Der Preußen-Brief von Carsten Schulte | Der Fußballgott

Portrait von Carsten Schulte
Mit Carsten Schulte

Guten Tag,

im vorherigen Preußen-Brief ging es um viele unbesungene Preußen-Helden der vergangenen Jahre. Und um solche, an die man sich kaum noch erinnert. Ganz nebenbei fiel darin auch der Name Simon Scherder, auf den nichts von beidem zutrifft und der gerade deswegen ganz elegant diesen Preußen-Brief einleitet und vollständig füllt.

Leider wird der Text am Ende nicht so fröhlich sein, wie er ursprünglich einmal klang. Denn fast über Nacht haben sich die Dinge verändert – und damit wird aus dieser Lobeshymne eher eine Aufmunterung. Der Spieler hat sich nämlich verletzt. Dazu gleich mehr.

Simon Scherder wurde schon oft besungen und die Nummer 15 wird ganz sicher im Gedächtnis bleiben. Er ist der amtierende Fußballgott. Das hat nichts mit Überhöhung zu tun, sondern ist eine ganz sachliche, rein faktenbasierte Aussage. Eine nüchterne, absolut objektiv messbare, nicht-emotionale Feststellung, an der zweifellos keinerlei Zweifel bestehen.

Und eben deshalb bietet es sich für diesen Preußen-Brief an, noch einmal ein paar Sätze ganz exklusiv an den mittlerweile 32-Jährigen zu richten. An Simon Scherder. Denn am vergangenen Samstag stand er plötzlich wieder in der Startelf, nachdem es zwischenzeitlich so wirkte, als sei er nun wieder außen vor. Aber man darf ihn eben niemals unterschätzen, diesen Mann aus Hörstel, dessen Haar langsam etwas schütter wird.

Alles begann mit einer Sekunde

Es war kurz nach dem Ende des 20. Jahrhunderts, als Scherder von Brukteria Dreierwalde, dem Klub aus dem pulsierenden Ortsteil der kleinen Stadt Hörstel zwischen Rheine und Ibbenbüren aufbrach, um die große weite Welt zu erkunden: die in diesem Fall die etwa 61 Kilometer entfernte Stadt Münster meinte. Das mag im globalen Maßstab nur ein Katzensprung sein, aber es war ein mächtiger Schritt für den kleinen Simon, der sich bei Preußen Münster über die Jugendteams, die U17 und die U19 in den Dunstkreis der ersten Mannschaft spielte. Pavel Dotchev schickte ihn in einem Pokalspiel beim TuS Hiltrup für die „Erste“ auf den Rasen und wurde so zu Scherders fußballerischem Godfather. Im Profifußball meldete er sich wenige Tage später, am 25. September 2012, an. Da ersetzte er im Auswärtsspiel bei Alemannia Aachen Stürmerlegende Matthew Taylor.

Seine erste Trikotnummer im Preußen-Dress: die 44.

Zeitpunkt seiner Einwechslung: 20.57 Uhr.

Abpfiff: 20.58 Uhr.

Manche großen Geschichten finden ihren Anfang in ein paar scheinbar bedeutungslosen Sekunden. Es war Scherders erster Schritt und danach ging Scherder nie wieder weg.

Unter Ralf Loose wurde aus dem Gelegenheitsarbeiter Simon Scherder der Preußen-Profi Simon Scherder. Hier bekam er nachhaltig Einsatzzeiten und wurde zum Saisonende hin sogar Stammspieler. Beim 4:0 in Chemnitz erzielte er sein erstes Tor für den SC Preußen, es war der wichtige Führungstreffer, natürlich, denn Scherder hebt sich Tore für besondere Momente auf. Oder machen erst Scherders Tore aus Momenten überhaupt etwas Besonderes?

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Dass ich die Geschichte des Abwehrmanns erzählen kann, während er mittendrin steckt, hat etwas von einem Fußballwunder. Ja sicher, diese spezielle Geschichte wurde schon so oft erzählt, aber das Schöne an schönen Geschichten ist, dass sie immer wieder für einen inneren Aufruhr sorgen. Und außerdem ist es zutiefst menschlich, dass wir genau diese Geschichten immer und immer wieder erzählen. Und wir müssen uns diese Geschichte nun ganz neu einprägen.

Im Sommer 2015 lief der SC Preußen im Rahmen der Sommervorbereitung zu einem Testspiel bei Westfalia Kinderhaus auf. Alles wie immer, ein schöner Sommerkick in entspannter Atmosphäre. Bis Scherder auf den Boden sank. Kreuzbandriss. Viel schlimmer kann man es im Fußball kaum treffen. Sechs Monate fehlte er, dann erlitt er einen Rückschlag und musste weitere drei Monate zuschauen.

Als er Ende März 2016 endlich die ersten Schritte zurück auf den Platz machen sollte, wurde alles nur noch schlimmer. Nur ein paar Minuten sollte er im Testspiel gegen den FC Emmen absolvieren, ein kleiner Test. Aber acht Minuten später lag er wieder auf dem Boden. Wieder so ein verdammter Kreuzbandriss. Wieder eine Pause und diesmal war sie wirklich bitter. Länger als 15 Monate musste Scherder zusehen. Am Ende kamen so fast zwei Jahre Pause zusammen, eine Ewigkeit im Profifußball.

Comeback nach Kreuzbandriss

Diese spezielle Geschichte hatte damals ein Happyend. Scherder kehrte zurück. Beim Auswärtsspiel in Würzburg am 2. August 2017 wagte er den Schritt. Nach 80 Minuten brachte ihn Trainer Benno Möhlmann. Scherder warf sich rein, half mit, den knappen 1:0-Auswärtssieg zu sichern.

Und nach Abpfiff standen sie alle vor dem Zaun, jeder ein großes Lächeln im Gesicht, die Grimaldis, Kobylanskis, Rizzis, Rühles und Wiebes. Und ganz vorne: Simon Scherder, breit grinsend, fast so, als sei er nie weg gewesen. Dieses Gefühl trug bis heute. Und es schien auch ihn zu tragen, denn die beiden schwersten Verletzungen waren bis heute auch seine letzten großen Verletzungen. Seitdem konnte der Fußballgott fast nur noch von Magen-Darm oder Schnupfen gestoppt werden, selbstredend auch schwere Männerkrankheiten, aber anders.

Seine Heldengeschichte schrieb Scherder selbst fort. Mit endlosen Facetten. Unvergessen sein Auftritt als geheimer Informant „Samson Schräder“ im WDR für Arnd Zeiglers „Kacktor“-Serie. Für so einen Unsinn ist er sich nie zu schade.

Und sportlich? Der Preußen-Abstieg 2020 wäre die vielleicht letzte Chance gewesen, noch einmal etwas anderes zu erleben. Simon Scherder blieb. Als er beim ersten Training als „Überraschungsgast“ präsentiert wurde, fühlte sich der Neuanfang in der Regionalliga gar nicht mehr so scheußlich an. Scherder bot Halt, einfach durch sein Handeln, nicht durch große Worte. Er ging mit uns durch die vierte Liga. Unvergessen, wie er in Wattenscheid in der Nachspielzeit ein Gegentor (mit-)verursachte, dann aber mit dem Schlusspfiff selbst traf und für Preußen noch den Sieg holte. Ekstase an der Eckfahne, ein Jubelsturm, der über den Schlusspfiff einfach hinwegfegte.

Später in der Saison steuerte er noch ein Tor im Drittliga-Aufstiegsspiel gegen Düsseldorfs U23 bei. Ungefähr in dieser Zeit muss das angefangen haben mit dem „Simon Scherder Fußballgott“.

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Im Sommer habe ich mit ihm gesprochen über dieses Phänomen. „Ich bin wohl mittlerweile an einem Punkt angekommen, an dem die Leute honorieren, dass ich schon so lange im Verein bin und alles mitgemacht habe.“ Liebe durch Vorhandensein? Irgendwie schon, aber natürlich viel mehr. An Scherder kann man mögen, dass er sich auch bitteren Momenten stellt. Dass er nicht Ausreden sucht. Menschen mögen so etwas. Ehrlichkeit und Verlässlichkeit.

In der 2. Bundesliga sagte man ihm voraus, dass es wohl nicht reichen würde. Scherder wurde fast abgeschrieben. Ein Maskottchen auf der Bank, aber keine echte Hilfe mehr. Oder? Ein halbes Jahr lang schaute er vor allem zu. Dann war er da, wurde Stammspieler und en passant zum Zweitliga-Profi. In Elversberg besorgte er zudem mit seinem Tor einen völlig unerwarteten 1:0-Auswärtssieg.

Im Sommer, als der SC Preußen alles umkrempelte und auf einen ganz anderen Stil umstellte, war wieder klar, dass es nicht mehr reichen würde. Nur Scherder fand das gar nicht klar. Ganz pragmatisch sagte er nach dem letzten Testspiel vor dem Saisonstart: „Natürlich wird unser Fußball ein anderer sein. Aber ich glaube, dass mir das liegt. Viele unterschätzen mich vielleicht.“

Hat er Recht? Natürlich hat er Recht, dieser Fußballgott. Er spielte wieder. Machte den Job so, wie man ihn kennt. Unaufgeregt. Bis jetzt.

Jetzt hat er sich das Kreuzband gerissen.

Abseits der Zuschauerränge, in der Abgeschiedenheit des Trainingsplatzes. Aber irgendetwas sagt mir, dass wir Simon Scherder am vergangenen Samstag nicht zum letzten Mal auf dem Feld gesehen haben. Ich will daran glauben. Ganz fest.

Herzliche Grüße
Ihr Carsten Schulte

Portrait von Carsten Schulte

Carsten Schulte

…stammt aus dem Münsterland, hat mal Buchhändler gelernt, arbeitet aber seit fast 20 Jahren als Journalist für verschiedene Medienhäuser. Den SC Preußen Münster begleitet er mittlerweile mit seinem eigenen Magazin preussenjournal.de. Von ihm sind auch einige Bücher und Magazine über den Klub erschienen.

Der Donnerstags-Brief

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