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Die Kolumne von Marina Weisband | Die zweite Welle der Aufklärung

Liebe Leser:innen,
am 26. September ist die Bundestagswahl. Und viele freuen sich darauf nicht so sehr. Sie sagen: „Es ist doch irgendwie egal, wen ich wähle. Es kommt doch eh immer dasselbe heraus.“ Das erinnert mich sehr an einige meiner Schüler:innen. Sie sagen: „Warum soll ich mich denn beteiligen? Die Lehrer:innen machen doch eh, was sie wollen.“
Meine Schüler:innen? Oh ja. Ich arbeite beim Verein politik-digital am Schülerbeteiligungsprojekt aula. Wir etablieren an Schulen in ganz Deutschland mit Hilfe einer Onlineplattform, didaktischer Begleitmaterialien und eines Vertrags ein schulweites Beteiligungskonzept ein Es ist ein Werkzeug, das dabei hilft, Dinge selbst zu verändern. Die Schüler:innen können auf ihrem Handy oder an einem Computer Ideen einstellen, die das Schulleben verbessern sollen. Sie können über diese Anstöße diskutieren, über sie abstimmen, und sie können sie auch selbst umsetzen.
Das Problem ist: Es dauert manchmal eine Weile, bis die Schüler:innen das wahrnehmen. Vor allem den älteren unter ihnen fehlt manchmal das Vertrauen, dass ihre Mühe sich lohnt. Oder sie sehen gleich zu Beginn so viele Hürden, dass ihre Ideen klein und unambitioniert ausfallen.
Es ist also ähnlich wie mit Wähler:innen, die davon überzeugt sind, dass ihre Stimme eh nichts verändern wird – und die denken, dass politisches Engagement sich nicht lohnt, weil Korruption, Lobbyismus und Vetternwirtschaft ohnehin stärker sind als jede Bürgerbeteiligung.
Wir werden in Münster ein knappes Rennen um das Direktmandat haben? Geschenkt. Jahrhundertwahl an einem kritischen Zeitpunkt für das Klima? Na ja. So richtig kämpferisch sind die wenigsten Leute.
Frust fördert Hilflosigkeit
Haben diese beiden Phänomene – also die Wahlmüdigkeit und die Resignation der Schüler:innen – etwas miteinander zu tun? Allerdings! Beides ist ein Zeichen erlernter Hilflosigkeit. Das ist ein psychologischer Fachbegriff. Erlernte Hilflosigkeit entsteht, wenn Menschen so lange in einem System nichts ausrichten können, dass sie sich daran gewöhnen. Gibt man ihnen dann echte Entscheidungsfreiheit, haben sie weder die Fähigkeiten noch die Motivation, wirklich etwas zu verändern.
Wenn ich mich also zehn Jahre lang jeden Morgen früh aus dem Bett quälen muss, um alle 45 Minuten ein neues mir vorgeschriebenes Fach zu pauken, wenn dann noch benotet wird, wie viel ich mir von alledem gemerkt habe, und wenn davon meine Zukunft abhängt, dann kann es durchaus passieren, dass ich keine zu große Erwartung an meine Fähigkeit entwickle, die Welt gestalten zu können.
Jede Vorschrift von oben, jeder Frustmoment, jede Wahlenttäuschung tragen zu dieser erlernten Hilflosigkeit bei. Das Ergebnis dessen wäre eine Bevölkerung, der im Grunde alles egal ist, weil man ja doch nichts ändern kann. Wir Menschen schützen uns so vor wiederholtem Frust.
Zum Glück gibt es aber auch einen Gegenentwurf, nämlich die Überzeugung, dass wir schon etwas ausrichten können in der Welt – und sei es nur in unserer direkten Umwelt. Diese Überzeugung heißt Selbstwirksamkeit. In unserem Projekt aula versuchen wir, sie bei jungen Menschen zu stärken.
Es fängt oft ganz klein ein. Anne fällt zum wiederholten Male der Haufen Fahrräder vor dem Haupteingang der Schule auf. Sie zückt ihr Handy, öffnet die App und schreibt: „Fahrradständer am Haupteingang.“ Nur eine kurze Notiz.
Prävention gegen erlernte Hilflosigkeit
In der aula-Stunde (sie findet an ihrer Schule während der Klassenratsstunde statt) stellt sie ihre Idee mündlich vor. Paul schreibt einen Verbesserungsvorschlag: „Fahrradständer ja, aber dann für mindestens 60 Fahrräder, sonst gibt es doch nur wieder Streit.“ Ines fügt hinzu: „Bitte in der Idee ergänzen, wer verantwortlich ist und bis wann das fertig sein soll.“ Anne ändert ihre Idee immer wieder und vervollständigt die Verbesserungsvorschläge. Aus einer Notiz wird ein ganzer Projektplan.
Anne bittet ihren Vater, ihr dabei zu helfen, Angebote von Baufirmen einzuholen. Alle Fragen sind beantwortet. Nach zwei Wochen ist die Idee ausgearbeitet. Nun kommt sie auf den Schreibtisch der Schulleitung. Die prüft: Ist die Idee vereinbar mit dem Vertrag, den die Schulkonferenz beschlossen hat? Das würde bedeuten: Sie bricht nicht das Schulgesetz, regelt ihre eigene Finanzierung durch Kuchenverkauf und bewegt sich innerhalb des Kompetenzrahmens, der den Schüler:innen zugestanden wird. Die Idee kriegt grünes Licht, die Schüler:innen dürfen nun darüber abstimmen. Wenn sie eine Mehrheit bekommen, wird der Fahrradständer gebaut.
Das Schöne daran ist: Immer wenn Anne, Paul und Ines später an ihm vorbeilaufen, erinnert er sie daran, dass er ihr Werk war. Sie haben an dieser Stelle die Welt ein klein wenig verändert. Das ist ein Anreiz, es wieder zu probieren. Die Selbstwirksamkeitserwartung wächst. Und das ist die beste Prävention gegen erlernte Hilflosigkeit und ihre Folgen: eine Konsum- oder Opferhaltung gegenüber der Gesellschaft, Anfälligkeit für Populismus oder Menschenhass, Demokratieverdruss.
Das Projekt aula gibt es seit fünf Jahren, zurzeit an knapp 20 Schulen, auch in außerschulischen Gruppen. Schüler:innen haben Bäume gepflanzt, ihren Unterricht verändert, ein Stufenfrühstück eingeführt, Veranstaltungen geplant und ihre Schulen klimaneutral gemacht. Sie bauen an einer Zukunft und ändern dabei ihre Selbstwahrnehmung sowie ihre Rolle in der Gesellschaft. Sie konsumieren nicht nur, sie gestalten.
Warum ist das so wichtig? Klar, Demokratie ist gut und richtig. Aber es kommt noch ein ganz aktueller Grund hinzu: Globalisierung und Digitalisierung machen unsere Welt sehr viel komplexer. Und nicht alle Menschen können Komplexität aushalten.
Einfallstor für Menschenhass
Um sie zu reduzieren, schaffen Menschen sich einfache Erzählungen, in denen es die Guten und die Bösen gibt. Die Guten, das sind sie selbst, das ist das „Wir“. Die Bösen, das sind wahlweise Muslime, Juden, die „Finanzelite“ (meist ebenfalls die Juden), die Chinesen oder wer auch immer. Es ist ein Eingangstor für Populismus und Menschenhass.
Gefühlt hilflose Menschen sehnen sich nach einer Person, die ihnen einfache Antworten, Stabilität und Sicherheit gibt. Und das endet schnell in einer Autokratie. Digitalisierung kann diesen Trend verstärken: Durch Massenüberwachung, zentrale, große Plattformen und Desinformation kann das Digitale dazu beitragen, dass wir in Abhängigkeitsverhältnisse geraten und Bürgerrechte verlieren.
Gleichzeitig macht Digitalisierung uns aber auch mächtiger. Wir sind so gut informiert wie nie zuvor. Wir können uns so leicht zusammentun wie noch nie und unsere Stimme hörbar machen. Wir können uns vernetzen, gemeinsam kluge Entscheidungen treffen (zum Beispiel mithilfe von Plattformen wie aula) und länderübergreifend über Werte und Normen sprechen. Wir können die Mächtigen besser kontrollieren und ihnen leichter öffentlich in die Parade fahren.
Macht uns das Internet jetzt also demokratischer oder weniger demokratisch? Weder noch. Das Internet macht es uns leichter, unseren eingeschlagenen Kurs zu verfolgen. Es ist ein Verstärker.
Geben wir uns der erlernten Hilflosigkeit hin, also pfeifen wir auf alles und ziehen uns ins Private zurück – dann macht das Internet es uns leicht, all unsere privaten Daten zu verkaufen, dann lassen wir uns bereitwillig überwachen, dann lassen wir uns mit den Informationen oder Spielen füttern, die wir brauchen, um im Kleinen glücklich zu sein.
Miniatur-Druckerpresse-deluxe in unserer Hosentasche
Fühlen wir uns hingegen als aktive Bürger:innen, achten auf unsere Umgebung und gestalten unsere Welt – dann macht das Internet es uns leicht, uns zu vernetzen, Demos zu organisieren, Wahlaufrufe zu verbreiten, Initiativen voranzubringen und mehr Bürger:innenbeteiligung zu entwickeln.
Es liegt alles in unserer Hand. Eine andere Bevölkerung gibt es ja nicht, so einfach ist das. Dies ist ein historisch einmaliger Zeitpunkt. Wir haben eine bahnbrechende neue Technologie zur Kommunikation. Es ist an uns, zu entscheiden, was das bedeutet.
Die Buchpresse, also die Möglichkeit, günstig Kopien von Büchern zu erstellen, wurde nicht bloß genutzt, um Propaganda der Herrschenden an ihr Volk zu verteilen. Ihr folgte die Bewegung der Aufklärung. Aus der Technik wurde der Anspruch, dass alle gebildet sein dürfen, dass alle die Kraft ihres Verstandes nutzen können – daraus folgt schließlich die Demokratie. Heute haben wir eine Miniatur-Druckerpresse-deluxe in unserer Hosentasche, eine vollkommen neue Technik. Was wir jetzt brauchen, ist nichts Geringeres als eine zweite Welle der Aufklärung.
Das klingt alles zu kompliziert? Gut, dann beginnen wir nicht mit internationaler Politik. Beginnen wir mit dem Fahrradständer. Beginnen wir mit dem Hafenmarkt. Beginnen wir mit der Bundestagswahl, reden wir mit unseren Eltern, Großeltern oder Kolleg:innen über Politik. Das ist die Macht, die wir haben. Es ist eine ganz reale Macht. Wenn wir sie nutzen, bauen wir sie aus. Das dürfen wir. Und es lohnt sich.
Viele liebe Grüße
Ihre Marina Weisband

Marina Weisband
Marina Weisband ist Diplom-Psychologin und in der politischen Bildung aktiv. Beim Verein „politik-digital“ leitet sie ein Projekt zur politischen Bildung und zur Beteiligung von Schülern und Schülerinnen an den Regeln und Angelegenheiten ihrer Schulen („aula“). Außerdem ist sie Co-Vorsitzende des digitalpolitischen Vereins D64. Von Mai 2011 bis April 2012 war sie politische Geschäftsführerin der Piratenpartei Deutschland. Heute ist sie Mitglied der Grünen. Sie lebt in Münster.
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