Marina Weisbands Kolumne | Digitalisierung an Schulen | Warum die Krise das Problem nicht löst

Porträt von Marina Weisband
Mit Marina Weisband

Liebe Leser*innen,

seit Jahren schon fahre ich durch die Bundesrepublik und rede in Schulen über Digitalisierung und ihre Herausforderungen. “Was haben Sie ein Glück, Frau Weisband”, bekomme ich nun gesagt: “Corona ist ja praktisch ein Kickstart für die Digitalisierung an Schulen.” Ich bin mir da aber nicht sicher.

Die Probleme, über die wir in unseren Schulen in den vergangenen Wochen gestolpert sind, sind nicht notwendigerweise die, über die wir seit Jahren sprechen. Es sind neue hinzugekommen. Eines der größten ist, dass viele Schüler*innen in sehr ungleichen Verhältnissen leben.

Selbst eine gut situierte Familie mit drei Kindern hat oft nicht für jedes Kind einen Computerarbeitsplatz in einem getrennten Raum. Das bedeutet: Nicht alle Kinder können gleichzeitig an Präsenzveranstaltungen teilnehmen, ohne sich gegenseitig ins Wort zu fallen.Und das führt zu interessanten Fragen wie: Ist es fair, Schüler*innen einen Text schreiben zu lassen, wenn einige von ihnen Zugang zu einem Computer mit Tastatur haben, andere aber nur ein Smartphone?

Das ist nichts, was wir verschlafen haben. Das hat nichts mit unserem Bildungssystem zu tun. Es ist ein Problem, das sich mit Corona ergeben hat.

Das andere ist: Es gibt bestimmte Lehrer*innen und Klassen, die besser mit dieser neuen Situation zurechtkommen, weil sie auch bislang schon einen Arbeitsmodus hatten, der auch ohne Klassenzimmer funktioniert. Diese Klassen lernen schon jetzt individueller. Sie lernen dezentraler. Und sie lernen projektbezogen.

Der Klassenraum verliert seinen alten Sinn

Früher war das Klassenzimmer der Raum, in dem Wissen vermittelt wurde. Es gab die Vorstellung vom Silo-Lernen. Der Kopf ist ein Silo, das mit Wissen befüllt werden will. Das Wissen befindet sich in der Schule. Dort wird es über den Schüler*innen ausgeschüttet.

Heutzutage liegt das Wissen auf der Straße. Es ist überall. Es gibt viel zu viele Informationen. Wir brauchen die Fähigkeit, diese Informationen so zu verknüpfen, dass Wissen entsteht. Wir müssen sie filtern können. Wir müssen unterscheiden können: Was sind gute Quellen, was sind schlechte. Das entspricht eher der Idee von Lernen für eine digitalisierte Welt als PDF-Arbeitsblätter auf Tablets.

Der Klassenraum mit seinen vier Wänden, jenseits derer nichts gelernt wird, hat seinen ursprünglichen Sinn verloren.

Wenn wir Fremdsprachen lehren, können wir Muttersprachler*innen in diesen Prozess miteinbeziehen. Dazu muss niemand reisen. Auch Lehrer*innen müssen sich nicht zwingend im gleichen Raum befinden.

Warum getrennte Fächer?

Der zweite Punkt ist: In Vorstellung des Silo-Lernens hat die strenge Trennung von Fächern einen Sinn. Wenn wir projektbezogen arbeiten, ist das anders. Wir fangen nicht an mit: Heute ist die binomische Formel dran. Sondern mit der Aufforderung: Sucht euch ein Wirbeltier aus und präsentiert sein Fortpflanzungsverhalten. Schreibt einen Text oder nutzt digitale Medien. Dreht ein Video oder macht eine Präsentation. Ihr habt die ganze Woche Zeit.

Mit einer strengen Fächertrennung ist das schwer vereinbar. Aber warum sollte man das auch tun? Keines unserer modernen Probleme beschränkt sich auf ein Fachgebiet. Ob Corona oder Klimawandel – dass Menschen es nicht gewohnt sind, interdisziplinär zu arbeiten, erschwert sehr oft die Lösung. Das ist etwas, das Schüler*innen dringend lernen müssen. Und das ist etwas, für das projektorientiertes Lernen sich anbietet.

Schüler*innen recherchieren dabei eigenständig. Aber es gibt eine pädagogische Fachkraft, die sagen kann: „Diese Quelle scheint geeigneter, diese weniger verlässlich. Das ist hieran zu erkennen.“

Schüler*innen geben sich gegenseitig Feedback

Ein dritter Aspekt ist: Das Feedback kommt bislang vor allem von der Lehrkraft. Ich höre aber von vielen Lehrer*innen, dass es derzeit kaum möglich ist, zu jeder Wochenaufgabe ein Feedback zu geben. Das hat zur Folge, dass die Schüler*innen frustriert sind. Sie investieren viel Arbeit, bekommen aber gar nichts zurück.

Hier ist das Konzept des Peer-Feedbacks wertvoll. Das bedeutet: Wir gewöhnen uns an, nicht alles auf die Lehrer*innen auszurichten. Die Schüler*innen geben sich gegenseitig Feedback, schauen sich ihre Arbeiten an, erarbeiten miteinander gute Lösungen. Und das können sie sehr gut.

Zusammengenommen ist das alles viel mehr als ein neuer Arbeitsmodus. Es ist eine andere Kultur, die wir verstehen und in der wir uns zurechtfinden müssen. Ich versuche seit Jahren, unter anderem über das Projekt aula.de, Schulen auf diesem Weg zu begleiten. Das ist kompliziert genug, wenn man zusammen in einem Raum sitzt. Aus der Distanz lässt es sich kaum bewältigen. Ein Kulturwandel wird daher erst möglich sein, wenn der Ausnahmezustand vorbei ist.

Doch zuallererst müssen wir die Voraussetzungen schaffen. Digitalisierung ist Beziehungsarbeit. An den Schulen werden wir durch die Digitalisierung mehr Personal brauchen, nicht weniger.

Digitalisierung ist nicht die Suche nach Tools

Wir werden multiprofessionelle Teams benötigen. Wir brauchen mehr Sozialpädagog*innen. Wir brauchen Verwaltung an den Schulen,Administrations- und Support-Kräfte für die Technik, damit wir Lehrer*innen all diese Aufgaben von den Schultern nehmen, die sie im Moment nebenbei erledigen müssen. Lehrer*innen müssen sich auf die Lehre konzentrieren, denn das ist ihre Aufgabe.

Wenn diese Bedingungen hergestellt sind, können wir über die Lehre in der Digitalität sprechen. Doch auch das geht nicht nebenbei. Es erfordert politische Investitionen, vor allem aber den Willen.

Ich weiß nicht, ob diese Krise tatsächlich dazu beitragen wird, die Lernkultur zu verändern. Ich hoffe aber, dass wir in der Debatte einen leidigen Punkt überwinden werden: das Missverständnis, dass Digitalisierung in erster Linie die Suche nach Tools sei.

Es ist gut, dass viele Lehrer*innen jetzt entdecken, dass es Videokonferenzen gibt, dass man Umfragen machen und Dokumente gemeinsam online bearbeiten kann. Doch das ist nur der erste Schritt.

Am Ende dieser Krise steht hoffentlich die Erkenntnis, dass es diese Werkzeuge gibt, dass wir sie einsetzen können. Und dann kann endlich die Debatte darüber beginnen, was wir mit ihnen anfangen.

Morgen schreibt Ihnen wieder Katrin Jäger. Bleiben Sie gesund!

Viele liebe Grüße
Marina Weisband

Porträt von Marina Weisband

Marina Weisband

Marina Weisband ist Diplom-Psychologin und in der politischen Bildung aktiv. Beim Verein „politik-digital“ leitet sie ein Projekt zur politischen Bildung und zur Beteiligung von Schülern und Schülerinnen an den Regeln und Angelegenheiten ihrer Schulen („aula“). Außerdem ist sie Co-Vorsitzende des digitalpolitischen Vereins D64. Von Mai 2011 bis April 2012 war sie politische Geschäftsführerin der Piratenpartei Deutschland. Heute ist sie Mitglied der Grünen. Sie lebt in Münster.

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