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Marina Weisbands Kolumne | Wie Schule jetzt besser werden kann
![Porträt von Marina Weisband](https://www.rums.ms/wp-content/uploads/bis-images/10000043828/2023-08-26_portraet-metabild_brief_marina-weisband-360x360-f50_50.png)
Liebe Leser:innen,
alles muss man selber machen. Ich erfahre nächsten Mittwoch, ob nächsten Donnerstag die Kita wieder öffnet. Und wenn nicht? Urlaub kann ich nicht nehmen. Dann muss ich eben zwei andere Eltern aus der Gruppe anrufen und fragen: „Hey, wollen wir nicht eine kleine Betreuungsgruppe einrichten?“ Und dann wechseln wir uns mit der Betreuung ab. Wenn der Staat es nicht schafft, Strukturen bereitzustellen, dann müssen wir das eben selbst machen. Ewig funktioniert das aber nicht. Für alle erst recht nicht. Die Krise zeigt sehr deutlich, wie schwer unser Bildungssystem sich damit tut, wenn etwas anders laufen soll. Veränderung muss aber kommen und privat können wir die nicht durchführen. Wandel muss organisiert werden. Und das geht im Moment nicht ohne den Staat. In der Frage der Schulen sehen wir das sehr deutlich. Hier einige Anregungen, wie Schule für Zeiten der Pandemie rüsten könnte – und gleichzeitig eine Grundlage schafft für den notwendigen langfristigen Wandel in der Informationsgesellschaft.
I. Vernetzung
Um all das aufzufangen, was in normalen Zeiten der Präsenzunterricht leistet, reicht es nicht aus, wenn Schulen die Probleme für sich selbst lösen. Wir brauchen eine gute Vernetzung mit allen vorhandenen Ressourcen der Kommunen und Länder. Es gibt schon jetzt einige gute Lösungen. Lehramtsstudierende im Praxissemester könnten zum Beispiel den Auftrag bekommen, Schüler:innen dezentral zu betreuen und beim Lernen zu begleiten. Viele Eltern haben nicht die Möglichkeit, das zu leisten. Aber einige von ihnen können helfen. Auch Jugendzentren können Teil einer Lösung sein. Dort arbeiten Pädagog:innen mit den Fähigkeiten, die wir benötigen. In der Kommune gibt es Räume, wo Jugendliche arbeiten können, die zuhause nicht die Möglichkeiten haben. Nur: Organisieren müssten das die Länder, die Kommunen und die Schulen.
Die technische Umsetzung ist dabei nicht das Problem. Es gab sogar schon Angebote von Menschen, die die Vernetzung durch Apps unterstützen wollen. Knackpunkte sind Zuständigkeiten und Haftungsfragen. Wenn das Kulturministerium weiterhin am Präsenzunterricht festhält, bleibt es zum Beispiel illegal, dem Unterricht fernzubleiben – auch für Schüler:innen, die Menschen aus der Risikogruppe in der Familie haben.
Bildungspolitik ist zwar Ländersache, aber auch der Bund kann Aufgaben übernehmen. Er kann Ideen verbreiten und Möglichkeiten zur Vernetzung zur Verfügung stellen. Auf der Suche nach guten und pragmatischen Lösungen sind wir auch darauf angewiesen, zu sehen, wo und wie Konzepte gut funktionieren. Wenn es um die digitale Bildung geht, müssen die Bundesländer besser vernetzt sein. Sie sollten sich gegenseitig im Blick haben. Und das könnte der Bund ihnen erleichtern.
II. Geräte
Der Digitalpakt ist ein erster Schritt. Die Bundesregierung stellt fünf Milliarden Euro zur Verfügung, um allgemeinbildende Schulen besser auszustatten. Das ist gut. Aber hier ist ein Problem: Um das Geld abzurufen, brauchen die Schulen Medienentwicklungspläne. Um solche Pläne erstellen zu können, fehlt es an Personal und an Zeit. Oft schreiben Lehrer:innen ohne die nötige Fachexpertise die Pläne nebenbei in ihrer Freizeit. Oder niemand schreibt sie. Und dann bleibt das Geld liegen. Dabei sind Infrastruktur und Geräte notwendige Voraussetzungen für zeitgemäßen Unterricht – wenn auch längst keine hinreichenden.
Es ist im Moment nicht möglich, zentral Geräte für alle anzuschaffen. Aber wir können zum Beispiel darauf achten, dass Software bestimmte Voraussetzungen erfüllt: Sie muss offen sein, neutral, und sie muss auf allen Plattformen funktionieren
Die Frage zentral organisierter und verwalteter Geräte ist eine, die langfristig wichtig ist, aber zeitaufwändig. In den nächsten Monaten wird es erst einmal darum gehen, irgendwie durch die Krise zu kommen. Es müssen nicht Großbestellungen bei namhaften Herstellern sein. Was will man in diesem Jahr mit diesen Geräten machen? Die Schüler:innen müssen an Videokonferenzen teilnehmen können, sie müssen auf zentral gespeicherte Dokumente zugreifen können, und sie müssen an diesen Dokumenten arbeiten können. Was davon funktioniert nur mit Geräten von Apple? Die eingesetzte Software muss so gewählt werden, dass ein Browser zu ihrem Einsatz genügt. Wir müssen uns vorübergehend mit Privatspenden behelfen. Auch Universitäten und Bibliotheken können Zugang zu Geräten bieten.
III. Konzepte
Ich glaube, das Distanzlernen wird so kritisch gesehen, weil nur wenige wissen, wie man es richtig umsetzt. Einige Lehrer:innen senden einfach nur Arbeitsblätter. Dabei gab es auch im Mai schon hervorragende Distanzlernkonzepte, die funktionieren. Doch sie sind kaum verbreitet.
Es gibt zum Beispiel die Fishbowl-Methode. Ein Teil der Kinder sitzt dabei in der Klasse, die übrigen schauen von außen zu. Sie sind aber nicht passiv, sie bekommen andere Aufgabenwie beispielsweise Recherche oder Kommentare. Oder: Gruppen arbeiten zusammen an einem Lernprodukt. Sie erkunden unter der Woche etwas, das sie interessiert. Zum Beispiel die Frage: Warum fault eine Banane? Was passiert dabei chemisch? Und dazu machen sie ein Video oder eine Website oder ein Referat.
Eine andere Möglichkeit sind Lerntandems. Dabei werden Kleingruppen von Schüler:innen gebildet, die zusammen arbeiten. Ein Teil besucht den Präsenzunterricht. Sie tauschen sich aus. Und wenn sie zusammen an den Geräten arbeiten, brauchen nicht alle eins.
Es gibt sehr viele guten Lösungen, die nicht einfach nur den Präsenzunterricht per Videokonferenz stattfinden lassen, denn das ist die schlechteste Variante.
Diese Konzepte müssen wir unbedingt weiter verbreiten. Philippe Wampfler macht das in seiner Youtube-Reihe DigiFernunterricht. Er ist selbst Lehrer. Er kennt die Praxis. Und er erklärt in mittlerweile über 80 teilweise nur drei Minuten langen Videos, wie man guten Digitalunterricht macht.
Und ist eben nicht nur ein netter Bonus oder eine technische Frage. Die Schulen, die gut durchs Frühjahr gekommen sind, das waren meist jene, die mehr auf Selbstständigkeit gesetzt haben, die mehr Vertrauen in die Schüler:innen hatten. Zeitgemäße Bildung bedeutet: fächerübergreifendes, projektbezogenes, selbstständiges und digitales Arbeiten. Es schult Fähigkeiten der selbstständigen Identifikation von Fragen und Problemen und deren kreative Lösung.
Hier haben wir nun eine große Chance. Distanzlernen ist eine Notfalllösung. Das ist nicht das, was wir meinen, wenn wir von digitaler Bildung sprechen. Wir meinen nicht Corona-Not-Fernbeschulung. Präsenz muss natürlich sein. Aber jetzt besteht die Möglichkeit, Konzepte zu entwickeln, die uns längerfristig helfen. Auch dann ist es weiter sinnvoll, mehr auf Vertrauen, mehr auf persönliche Entwicklung und mehr vernetztes Lernen zu setzen.
IV. Prüfungen
Aus der pädagogischen Psychologie wissen wir schon sehr lange, dass Tests und Prüfungen nicht sehr hilfreich sind, wenn es darum geht, das Wissen von Schüler:innen abzuschätzen. Sie helfen auch nicht beim Lernen.
Wer für eine Prüfung lernt, versucht, möglichst viel auswendig zu lernen, um es in Prüfungen formalisiert wiedergeben zu können. Aber das können Computer viel besser als Menschen. Im Berufsleben der Zukunft wird dieses Auswendiglernen keine Rolle mehr spielen. Was wir brauchen, sind Kommunikation, Zusammenarbeit, Kreativität und kritisches Denken. Aber wenn ich das in der Prüfung anwende, ist das ein Betrugsversuch. Dann bekomme ich eine Sechs.
Die ständigen Prüfungen führen zu einer Art Bulimielernen. Wenn es darum geht, die Kinder in oberflächliche Kategorien wie gut und schlecht zu sortieren, dann ist das gegenwärtiger System das richtige. Wenn das Ziel ist, den Lernfortschritt zu spiegeln und mögliche Schwächen zu verbessern, dann ist ein Feedbackverfahren sehr viel besser. Im Moment haben wir einen Zielkonflikt. Die Schule soll sortieren. Aber das bedeutet: Wir nehmen große Nachteile beim Lernen inkauf.
Das gilt auch mit Blick auf die Universitäten. Aufnahmeprüfungen würden zu einem sehr viel besseren Ergebnis führen, als Jugendliche danach zu bewerten, wie sie im Abitur abgeschnitten haben. Wenn ich Psychologie studieren möchte, brauche ich ein gutes mathematisches Verständnis und Englischkenntnisse. Der Notendurchschnitt gibt darüber keine verlässliche Auskunft. Mit Aufnahmeprüfungen lässt sich gezielt feststellen, ob jemand die Fähigkeiten besitzt, um ein bestimmes Fach zu studieren.
Und das Sortieren hat noch einen anderen wichtigen Nebeneffekt: Es tötet die Motiviation.
Wagen wir doch einmal das Experiment und stellen uns vor, wie Schule wäre, wenn man nicht bei jeder Prüfung um seine Zukunft bangen müsste, sondern wenn man einfach aus Spaß an der Sache lernen würde. Natürlich gibt es gewisse Dinge, zu denen man eher genötigt wird. Schule hat auch die Aufgabe zu zeigen, was es gibt – worauf man neugierig werden kann. Man wird an die Hand genommen. Aber davon sollte nicht die Zukunft abhängig sein. Dann erwerben Menschen nämlich ironischerweise genau die Fähigkeiten, die sie nicht brauchen.
V. Beharrungskräfte
Schule lässt sich leider nur schwer ändern. Das liegt auch daran, dass wir alle jahrelang selbst in der Schule gesehen haben, wie Schule zu sein hat. Dieser Punkt ist wichtig, um zu verstehen, warum Veränderungen so lange dauern. Wir sehen das auch in anderen Zusammenhängen. Es ist egal, was Eltern mir erzählen, Menschen werden so, wie Eltern es ihnen vorleben. Und es ist auch egal, ob Schule Kindern und Jugendlichen erzählt, sie müssen selbstständig denken. Wenn sie jeden Morgen zu einer bestimmten Uhrzeit irgendwo sein müssen und dann jemand sagt, was gemacht wird, dann passen sie sich eher an ein autoritäres System an als an ein demokratisches.
Es kommt noch etwas hinzu. Viele Erwachene denken, sie sind da doch auch durchgegangen. Da fühlt es sich vielleicht ungerecht an, sich einzugestehen, dass die quälenden Aspekte vielleicht gar nicht nötig sind. Vielleicht hat man den Gedanken: Wenn eine bessere Schule möglich ist, habe ich dann umsonst gelitten?
Unser Schulsystem passt noch sehr gut ins Industriezeitalter. Wir befinden uns aber im Informationszeitalter. Und da ändert sich die Rolle der Schule grundlegend, weil sie nicht mehr der Ort ist, den man besucht, um Wissen zu erwerben. Die Informationen sind ja schon überall. Die Schule ist der Ort, an dem die Schüler:innen lernen, wie sie aus diesen Informationen Wissen stricken. Und das setzt eine neue Art von Lernen voraus, die schon seit den 1980er Jahren diskutiert wird, aber noch nicht flechendeckend umgesetzt wird.
Wenn wir jetzt kein Schulsystem schaffen, das zur Informationsgesellschaft passt, dann werden wir ein großes Problem bekommen – was die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Schüler:innen betrifft, was unsere Wirtschaftsleistung betrifft, aber auch, was unsere Demokratie betrifft.
VI. Politischer Druck
Wie überzeugen wir nun die Menschen, politisch das umzusetzen, was der Pädagogik und Psychologie schon lange als notwendige Veränderung bekannt ist? Es gibt zwei Wege. Der erste ist die Bildung aller beteiligten Akteure, die geduldige Beziehungsarbeit mit Funktionär:innen der Bildungsverwaltung und -politik. Der zweite Weg ist: politischer Druck. Ich glaube, in diesem Fall ist es so dringend, dass nur politischer Druck hilft.
Und da habe ich eine Sache gelernt: Sich online zu beschweren, bringt überhaupt nichts. Wenn man Kultusministerien in Aktion bringen möchte, dann muss man Briefe schreiben oder anrufen. Jede:r Landtagsabgeordnete hat ein Büro, auch jedes Regierungsmitglied. Es gibt Adressen und Telefonnhummern. Dort kann man Fragen stellen und Wünsche äußern. Man kann auch seine Ängste zum Ausdruck bringen. Dazu sind diese Menschen da.
Ich höre, dass viele Eltern den Kultusministerien schreiben, dass sie für Präsenzunterricht sind – weil sie sich neben dem Beruf nicht auch noch um den Schulunterricht ihrer Kinder kümmern können. Diese berechtigten Bedenken werden also gehört. Es müssten die Ministerien also mehr Briefe erreichen, die dennoch für eine sichere Bildung, für dezentrale Lernorte und Betreuung, für kreative Lösungen unter Einbeziehung der Kommunen plädieren.
Im Moment werden Eltern, die ihre Kinder nicht betreuen können, gegen die Eltern ausgespielt, die Angst um ihre Kinder haben. Das sollte nicht so bleiben. Und ich bin überzeugt davon: Das können wir ändern.
Das wichtigste: was wir jetzt in gute und sichere Bildung unserer Kinder investieren, ist auch eine Investition in zeitgemäßen Unterricht. In keinem anderen Bereich wird sich jeder eingesetzte Euro so vielfältig auszahlen.
Viele liebe Grüße
Marina Weisband
![Porträt von Marina Weisband](https://www.rums.ms/wp-content/uploads/bis-images/10000043828/2023-08-26_portraet-metabild_brief_marina-weisband-200x9999.png)
Marina Weisband
Marina Weisband ist Diplom-Psychologin und in der politischen Bildung aktiv. Beim Verein „politik-digital“ leitet sie ein Projekt zur politischen Bildung und zur Beteiligung von Schülern und Schülerinnen an den Regeln und Angelegenheiten ihrer Schulen („aula“). Außerdem ist sie Co-Vorsitzende des digitalpolitischen Vereins D64. Von Mai 2011 bis April 2012 war sie politische Geschäftsführerin der Piratenpartei Deutschland. Heute ist sie Mitglied der Grünen. Sie lebt in Münster.
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