- Newsletter
- Kolumnen
- Kolumne von Carla Reemtsma
Carla Reemtsmas erste Kolumne | Was nach der Krise möglich wird
Liebe Leser:innen,
am Mittwoch haben wir protestiert. In Datteln, in Berlin und in Münster. Am Samstag erneut. In der Stubengasse, vor dem Schloss, am Hafen-, Servatii- und am Bremer Platz. Was vor ein paar Wochen keine zwei Zeilen in den Nachrichten wert gewesen wäre, ruft in diesen Zeiten direkt ein befremdliches Gefühl hervor. Protest und das Hochhalten der Versammlungsfreiheit bringt einem vor allem ein Bild in den Sinn: dichtgedrängte Menschenmassen, die sich nicht einmal durch Abstandsregeln von Rechtsextremisten und Antisemitinnen abgrenzen.
Natürlich haben wir, die Aktivistinnen von „Fridays For Future“, Greenpeace, Seebrücke und Co. nicht gegen eine vermeintliche Impfpflicht oder eine Diktatur von Bill Gates protestiert. Stattdessen tragen wir die Themen auf die Straßen, über die wir vor Corona noch alle gemeinsam diskutiert haben: die Klimakrise.Die Situation in den Geflüchtetenlagern auf den griechischen Inseln. Das Kraftwerk Datteln 4. Der Ausbau der B51 bei Münster. Diese Probleme verschwinden in der Pandemie zwar aus dem politischen Blickfeld, aber sie sind damit nicht weg. Im Gegenteil: Durch unser Wegsehen bleiben sie weiterhin ungelöst und unbeantwortet. Wer in dieser Zeit Protest organisiert – mit Abstand, in kleinen Gruppen, ohne Verschwörungserzählungen – kann sich zwei Dingen sicher sein: der an Drangsalierung grenzenden Aufmerksamkeit der Ordnungsbehörden und dem Gefühl der Aussichtslosigkeit, jetzt politisch Gehör zu finden.
In den vergangenen Wochen hat das Coronavirus nicht nur das Verständnis von Gesellschaft durcheinandergewirbelt, sondern auch das Instrumentarium erprobter politischer Krisenbewältigungs-Maßnahmen. Ein Virus lässt sich eben weder wegregulieren noch diplomatisch wegappellieren. Selten wurde der Zielkonflikt zwischen Freiheit (tun und lassen, was man will) und Sicherheit (Ausbreitung des Corona-Virus verhindern) deutlicher sichtbar. Selten war aber auch genau dieser Konflikt zwischen Freiheit (alles so wie vor Corona) und Sicherheit (alles so wie vor Corona) so verworren.
Inmitten der Corona-Pandemie wird immer deutlicher, dass wir diese Krise nur gemeinschaftlich bewältigen werden. Weder Ordnungsamtsmitarbeiter noch Polizistinnen können Händewaschen oder Abstandsregeln durchsetzen. Hier brauchen wir alle die Mündigkeit und Solidarität unserer Mitmenschen. Plötzlich ist es jeder Einzelne, der durch umsichtiges Handeln im Privaten die Gesellschaft entweder weiter in die Krise stürzen – oder aber mit herausführen kann. Wie genau das aussehen muss und kann, hat Ruprecht Polenz bereits vergangene Woche an dieser Stelle beschrieben.
Doch bei all den Debatten über das Virus und seine Folgen kann ein Faktor schnell zu kurz kommen: Nie haben wir stärker gemerkt, was uns als Gesellschaft eigentlich ausmacht. Dass wir mehr sind als die Aneinanderreihung von Arbeiten, Schlafen und Essen zeigt sich dort, wo es in diesen Wochen gespenstisch still bleibt. Die Dinge, die dem Prinzipalmarkt Leben einhauchen, den Geist in Unigebäude tragen, Vereinsheime mit Kindergebrüll füllen, sind jetzt aus unserem Alltag gestrichen – mit verheerenden Folgen für unsere Zivilgesellschaft.
Wenn Gesellschaft mehr sein will als eine zufällige Anhäufung von Menschen an einem bestimmten Ort, brauchen wir gemeinsame Erlebnisse in realen Räumen. Auch wenn es abgedroschen klingt: Gesellschaft ist das, was wir daraus machen – auch und gerade während der Pandemie. Wie viel das sein kann, haben Münsteranerinnen und Münsteraner immer wieder gezeigt. Der gemeinsame Bau neuer Sportanlagen, Proteste für die Aufnahme Geflüchteter und gegen die Fällung der Platanenam Hansaring, studentische Nachhilfe für alle, Promenadenflohmärkte, Fahrradrepair-Cafés und, und, und.
Jetzt zeigt sich, was politisch möglich ist
Ihr solidarisches Gesicht hat die Gesellschaft zu Beginn der Krise schnell gezeigt: Nachbarschaftsnetzwerke, Einkaufshilfen, Gesprächshotlines tauchten von Münster bis München, von Chemnitz bis Greven in rasender Geschwindigkeit überall auf. Das Maskennähen wurde zum Volkssport und engagierte Lehrerinnen brachten Schülern ohne Zugang zu Computer oder Drucker Materialien nach Hause. In der akuten ersten Phase der Krise hat die Zivilgesellschaft an vielen Stelle Unglaubliches geleistet.
Werden wir in der Lage sein, uns nun vorsichtig auch die öffentlichen Räume gemeinsam wieder anzueignen, die vor der Krise Räume des Austauschens, Begegnens, Gedankenanstoßens, Zusammenkommens waren?
In der Pandemie zeigt sich, was politisch möglich ist, wenn die Dringlichkeit vor der eigenen Nase angekommen ist. Dann eröffnen sich Möglichkeiten – seien es Gesetze oder finanzielle Mittel –, die vor wenigen Wochen noch unvorstellbar gewesen wären. Und plötzlich erkennt auch eine Gesellschaft gezwungenermaßen, dass es neben ihrer Liebe zum Status Quo auch andere Wege gibt. Und es zeigen sich Handlungsmöglichkeiten für eine Gesellschaft, die sich sonst vornehmlich mit maximal zaghaften Variationen des Status Quo auseinandersetzt.
Gerade deshalb sind inmitten der Krise die gesellschaftlichen Aufgaben größerund wichtiger denn je. Einerseits, weil keine Landesregierung dafür gesorgt, dass Lehrer und Schülerinnen mit den technischen Möglichkeiten für digitalen Unterricht ausgestattet sind, Behelfsmasken in sozialen Einrichtungen zur Verfügung stehen oder Sportvereine Möglichkeiten für das Corona-konforme Außentraining haben. Noch immer hängt die Interpretation amtlicher Verordnungen und verklausulierter Vorgaben maßgeblich von uns ab. Wir erinnern uns: Gesellschaft ist das, was wir draus machen.
Andererseits werden neuerdings fast im Minutentakt politische Entscheidungengetroffen, deren Tragweite erst im Nachhinein deutlich wird. Während im letzten Jahr der Großteil der wissenschaftlichen Forderungen zur Eindämmung der Klimakrise abgesagt wurden, lässt sich die Bundesregierung in diesen Tagen nur zu gern auf die Wünsche der Autolobby ein. Während die Autolobby mit einem dreisten Selbstbewusstsein ökologisch, sozial und wirtschaftlich unsinnige Kaufprämien fordert, stehen die städtischen Bus- und Bahnbetreiber vor existenziellen Finanzierungsproblemen. Während an der türkisch-griechischen Grenze vor wenigen Wochen Geflüchtete von Grenzpolizei erschossen wurden, nimmt Deutschland 47 Kinder aus den überfüllten Lagern auf. Während die Lufthansa mit neun Milliarden Euro Steuergeldern ohne ökologische oder soziale Bedingungen gerettet wird, sollen sich Pflegekräfte mit feierabendlichen Klatschkonzerten zufriedengeben, weil sich die Große Koalition bei der Finanzierung nicht einig wird. Diese Entscheidungen fallen nicht vom Himmel, sie werden von Ministerinnen im Regierungsviertel getroffen. Wir können den Lobbyisten mit dem besten Draht ins Kanzleramt das Feld überlassen, oder wir können uns einmischen. Und wieder: Gesellschaft ist das, was wir draus machen.
Unerwartete Allianzen formen sich
Passenderweise entscheidet die Bundesregierung in der kommenden Woche über ein milliardenschweres Wirtschaftsbelebungspaket. Es wird eine Weichenstellung für den Weg aus der Coronakrise sein und maßgeblich darüber entscheiden, ob wir mit Steuermilliarden krampfhaft an den Strukturen und Gewohnheiten der Vor-Corona-Zeiten festhalten, oder ob wir uns tatsächlich ernst gemeinte Gedanken über eine sozial, ökonomisch und ökologisch nachhaltige und krisenfeste Welt nach der Pandemie machen.
Es formieren sich unerwartete Allianzen in diesen Tagen, wenn etwa die Flugbegleiter-Gewerkschaft UFO bei den Verhandlungen über die Rettung der Lufthansa nicht nur den Mangel an Garantien für die Mitarbeitenden moniert, sondern auch die fehlenden Klimaziele.
Den Erfolg der Maßnahmen an schnellem Wachstum bemessen zu wollen, verkennt die Dramatik und Allumfassenheit der Krise. Wenn kurzfristiger wirtschaftlicher Erfolg andere Krisen verschärft, dringend notwendige Transformation verunmöglicht und nicht nur auf Kosten des Klimas sondern auch der wachsenden sozialen Ungleichheit geht, dann haben die Maßnahmen gar nichts für eine nachhaltige Krisenbewältigung geleistet. Dann haben sie vor allem Kosten in unvorstellbarer Höhefür die kommenden Generationen verursacht – in Form von Schulden, verschleppten Investitionen und auf der Strecke gebliebenen politischen Problemen.
„Physical distancing“ hat die zivilgesellschaftlichen Räume vielfach leergefegt. Es braucht Kreativität und Umsicht, um sie wieder zurückzuerobern. In Anbetracht der Entscheidungen der kommenden Wochen ist es aber umso wichtiger, sie mit den Stimmen für eine zukunftsfähige Krisenpolitik zu füllen, die im Gewirr dervielfach lauteren Lobbyistinnen und Corona-Skeptiker nicht so einfach ausgeblendet werden können. Die Maßstäbe, die wir jetzt setzen, werden darüber entscheiden, ob wir auch in einigen Jahren noch von erfolgreicher Krisenbewältigung sprechen können.
Politisch ist Ungeahntes möglich in diesen Zeiten. Machen wir was draus.
Ihre
Carla Reemtsma
Carla Reemtsma
Im Januar 2019 hat Carla Reemtsma den ersten Klimastreik in Münster organisiert. Es war eine kleine Kundgebung im Nieselregeln vor dem historischen Rathaus am Prinzipalmarkt. Wenige Wochen später sprach das ganze Land über die Klima-Proteste der „Fridays For Future“-Bewegung. Der Rat der Stadt Münster beschloss das Ziel Klimaneutralität 2030. Inzwischen ist Carla Reemtsma eine der bekanntesten deutschen Klimaaktivistinnen. Geboren wurde sie in Berlin.
Die Kolumne
Immer sonntags schicken wir Ihnen eine Kolumne. Das sind Texte, in denen unsere acht Kolumnistinnen und Kolumnisten Themen analysieren, bewerten und kommentieren. Die Texte geben ihre eigene Meinung wieder, nicht die der Redaktion. Mitgliedschaften in politischen Parteien oder Organisationen machen wir transparent. Wenn Sie zu den Themen der Kolumnen andere Meinungen haben, schreiben Sie uns gern. Wenn Sie möchten, veröffentlichen wir Ihre Zuschrift im RUMS-Brief. Wenn Sie in unseren Texten Fehler finden, freuen wir uns über Hinweise. Die Korrekturen veröffentlichen wir ebenfalls im RUMS-Brief.
Ihnen gefällt dieser Beitrag?
Wir haben Ihnen diesen Artikel kostenlos freigeschaltet. Doch das ist nur eine Ausnahme. Denn RUMS ist normalerweise kostenpflichtig (warum, lesen Sie hier).
Mit einem Abo bekommen Sie:
- 2x pro Woche unsere Briefe per E-Mail, dazu sonntags eine Kolumne von wechselnden Autor:innen
- vollen Zugriff auf alle Beiträge, Reportagen und Briefe auf der Website
- Zeit, sich alles in Ruhe anzuschauen: Die ersten 6 Monate zahlen Sie nur einen Euro.
Wir freuen uns sehr, wenn wir Sie ab heute in der RUMS-Community begrüßen dürfen!