzwischen den Masterstudiengang Netzwerkmanagement begonnen, neben ihrem Studium arbeitet sie als freie Journalistin. Für ihr ehrenamtliches Engagement ist sie mit dem renommierten Diana Legacy Award ausgezeichnet worden. In ihrer Kolumne wird sie über Themen schreiben, die die internationale Community in Münster bewegen.

Die Kolumne

Immer sonntags schicken wir Ihnen eine Kolumne. Das sind Texte, in denen unsere acht Kolumnistinnen und Kolumnisten Themen analysieren, bewerten und kommentieren. Die Texte geben ihre eigene Meinung wieder, nicht die der Redaktion. Mitgliedschaften in politischen Parteien oder Organisationen machen wir transparent. Wenn Sie zu den Themen der Kolumnen andere Meinungen haben, schreiben Sie uns gern. Wenn Sie möchten, veröffentlichen wir Ihre Zuschrift im RUMS-Brief. Wenn Sie in unseren Texten Fehler finden, freuen wir uns über Hinweise. Die Korrekturen veröffentlichen wir ebenfalls im RUMS-Brief.

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