Die Kolumne von Anna Stern | Kunst braucht Räume

Porträt von Anna Stern
Mit Anna Stern

Guten Tag,

zuerst möchte ich mich vorstellen: Ich lebe seit 30 Jahren in Münster, habe an der Kunstakademie Freie Kunst studiert und bin seitdem eine mal mehr, mal weniger sichtbare Akteurin der kulturellen Szene dieser Stadt. Vielleicht haben Sie mich auf der Bühne im Pumpenhaus gesehen oder meinen sprechenden Objekten im Stadtmuseum zugehört. Vielleicht haben Sie mich als Teil der Performancegruppe ephemer auf den Ringen von Donald Judd am Aasee erlebt oder einem Konzert von kolberg+stern gelauscht. Oder Sie haben vor langer Zeit, als es noch die taz Münster gab, meine Rezensionen auf der Kulturseite gelesen.

Ich möchte Ihnen das Feld der Kultur und vor allem die Kulturschaffenden in Münster näherbringen – Musiker:innen, Maler:innen, Schauspieler:innen, Tänzer:innen, Performer:innen. Ich möchte Sie mitnehmen auf Streifzüge hinter die Kulissen: Wer arbeitet woran und auf welche Weise? Und wie sind die Bedingungen dafür in unserer Stadt? Was läuft in Münster gut für die Kultur, was nicht, und warum?

Doch bevor es in die Nahaufnahme geht, zuerst die Totale: Was brauchen Kulturschaffende eigentlich überhaupt, um produktiv arbeiten zu können? Was sind existenzielle Bedingungen, ohne die nichts läuft? Vielleicht fällt Ihnen in diesen Kriegszeiten zuallererst „Freiheit“ ein. Die Freiheit der Kunst, wirklich das sagen und zeigen zu können, was unter der Haut und im Hirn brennt und dabei und damit gesellschaftliche Zustände zu spiegeln.

Die Sache hat einen Haken

In diesen Spiegel zu sehen, muss unbequem, ja, auch schmerzhaft sein dürfen, ohne dass Künstler:innen dafür gemobbt, zensiert, bestraft oder gar getötet werden. In vielen Ländern der Welt scheitert die Kunst schon daran, dass diese immaterielle Voraussetzung nicht gegeben ist.

Das sieht in Deutschland doch noch ganz gut aus, denken Sie jetzt vielleicht. Und ja, das stimmt auch. Doch die Sache hat einen Haken: „Die Kunstfreiheit wird (…) mit mehrheitlich prekären Lebensverhältnissen der Kunstschaffenden erkauft“, so formuliert es der Deutsche Kulturrat.

Vor fast hundert Jahren schrieb Virginia Woolf in ihrem weltberühmten Essay, dass Frauen ein Zimmer für sich allein und 500 Pfund im Jahr bräuchten, damit sie bei gleicher Begabung ebenso qualitätsvolle Literatur wie Männer hervorbringen können. Und an diesen beiden durch und durch materiellen Voraussetzungen fehlt es noch immer, gerade auch für Künstlerinnen, und auch in Münster. Sie merken schon, um überhaupt über Kunst und Kultur reden zu können, kommen wir kaum darum herum, über Raum und Geld zu reden.

Fangen wir mit dem Thema Raum an. Ich erinnere mich gut an meine erste Zeit in Münster Anfang der 1990er-Jahre. Ich hatte die Aufnahmeprüfung an der Kunstakademie bestanden. Fehlte noch eine kleine Wohnung für meinen Freund und mich. Nur noch, dachten wir. Schon damals aber war der Wohnungsmarkt leergefegt. Bezahlbaren Wohnraum gab es kaum, obwohl wir sogar ein festes Einkommen vorweisen konnten.

Großformatig arbeiten? Finanziell undenkbar

Ich landete zuerst in einer WG in Kinderhaus, in den Hochhäusern an der Killingstraße. Später hausten wir in einer Wohnung mit Kohleöfen über einem skurrilen Schreinermeister in Sprakel. Ich fuhr mit dem Fahrrad zur Kunstakademie, die damals in engen und wenig inspirierenden Räumen an der Scheibenstraße untergebracht war. Zu der Zeit malte ich noch und hätte gern ein eigenes Atelier gehabt, um großformatig arbeiten zu können. Finanziell undenkbar. Und so blieb es über viele Jahre hinweg.

Kaum verdienten wir mehr, waren die Mieten schon davongezogen, und ein Zimmer für mich allein, um nur Kunst zu machen, rückte in immer weitere Ferne. Dass ich mich während des Studiums für Performance-Kunst entschied, ist sicher auch auf diesen chronischen Raummangel zurückzuführen. Denn Performances kann ich auch im Kopf und auf dem Papier entwerfen, Instrument und Medium ist mein Körper, die Handlung temporär. Der Ort? Eine Galerie, ein Theater, eine Wiese, eine Straße. Übrig bleiben Erinnerungen in Form von Fotos oder Videos, jedenfalls nichts, was wieder – genau! – Raum braucht.

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Vor zwei Jahren wurde ich durch ein Zusammenspiel von Zufall und Freundschaft für kurze Zeit Untermieterin in einem wunderbaren Atelier an der Fresnostraße. In den knappen sechs Monaten, die ich dort arbeiten konnte, habe ich den Raum zur Bühne für surreale Film-Szenen gemacht: Puppenmöbel wurden abgefackelt, mit Tinte übergossen, der Boden mit Herbstblättern ausgelegt, mit frisch gemähtem Gras.

Endlich konnte ich Ideen dreidimensional ausprobieren. Konnte etwas liegen lassen, bis ich wiederkomme. Konnte mit dreckigem Zeug hantieren, ohne Angst vor Flecken auf dem Boden oder Beschwerden des Vermieters. Das Gefühl, das da in mir entstand, kann ich kaum beschreiben: eine höchst befriedigende Mischung aus Glück, Inspiration und Freiheit.

Zweite Bedingung für künstlerische Qualität

Bei einer durchschnittlichen Nettokaltmiete, die schon 2019 bei 11,70 Euro lag, ist die Frage, ob Künstler*innen in Münster genügend Räume haben, in denen sie Musik machen, Theaterstücke proben, Bilder malen können, fast schon naiv. Nein, haben sie nicht, und das liegt unter anderem daran, dass sie mit ihrer Kunst nicht genug Geld verdienen. Geld, Sie erinnern sich, die zweite Bedingung für künstlerische Qualität.

Auch dieses Thema kann ich an mir selbst veranschaulichen: Je nach Kontext trete ich aktuell als Performance-Künstlerin oder Kunstdozentin in Erscheinung. Ich habe aber in den letzten 30 Jahren auch schon bei Karstadt Sport Inline-Skates sortiert, als Sprachtherapeutin gearbeitet (meine Erstausbildung), Wohnungen geputzt, Reportagen geschrieben, auf dem Freitags-Bio-Bauernmarkt Schafskäse verkauft, bei der Deutschen Post am Fließband gestanden, Pressearbeit für das Cinema gemacht und im Garbo gekellnert.

Das ist ziemlich typisch für Menschen, die sich Künstler:innen nennen. Kaum jemand, der Kunst, Musik oder Schauspiel studiert hat, kann später davon leben. In Zahlen? Maximal jeder zehnte, andere Studien gehen von drei Prozent aus, und das war vor Corona.

Kultur zu schaffen, bedeutet für die meisten, trotz hochkarätiger Ausbildung ein Leben in ständiger Unsicherheit auszuhalten, mehrere Jobs und damit auch mehrere Leben gleichzeitig zu haben, um finanziell über die Runden zu kommen. Was wiederum bedeutet, für die eigentliche Arbeit, die Kunst, immer zu wenig Zeit zu haben. Die einzige Sicherheit ist die sichere Aussicht auf Altersarmut.

Wer das alles auf sich nimmt, muss ein gehöriges Maß an Idealismus und Leidenschaft mitbringen. Was wiederum andere Menschen oft dazu verleitet, davon auszugehen, dass diese Leidenschaft doch schon genug an Bezahlung sei. Sozusagen ein immaterielles Honorar. Kultur ist nice to have, aber soll bitte nichts kosten.

Konflikte entzünden sich an der Raumfrage

In den zwei Corona-Jahren sendete die Politik widersprüchliche Signale: Auf der Geld-Seite haben Stadt, Land und Bund in Windeseile umfangreiche finanzielle Hilfen für Künstler:innen zur Verfügung gestellt. So zum Beispiel das Stipendien-Programm „Auf geht’s!“, mit Anträgen, die so wunderbar unbürokratisch waren, wie ich es noch nie erlebt habe. Viele Münsteraner Künstler:innen konnten sich mit diesen Geldern in der Zeit ohne Auftritte und Aufträge über Wasser halten.

Auf der Raum-Seite mussten Theater, Kinos, Museen schließen, auch in Münster, während Möbelhäuser und andere, angeblich systemrelevante Orte offen blieben. Ist der Beitrag von Kunst und Kultur zur Verständigung, zur Auseinandersetzung, zur Begegnung, schlicht zur psychischen Gesundheit einer Gesellschaft nicht systemrelevant? Welchen kritischen Spiegel hält ein Möbelhaus uns vor?

Viele aktuelle Debatten und Konflikte in der Kulturszene Münsters entzünden sich an der Raumfrage, die untrennbar mit der Geldfrage verknüpft ist.

Kinderjugendkulturhaus, Musik-Campus, Gasometer, B-Side – immer wieder stehen Fragen nach Wirtschaftlichkeit Bedürfnissen nach kreativen Räumen entgegen, in denen kein Konsumzwang herrscht. Die Künstler:innen für ihre Projekte nutzen können, ohne sich finanziell zu ruinieren. Die nicht institutionalisiert, also verplant und von oben verwaltet werden.

Denn vor allem Künstler:innen wissen: Es sind die Räume in der wirklichen, der dreidimensionalen Welt, die kostbare Utopien in den eigenen Köpfen erst für andere sichtbar werden lassen.

Herzlich
Ihre Anna Stern

Porträt von Anna Stern

Anna Stern

… ist unter anderem Performance-Künstlerin. Sie lebt und arbeitet seit 30 Jahren in Münster. Sie studierte an der Kunstakademie Münster, später an der Berliner Universität der Künste, wo sie aktuell Vertretungsprofessorin am Institut für Ästhetische Bildung und Kunstdidaktik ist.

Die Kolumne

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