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Brief von Ruprecht Polenz | Warum der Föderalismus in der Krise hilft
Einen schönen Sonntag
wünsche ich Ihnen.
„Die Kunst des Anästhesisten ist nicht, dass jemand einschläft, sondern dass wir alle wieder aufwachen.“ An diesen Satz des Kanzleramtsministers Helge Braun muss ich jetzt oft denken, wenn darüber diskutiert wird, wann, wie und wo die Corona-Restriktionen schrittweise wieder gelockert werden könnten.
Es war schwierig genug, die Corona-Epidemie zu stoppen, die dabei war, sich exponentiell und damit rasend schnell auszubreiten. Gesteuert durch die Bundesregierung, 16 Landesregierungen und die Krisenstäbe in den über 400 Landkreisen und kreisfreien Städten hat unsere Gesellschaft das geschafft. Wenn wir uns weiter so solidarisch gegenseitig helfen und diszipliniert bleiben, wird das auch mit der schrittweisen Lockerung klappen, ohne dass die Epidemie unkontrollierbar aufflammt.
Manche haben gemeint, dass autoritär regierte Länder wie China besser mit der Pandemie fertig würden. Bei uns dauere alles viel zu lang. Aber die Beispiele von Russland und der Türkei zeigen, dass autoritäre Systeme keineswegs schneller oder besser darin sind, Gefahren rechtzeitig richtig einzuschätzen. Im Gegenteil. Vieles spricht dafür, dass in autoritären Staaten solche Gefahren länger verdrängt werden. Putin und Erdogan verschweigen solche Krisensignale wie bei Corona lieber, so lange es geht. Denn sie scheuen die allgemeine Krisen-Angst, weil sie die eigene Herrschaft gefährden könnte. Diese lebt schließlich auch von dem Nimbus, alles unter Kontrolle zu haben. Außerdem ist es ein Kennzeichen autoritärer Herrschaft, dass es den Machthabenden vor allem um die Sicherung ihrer Macht geht und weniger um das Wohlergehen der gesamten Bevölkerung.
Es ist deshalb kein Zufall, dass sieben Demokratien unter den zehn Staaten sind, die bisher am besten mit der Corona-Pandemie fertiggeworden sind, wie das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ schreibt. Deutschland belegt dabei nach Israel weltweit sogar den zweiten Platz. Und wenn es um die medizinische Versorgung der Corona-Kranken geht, liegt Deutschland sogar an der Spitze, wie ein Forbes-Artikel zeigt. Kein Wunder, dass man sich auch in anderen Ländern dafür interessiert, wie Deutschland das macht – die New York Times widmete dem Thema einen langen Artikel. „Vielleicht ist unsere größte Stärke in Deutschland die rationale Entscheidungsfindung auf höchster Regierungsebene, in Verbindung mit dem Vertrauen, das die Regierung in der Bevölkerung genießt“, zitiert die Zeitung den Chefvirologen der Universität Heidelberg, Prof. Dr. Hans-Georg Kräusslich.
Nach meiner Überzeugung hat auch der Föderalismus in Deutschland dazu beigetragen, dass wir bisher vergleichsweise gut durch die Krise gekommen sind. Sicher, Entscheidungen dauern etwas länger, wenn Bund und Länder sich abstimmen müssen. Außerdem gibt es bei aller Gemeinsamkeit im Vorgehen auch Unterschiede zwischen den Bundesländern, die sich nicht ohne weiteres erklären lassen. So durfte man nach dem Lockdown in Berlin und Sachsen-Anhalt weiter in Buchläden einkaufen. In allen anderen Ländern waren sie geschlossen worden. Aber die dort gesammelten Erfahrungen haben mit dazu geführt, dass Buchläden jetzt überall wieder geöffnet werden dürfen. So hilft der Föderalismus dabei, dass Deutschland aus unterschiedlichen Erfahrungen lernen kann. Gerade bei komplizierten Problemen ist es wichtig, aus verschiedenen Perspektiven draufzuschauen.
Eine hell erleuchtete Bühne
Es ist wie im Theater. In zentral regierten Staaten beleuchtet ein großer Scheinwerfer die Bühne. Im Föderalismus kommen viele weitere Scheinwerfer dazu, die das Bild aus unterschiedlichen Blickwinkeln ausleuchten. Das Bild wird plastisch, die Dimensionen werden besser erkennbar.
Wir haben deshalb den Lockdown-Prozess gut hinbekommen und alle Risiken und Nebenwirkungen dabei möglichst umfassend bedacht. Diese Lernfähigkeit sollte uns auch dabei helfen, den viel schwierigeren Lockerungsprozess zu bewältigen. Denn auch der will gelernt werden. Wir wissen noch immer zu wenig über das Virus. Es gibt keinen festen Fahrplan in die Normalität. Wir müssen uns wochenweise vortasten.
Apropos „Rückkehr zur Normalität“: In unsere VOR-Corona-Welt werden wir nie wieder zurückkehren können. Die Menschheit wird von jetzt an immer mit dem Virus leben müssen. Vielleicht wird unser Leben wieder ziemlich so, wie zuvor, wenn es erst einmal einen Impfstoff gibt. Aber das wird dauern. Optimistische (!) Schätzungen gehen davon aus, dass das in anderthalb Jahren der Fall sein könnte.
Es ist klar, dass wir bis dahin den gegenwärtigen Lockdown weder sozial noch wirtschaftlich durchhalten können. Und wirtschaftlich meint nicht irgendwelche Konzerne, sondern unsere eigene Existenz. Wir sollten uns deshalb eine NEUE NORMALITÄT vorstellen, die lebensfähig, lebenswert und mindestens so lange durchhaltbar ist, bis wir uns durch einen Impfstoff vor dem Virus schützen können.
Die Schulen nehmen auf dem Weg zu dieser neuen Normalität eine Schlüsselstellung ein. Niemand wird gezwungen, in ein Restaurant zu gehen, wenn diese wieder öffnen dürfen. Aber wir haben eine allgemeine Schulpflicht. Wann und wie die Schulen wieder geöffnet werden können, gehört deshalb zu den heikelsten Fragen, die jetzt von der Politik entschieden werden müssen.
Viele Aspekte müssen dabei neben den epidemiologischen berücksichtigt werden: pädagogische, soziale, bildungspolitische und gesellschaftspolitische wie auch die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Die Kultusministerkonferenz (KMK) steht deshalb vor keiner leichten Aufgabe, hier gemeinsame Empfehlungen an die Ministerpräsidentinnen und -präsidenten zu geben.
Letztlich wird es auch hier darauf ankommen, dass die Maßnahmen von einem breiten Konsens in der Bevölkerung getragen werden. Wir können uns ja schon mal fragen: Unter welchen Voraussetzungen würde ich zustimmen? Wenn schrittweise, dann wie? Wie viele Wochen lässt sich „Homeschooling“ noch aushalten? In der übernächsten Woche werden wir hören, wie die KMK diese Fragen beantworten will.
Zu den jetzt beschlossenen Lockerungsmaßnahmen gehört, dass die Zoologischen Gärten wieder öffnen dürfen. Auch unser Allwetter-Zoo in Münster freut sich bald doppelt über jede Besucherin und jeden Besucher. Deshalb kann man hier Gutscheine für ermäßigte Eintrittskarten erwerben.
Ihnen noch einen schönen Sonntag und eine gute Woche.
Bleiben wir Demokraten und bleiben Sie gesund.
Ihr
Ruprecht Polenz
Ruprecht Polenz
Viele Jahre lang war Ruprecht Polenz Mitglied des Rats der Stadt Münster, zuletzt als CDU-Fraktionsvorsitzender. Im Jahr 1994 ging er als Bundestagsabgeordneter nach Berlin. Er war unter anderem CDU-Generalsekretär, zwischen 2005 und 2013 Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags. Von 2000 bis 2016 war Ruprecht Polenz Mitglied des ZDF-Fernsehrats, ab 2002 hatte er den Vorsitz. Der gebürtige Bautzener lebt seit seinem Jura-Studium in Münster. 2020 erhielt Polenz die Auszeichnung „Goldener Blogger“.
Die Kolumne
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