Die Kolumne von Christian Vechtel | Die unscheinbaren Dinge

Portrait von Kolumnist Christian Vechtel
Mit Christian Vechtel

Guten Tag,

im Grunde fing es an mit Sperrmüll. Als kleiner Junge in Lübeck zog ich mit ein paar Freunden durch unser Viertel im Stadtteil St. Lorenz-Nord. Wir jagten nach Objekten, die uns damals als Kinder fasziniert haben und auch oft von uns nicht verstanden wurden. Natürlich wussten wir noch nicht viel über das, was wir gefunden hatten, aber über Jahre wurde daraus eine Leidenschaft, die bis heute geblieben ist.

Mich hat es immer interessiert, unter anderem zu verstehen, wie alt ein Gegenstand ist, von wem er hergestellt oder produziert wurde und ob Sachen eventuell einen Wert haben könnten. Während meiner Schulzeit habe ich viel über das kleine Einmaleins des Handels auf Floh- und Trödelmärkten gelernt.

Immer wieder fand ich alte Reklame, zum Beispiel Emailschilder, die mich über die Jahre immer mehr begeisterten. Irgendwann begann ich, selbst alte Reklame zu sammeln.

Nach der Schulzeit, meinem Zivildienst und einer kurzen Zeit als Taxifahrer zog ich 1998 nach Münster, um Kunstgeschichte zu studieren.

Während des Studiums arbeitete ich als Student und später als Werkstudent im „Münsterschen Kunst- und Auktionshaus“ an der Buddenstraße. Nach dem Studium fing ich dort fest als Kunsthistoriker an. In dieser Zeit lernte ich viel über die Dinge, die mich bis heute faszinieren.

Im Jahr 2012 begann ich, zusammen mit Christian Becker, einem alten Freund aus Studienzeiten, eine erste eigene Auktion vorzubereiten. Im Frühjahr darauf fand sie statt.

Wir eröffneten im Kreuzviertel einen eigenen Laden. Inzwischen haben wir einen eigenen Auktionssaal. Dort veranstalten wir seit über zehn Jahren regelmäßig drei große Kunst-, Antiquitäten- und Design-Auktionen. Seit sechs Jahren bin ich als Händler in der ZDF-Sendung „Bares für Rares“ dabei. So entwickelte sich das alles.

Wichtig bei Auktionen ist der Name. Vor allem in der modernen und zeitgenössischen Kunst beeinflusst das stark, wie viel ein Stück wert ist. Doch meist sind es die unscheinbaren Dinge, die einen zweiten Blick wert sind. Um sie soll es in meiner Kolumne gehen.

Dieses Fragment einer Balustrade stand viele Jahre lang in Münster als Dekoration im Haus eines Architekten.

Das erste Stück stand viele Jahre lang in einem Münsteraner Architektenhaushalt. Es handelt sich um ein Fragment einer gotischen Balustrade. Balustraden sind kunstvoll gestaltete Brüstungen, die in der Gotik meistens im Traufbereich zu finden sind, also am unteren Rand des Daches.

Balustraden hatten eine dekorative Funktion. Sie wurden oft mit Figuren oder Wappen geschmückt, die Hinweise auf den Bauherrn oder die Nutzung des Gebäudes gaben.

Das Fragment, das im Hause des Architekten lange Zeit als dekoratives Element stand, ist ein Beispiel für herausragende Steinmetzarbeiten der späten Gotik.

Sehr wahrscheinlich wurde es im 15. Jahrhundert in einer westfälischen Bauhütte für einen extravaganten Profanbau oder als Schmuck für eine Kirche beziehungsweise ein Kloster aus Sandstein gefertigt.

Das herausragende Element der Hoch- und Spätgotik war das Maßwerk. Das sind meist durchbrochen gearbeitete, sich kunstvoll wiederholende geometrische Formen und Dekore. In unserem Fall handelt es sich um Schwünge oder lanzettähnliche, also schmale und spitz zulaufende Bögen im Wechsel mit Rosetten, runden Verzierungen in Form von Blüten.

Bei späteren Sanierungen oder Umbauten gelangten solche Stücke – meist waren es Fragmente – bis weit ins 20. Jahrhundert hinein in private Hände.

In der Zeit der Neo-Gotisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gestaltete man ganze Kirchen um und passte sie dem Zeitgeschmack an. Alten Bauteilen, vor allem Fragmenten, maß man keine Bedeutung mehr bei.

Im schlimmsten Fall landeten sie im Bauschutt. Im besten Fall retteten Architeken, Arbeiter oder Menschen, die sich dafür interessierten, diese Stücke. Das westfälische Balustradenfragment werden wir Anfang April versteigern.

Es soll für den Anfang ein Beispiel sein, um was es in dieser Kolumne gehen soll.

Wie viel solche Objekte wert sind, ist schwer einzuschätzen. Wenn sich herausstellt, das so ein Stück Element eines bekannten Gebäudes war, kann das den Preis stark beeinflussen. In diesem Fall wissen wir es nicht. Aber um ein Gefühl zu vermitteln: Der Startpreis liegt bei 120 Euro.

Dieses Stück hat RUMS-Leser Tobias Jakobs uns geschickt. Wissen Sie, was das ist?

Den zweiten Gegenstand, den ich Ihnen vorstellen möchte, hat RUMS-Leser Tobias Jakobs uns geschickt.

Es ist ein alter Amulettbehälter. Amulette begleiten die Menschheit seit Jahrtausenden. Sie sollten Schutz bieten, Glück bringen oder böse Geister abwehren. Sie dienten dazu, religiöse oder magische Texte, Segenssprüche oder Schutzamulette aufzubewahren. Meist trug man sie am Körper.

Hergestellt wurden sie im vorderen Orient, in Afrika oder Asien. Man nutzte sie im islamischen Raum, aber auch im jüdischen Glauben spielten sie eine Rolle. Die Größen variieren. Es gibt sehr kleine Stücke, die wenige Zentimeter groß sind. Und es gibt sehr große, die man gerade noch mitführen kann.

Wir kennen nur Fotos. Daher können wir nur sagen: Der Amulettbehälter wurde mit ziemlicher Sicherheit aus Silber gefertigt.

Die floralen und rankenartigen Ornamente lassen darauf schließen, dass er wahrscheinlich aus dem 19. Jahrhundert stammt. Allerdings hat man auch im 20. Jahrhundert aus Tradition in alten handwerklichen Techniken gearbeitet. Teilweise macht man das bis heute.

Solche Stücke sind begehrt, sowohl wegen ihrer kunsthandwerklichen Qualität als auch wegen ihres kulturellen und historischen Werts. Diese Behälter sind je nach Portemonnaie des Käufers aus den verschiedensten Materialen hergestellt worden. Im Kunsthandel sind die hochwertig und aufwendig hergestellten die begehrtesten.

Häufig finden sich keine Marken oder Punzierungen die uns mehr über Herkunft oder Alter sagen könnten. Man kann davon ausgehen, dass einfache Objekte im Kunsthandel zwischen 30 und 100 Euro kosten – wenn sie etwas aufwändiger sind, aber durchaus auch mehrere hundert Euro.

Und zum Schluss noch die Frage: Haben auch Sie einen Gegenstand zu Hause, bei dem Sie sich fragen: Was ist das eigentlich? Wo kommt er her? Und welche Geschichte hat er? Dann schicken Sie doch einige Fotos per E-Mail, möglichst aus mehreren Perspektiven. Und ich liefere Ihnen die Geschichte dazu.

Herzliche Grüße

Ihr Christian Vechtel

Portrait von Kolumnist Christian Vechtel

Christian Vechtel

…kam im Jahr 1998 nach Münster, um Kunstgeschichte, Ethnologie und Geschichte zu studieren. Schon während seines Studiums arbeitete er in einem Auktionshaus. Nach seinem Abschluss im Jahr 2003 fing er dort an. Im Jahr 2012 gründete er zusammen mit Christian Becker das Auktionshaus „zeitGenossen“ an der Finkenstraße. Seit 2018 wirkt er als Händler in der ZDF-Sendung „Bares für Rares“ mit.

Die Kolumne

Immer sonntags schicken wir Ihnen eine Kolumne. Das sind Texte, in denen unsere acht Kolumnistinnen und Kolumnisten Themen analysieren, bewerten und kommentieren. Die Texte geben ihre eigene Meinung wieder, nicht die der Redaktion. Mitgliedschaften in politischen Parteien oder Organisationen machen wir transparent. Wenn Sie zu den Themen der Kolumnen andere Meinungen haben, schreiben Sie uns gern. Wenn Sie möchten, veröffentlichen wir Ihre Zuschrift im RUMS-Brief. Wenn Sie in unseren Texten Fehler finden, freuen wir uns über Hinweise. Die Korrekturen veröffentlichen wir ebenfalls im RUMS-Brief.

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