Die Kolumne von Marina Weisband | Autos sehen lernen

Porträt von Marina Weisband
Mit Marina Weisband

Liebe Leser:innen,

ich kann jetzt Autos sehen. In mir hat sich ein Schalter umgelegt, und das hat etwas verändert. Ich konnte Autos natürlich auch vorher schon sehen. Aber jetzt nehme ich sie anders wahr – als das, was sie sind: zwei Tonnen privater Stahl, die auf öffentlichen Plätzen abgestellt sind.

In Deutschland ist auf diese Autos alles ausgerichtet. Im Krieg haben wir Straßenbahnschienen herausgerissen und danach nie wieder zurückgetan. Die Straßen sollten den Autos gehören. Unsere Wahrnehmung hat sich angepasst. Wir sehen die parkenden Autos wie Bäume oder Häuser. Fehlen sie, fehlt etwas. So scheint es jedenfalls.

Man kann Autos auch auf eine andere Weise sehen. Menschen kaufen sich Privateigentum, das die Luft verpestet, die Umwelt zerstört, Feinstaub verbreitet, sie stellen es an öffentlichen Orten ab. 90 Prozent der Zeit steht das Auto dort einfach herum. Stellen Sie sich mal vor, um sich das zu verdeutlichen, Sie würden Ihr Sofa einfach an die Straße stellen. Warum geht das eigentlich nicht?

Als das Bündnis Fahrradstadt.ms im November eine verschiebbare Holzplattform in einer Parklücke abstellte, um einen Eindruck davon zu vermitteln, wie viel öffentlichen Raum die Autos beanspruchen, kam das Ordnungsamt und schleppte die Plattform ab.

Autos verstopfen die Innenstädte

Viele Menschen und Betriebe sind auf ein Auto angewiesen, sogar in der Stadt. Aber wirklich so viele? Sind diese einzelnen Bedarfe es wirklich wert, die gesamte Stadtplanung kulturell der ineffizientesten Art der städtischen Fortbewegung zu unterwerfen? Fängt man an, sich die Frage zu stellen, warum wir den Autos so viel von unserem öffentlichen Raum geben, beginnt man, die Stadt mit anderen Augen zu sehen. Autos verstopfen die Innenstädte – neue Fahrspuren und neue Verbindungen sollen dagegen ein Mittel sein, aber tatsächlich produzieren neue Straßen noch mehr Verkehr.

Neulich habe ich mich mit meinem Mann darüber gestritten, wohin unsere Tochter alleine laufen könnte. Unsere Städte bestehen aus breiten, grauen, unbetretbaren Gräben, die wir nur an bestimmten Stellen überqueren können, als wären dort Hängebrücken. Ich habe mich gefragt: Warum haben Autos diese Priorität? Warum denken wir nicht zuerst daran, wie Kinder sich durch die Stadt bewegen können, und wie die Autos um sie herumkommen?

Die neue Rathauskoalition aus Grünen, SPD und Volt möchte nun, dass in der Innenstadt so gut wie keine Autos mehr fahren. Der öffentliche Nahverkehr soll das Auto in der Innenstadt ersetzen. Was dem im Weg steht, ist die emotionale Bedeutung des Autos.

Wir brauchen einem Bewusstseinswandel

Das Auto ist in Deutschland mehr als ein Fortbewegungsmittel. Es ist ein kulturelles Identifikationsmerkmal. Es ist ein Statussymbol, das Versprechen individueller Freiheit. Und es ist eine gelebte Machtdemonstration im Raum.

Deswegen können andere Verkehrsmittel es gar nicht vollständig ersetzen. Sie lösen nur das Problem mit der Fortbewegung. Den Rest des Problems bekommen wir nicht mit Fahrrädern, Metrobussen oder Mobilitätsstationen in den Griff. Das geht nur mit einem Bewusstseinswandel.

Wir müssen die Augen öffnen, um den Schmutz zu sehen, den Raumverlust, die gesundheitlichen Schäden. Wir müssen uns fragen: Warum brauchen wir so viele Autos, wenn sie doch einen Großteil der Zeit in der Gegend herumstehen?

Zugegeben, ich selbst bin ohne Auto aufgewachsen. Wir hatten dafür kein Geld. In meiner Wahrnehmung waren Autos vor allem eine potenzielle Gefahr im Straßenverkehr. Ich bin mein ganzes Leben lang mit dem Bus gefahren. Aber ich schätze es, wenn ich ab und zu ein Auto zur Verfügung habe – bei bestimmten Gelegenheiten, wenn ich Freund:innen in der Pampa besuchen will, oder wenn ich mit dem Kind einen Großeinkauf machen muss.

Aber lohnt es sich dafür, das Auto zu unterhalten, es zu warten, die Sommerreifen zu wechseln?

Ich würde mir lieber ein Auto mit anderen teilen und es dann nutzen, wenn ich es brauche. Wenn viel mehr Menschen das machen würden, bräuchten wir öffentlichen Raum, weil die Autos nicht mehr in privaten Garagen stünden. Die Frage ist: Fehlen in Münster Parkplätze? Oder fehlen Carsharing-Angebote?

Gewohnheiten lassen sich ändern

Modernes Carsharing muss die Spontaneität nicht einschränken. Es funktioniert wie der E-Scooter-Verleih. Die Autos stehen überall in der Stadt. Ich schaue in meiner App nach, wo das nächste Auto steht, laufe hin, entsperre es und fahre los. An meinem Ziel stelle ich es wieder ab. Ich bin damit sogar spontaner als mit dem eigenen Auto. Wenn ich zu einer Party fahren und etwas trinken möchte, fahre ich mit dem Auto hin und mit dem Taxi zurück. Und am nächsten Morgen muss ich das Auto nicht abholen.

In Berlin und Hamburg gibt es solche Angebote. In Münster gibt es das Stadtteilauto. Das ist gut, aber es ginge noch eine Spur zeitgemäßer.

In Münster müssen Menschen, die auf das Auto verzichten, auf öffentliche Verkehrsmittel umsteigen. Auch dabei gibt es Hindernisse. In Gesprächen mit Freund:innen habe ich festgestellt: Wer mit einem Auto in der Familie aufgewachsen ist, fühlt sich eher eingeschränkt und gebunden, wenn Fahrpläne die Reisezeiten vorgeben. Wenn man es nicht gewohnt ist, mit dem Bus oder der Bahn zu fahren, kann das abschrecken. Doch Gewohnheiten lassen sich ändern. Natürlich liegt es auch am Angebot, wie flexibel man mit öffentlichen Verkehrsmitteln ist. Auch das Angebot sollte sich ändern.

Dabei geht es um Anreize. Viele Menschen, die auf dem Land leben, kämen ohne Auto kaum in die Stadt. Ich möchte nicht, dass diesen Menschen die Möglichkeit genommen wird, ein Auto zu nutzen. Aber ich möchte, dass Menschen, die auf ihr Auto verzichten könnten, bessere Anreize haben, das auch zu tun. Wenn wir Autos im öffentlichen Raum so behandeln würden wie andere Gegenstände, die auf der Straße herumstehen, wäre das sicher ein Anreiz. Ich kann nur dort dauerhaft ein Sofa in den öffentlichen Raum stellen, wo der Raum mir gehört. Autos kann ich überall parken.

Jede Veränderung, jede Priorisierung anderer Fortbewegungsmöglichkeiten wird natürlich Widerstand erfahren. Egal, ob man an kleinen Schrauben dreht oder an großen, es gibt Widerstände. Daher ist es sinnvoller, gleich an den großen zu drehen. Denken wir die Stadt neu. Was wäre, wenn wir die Stadt so planen würden, dass sie für Menschen gedacht ist, nicht für Autos? Wie sähe diese Stadt aus?

Gehen wir doch von diesem Idealbild aus. Es ist keine Ideologie, auf alle Rücksicht zu nehmen und nicht nur auf eine Interessengruppe – Menschen, die mit dem Auto fahren. Auf dem Weg zu dieser Stadt sollten wir uns rückversichern, auf alle achten, vor allem auch auf die Minderheiten. Zum Beispiel Menschen mit Behinderung, die ein Auto brauchen, um mobil zu sein. Auch diesen Gruppen kann es helfen, wenn in der Stadt weniger Autos herumstehen. Es wird leichter für sie, Parkplätze in der Nähe ihres Ziels zu finden.

Ein größeres Gefühl von Freiheit

Das Leitbild sollte nicht sein: Schafft das Auto ab. Es sollte lauten: Gestaltet die Stadt für Menschen.

Dieses Umdenken beginnt schon bei der Sprache. Wird eine Straße umfunktioniert, sagen wir: Die Straße wird gesperrt. Im Zentrum unseres Denkens steht das Auto. Wir könnten auch sagen: Die Straße wird geöffnet – für Menschen, die zu Fuß unterwegs sind oder mit dem Fahrrad.

Dieses Umdenken ist der visionäre Teil der Mobilitätswende. Es wird viel Zeit brauchen. Abstrakte Erklärungen und Pläne reichen nicht aus, um das Denken zu erneuern. Es muss sich mit konkreten Vorstellungen und Erfahrungen füllen. Beim (Non)-Parking Day am Hansaring haben wir gesehen, wie so etwas funktionieren kann. Menschen sehen und erleben, wie es wäre, wenn es anders wäre.

Kunst und Kultur können dabei helfen. Veränderungen sind einfacher, wenn wir wissen, was kommt, wenn die Ungewissheit möglichst gering ist, wenn der neue Zustand greifbar wird.

Um in die Zukunft zu sehen, können wir in die Vergangenheit schauen. Es gibt wunderschöne Aufnahmen aus der Zeit der Jahrhundertwende, die digital aufbereitet wurden. Darauf erleben wir magische Szenen, wie die Leute auf großen, breiten Straßen durcheinanderlaufen, wie sie diesen Raum einnehmen. Es gibt Straßenmusik, Kinder rennen herum. Diese Bilder zeigen ein viel größeres Gefühl von Freiheit.

Viele liebe Grüße
Marina Weisband

Porträt von Marina Weisband

Marina Weisband

Marina Weisband ist Diplom-Psychologin und in der politischen Bildung aktiv. Beim Verein „politik-digital“ leitet sie ein Projekt zur politischen Bildung und zur Beteiligung von Schülern und Schülerinnen an den Regeln und Angelegenheiten ihrer Schulen („aula“). Außerdem ist sie Co-Vorsitzende des digitalpolitischen Vereins D64. Von Mai 2011 bis April 2012 war sie politische Geschäftsführerin der Piratenpartei Deutschland. Heute ist sie Mitglied der Grünen. Sie lebt in Münster.

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