- Newsletter
- Kolumnen
- Kolumne von Marina Weisband
Marina Weisbands Kolumne | Wir brauchen Einstiegsdrogen in die Demokratie
Liebe Leser*innen,
ich wünschte, Hygienedemos wären etwas, das sich nur auf Berlin beschränkt. Himmel, ich wünschte, es gäbe sie gar nicht. Aber auch hier in Münster standen Leute am Schlossplatz, die sich in der Öffentlichkeit halbwegs verhalten äußerten, aber in ihren Telegram-Gruppen umso härtere Verschwörungsmythen abließen. Warum ist unsere schöne, so überdurchschnittlich gebildete Stadt nur so anfällig für Verschwörungserzählungen?
Die einfache Erklärung: Es geht oft gar nicht um Bildung, sondern um etwas ganz anderes. Um Gefühle, Ohnmacht, Angst und den Umgang damit. Wir alle erleben im Moment eine Situation, in der uns ein unsichtbares Naturereignis die Normalität unter den Füßen wegreißt. Es ist sehr schwer auszuhalten, dass dieses Ereignis nicht einfach zu erklären oder sogar aufzulösen ist, sondern auf einer komplexen Kette von Abhängigkeiten beruht. Der Zufall spielt eine große Rolle. Die Bedrohung ist unsichtbar.
Die meisten Menschen halten das aus. Aber einige reagieren auf diesen Kontrollverlust mit dem Wunsch nach Vereinfachung. Sie fangen an, die Welt in Gut und Böse zu unterteilen. Sie nehmen an, dass es jemanden gibt, der hinter allem steckt und auf den sie wütend sein können. Das ist vieleinfacher, als die Herausforderung anzunehmen, vor der wir alle stehen. Diese Menschenpersonifizieren das Böse, in diesem Fall durch Bill Gates oder Angela Merkel. Die Personifizierung ist wichtig für sie. Es ist nämlich sehr viel leichter, wütend auf jemanden zu sein als verwirrt, unsicher und ängstlich. Und dass es die Guten und die Bösen gibt, ist sogar dann tröstlich, wenn man glaubt, als Guter keine Chance zu haben, weil die Bösen übermächtig sind.
Bildung und Aufklärung über Fakten helfen deshalb nicht allein gegen Verschwörungsmythen, weil es nicht um Wissen geht. Es geht um Gefühle. Menschen fehlt nicht Wissen – ihnen fehlt die Fähigkeit, Nichtwissen auszuhalten.
Wir erleben natürlich nicht zum ersten Mal eine Situation, in der Menschen Kontrollverlust fühlen. Mit der Globalisierung ging es uns ähnlich, auch mit der Digitalisierung, eigentlich mit jeglicher Art von Fortschritt. Menschen haben das Gefühl, keine Kontrolle über diese Situationen zu haben. Sie fühlen sich abgehängt und machtlos. Das Gefühl ist so unheimlich, dass der Geist dies mit einer Erzählung vom Widerstand kompensiert.
Nicht alle Menschen sind gleich anfällig für Verschwörungserzählungen. Wer zum Beispiel gut integriert ist und Hilfe um sich herum fühlt, ist schon mal ein bisschen weniger anfällig – ebenso wer prinzipiell gut damit umgehen kann, Kontrolle zu verlieren, und auch Nichtwissen besser aushält.
Generell glauben Männer rein statistisch eher an Verschwörungsmythen als Frauen. Sie haben ein starkes Bedürfnis nach Kontrolle, denn das entspricht ihrer gesellschaftlichen Rolle – der des Machers, des Entscheiders, des entschlossenen Kämpfers. In so einer Rolle lässt es sich schwer aushalten, wenn etwas passiert, das man weder sehen noch kontrollieren kann. Männer verwandeln ihre Ängstlichkeit zudem öfter in Wut. Auch das ist eine Rolle, die ihnen sozial zugeschrieben wird. Wut hat eine positive Funktion, denn sie aktiviert und man kann sie gegen jemanden richten oder gegen etwas.
Verschwörungsmythen sind ansteckend
Die Hygiene-Demos sind allerdings eher hilflose Aktionen, aber zumindest fühlen sie sich nach eigenem Handeln an. Die Menschen verlassen das Haus, treffen sich mit anderen Menschen. Sie skandieren, malen mit Kreide irgendetwas auf die Straße. Sie tun etwas. Und etwas zu tun, hat einen heilsamen psychischen Effekt.
Auf diese Weise können wir die Hygiene-Demos erklären. Aber das macht sie nicht sinnvoll. Sie sind sogar gefährlich, denn Verschwörungsmythen sind ansteckend. Sie funktionieren wie ein Sumpf. Man sinkt immer weiter ein.
Ich vergleiche sie gern mit einer Zwiebel. Ganz außen finden die Menschen Aussagen, deren Inhalte viele noch ein bisschen verstehen und teilen: Die Regierung nimmt sich mehr Rechte heraus, als sie sollte. Vielleicht war die Reaktion auf Corona übertrieben. Etwas weiter innen geraten viele dann in Kontakt mit der nächsten noch etwas steileren These: Vielleicht haben die Regierungen der Welt ein koordiniertes Interesse an diesem Vorgehen. So geraten manche immer tiefer hinein. Im Kern der Zwiebel steht oft die sogenannte Judenfrage.
Hier kommt Rechtsradikalismus ins Spiel. Er ist mit Verschwörungstheorien sehr eng verwoben. Das sehen wir auch bei den Hygiene-Demonstrationen. Radikale versuchen, diese Veranstaltungen zu kapern. Und wir sehen, dass sogar Leute, die eigentlich nichts mit Rechtsradikalismus zu tun haben, dort anfällig sind für die Rekrutierung. Auch Antisemitismus spielt dort eine Rolle. Auch wenn die Juden nicht benannt werden, geht es oft um eine heimliche kleine Machtelite. Und da ist man sehr schnell bei ihnen – oft ganz explizit.
Zwischen Diskurs und Irrglauben
Das Interessante an der Zwiebel ist: Wo auch immer die Anhängerinnen und Anhänger der jeweiligen Theorie sich in ihr befinden, sie glauben immer, die Wahrheit gefunden zu haben. Jeder, der weiter außen ist, gilt als ein Schlafschaf, das blind ist für die Zusammenhänge. Weiter innen befinden sich die radikalen Freaks. Man selbst steht in der goldenen Mitte. In der Tendenz bewegt man sich aber immer weiter ins Innere. Das heißt, wenn die Leute schreien: „Gebt Gates keine Chance!“, wie hier in Münster am vergangenen Samstag, dann sind sie auf dem Weg ins Innere dieser Zwiebel. Und daraus entsteht eine Stimmung. Daraus entsteht die Ablehnung von Wissenschaft, von Journalismus, von öffentlichem Diskurs und von rationalem Denken.
Irgendwann gibt es kaum noch eine gemeinsame Grundlage, auf der wir mit ihnen diskutieren können.
Gefährlich wird es, wenn Menschen bessere Argumente nicht mehr gelten lassen. Unmöglich wird das, wenn am eigenen Argument mehr hängt als eine rationale Überzeugung – etwa die eigene Identität, das Sicherheitsgefühl, der emotionale Schutz.
Es gibt eine Grenze, an der die rationale argumentative Diskussion endet. An dieser Stelle beginnt der irrationale Glauben an Verschwörungen.
Die emotionale Verbindung
Viele Menschen denken, sie könnten dem einfach Aufklärung und Fakten entgegensetzen. Aber das funktioniert nicht, denn es geht um die emotionale Schutzfunktion. Es ist egal, welche Fakten wir den Leuten präsentieren. Sie werden sie ablehnen, denn die Fakten bedrohen ihren persönlichen Schutzschild. Auch bei Fremden besteht kaum eine Chance, sie von ihrem Verschwörungsglauben abzubringen. Bei Freunden oder Menschen aus der Familie dagegen ist es möglich und sinnvoll.
Stellen wir fest, dass Menschen mit rationalen Argumenten kaum noch zu erreichen sind, ist es wichtig, eine emotionale Verbindung zu ihnen aufzubauen. Möglichst eine Emotion, die beide teilen. Nehmen wir die Wut auf die Regierung. Die habe ich auch – weil ich mich ärgere, wie Familien in dieser Zeit alleingelassen werden. Darüber kann ich mit diesen Menschen reden. Ich kann sagen: Ich fühle mich auch machtlos. Dann können wir uns darüber austauschen, wie wir damit umgehen, was uns hilft.
Wir müssen ja nicht gleich über die Verschwörungsmythen reden. Es hilft, zunächst über etwas anderes zu sprechen – über etwas, das sich auf der emotionalen Ebene abspielt. Viele dieser Menschen auf den Hygiene-Demos haben in ihrem Leben ja ganz reale Einbußen. So nähern wir uns langsam an. Und irgendwann können wir auch über die Verschwörungen sprechen.
Dabei geht es nicht darum, die ganze Verschwörungserzählung zu widerlegen. Aber wir können einzelne Argumente in Frage stellen. Das geht händisch, aber auch mithilfe von Factchecks aus dem Internet. Wichtig ist, sich niemals nur auf diese Ebene zu begeben, sondern immer die emotionale Verbindung zu dem anderen Menschen zu halten. Gelingt das nicht, ist es ihm egal, welche Argumente er hört. Wenn er nur die Wahl hat zwischen seiner psychologischen Schutzfunktion und einem Factcheck-Artikel, wird er sich immer für die Schutzfunktion entscheiden. Aber wenn er sich entscheiden kann zwischen seiner psychologischen Schutzfunktion und einer warmen menschlichen Freundschaft, sieht das gleich anders aus.
Einstiegsdrogen in die Demokratie
Manchmal kommen wir als Einzelperson einfach nicht weiter. Immerhin zeigen die Demonstrationen auch eine gewisse Trennung in unserer Gesellschaft. Ein Problem mit strukturellem Kontrollverlust. Also sollte ihm auch strukturell begegnet werden. Die Frage ist, wie schaffen wir es, die Akzeptanz von demokratischen Prozessen zu erhöhen? Wie gibt man Menschen ein Gefühl der Selbstwirksamkeit in ihrer eigenen Gesellschaft?
Wer sich nie an politischen Prozessen beteiligt hat, weiß nicht, wie einfach das oft ist. Wir brauchen also Einstiegsdrogen in die Demokratie. Dabei geht es darum, Beteiligung sehr niedrigschwellig und mit einer hohen Akzeptanz zu ermöglichen. Aber dann – und das ist der schwierige Teil – muss die Beteiligung verbindlich sein. Es reicht nicht, wenn im Ergebnis Vorschläge entstehen, die nicht umgesetzt werden. Das ist auch der Grund, warum der Bürgerrat in Münster so eine geringe Beteiligung zu beklagen hatte – Menschen machen sich nicht die Mühe, zu recherchieren und sich einzubringen, wenn das Ergebnis nichts verbindlich bewirkt. Es müssen verbindliche Ergebnisse entstehen, auch wenn es nicht um die ganz großen Fragen gehen muss. Schon wenn Menschen darüber entscheiden dürfen, ob ein Fahrradständer aufgestellt wird, wird ihre Selbstwirksamkeit dadurch größer – also die Erwartung, dass sich in der Welt etwas verändert, wenn sie aktiv werden.
Manche Entscheidungen sind besser geeignet für Beteiligung als andere. Eine Ringlinie auszugestalten ist vor allem eine Optimierungsaufgabe, in der viele Elemente eine Rolle spielen und die Verwaltung und Stadtwerke – besser oder schlechter – lösen können. Fragen wie die Umbenennung des Hindenburgplatzes hingegen sind normativ. Sie sind emotional, haben das Potential zu spalten und definieren, wer wir als Gesellschaft sein wollen. Diese Fragen sind ohne Bürgerbeteiligung kaum zu lösen, ohne enormen Protest auszulösen.
Münster könnte einen Schritt machen
In Irland wurde die enorm emotionale und normative Frage, ob Abtreibungen erlaubt sein sollen, und ob die Ehe für alle legalisiert werden solle, von Bürgerräten entschieden, deren Zusammensetzung zufällig ausgelost wurde. Die Räte haben darüber diskutiert, Antworten gefunden und einen demokratischen Entschluss gefasst. Für Irland war das die einzige Chance, diese heiklen, potenziell spaltenden Themen auf eine Weise zu beschließen, die von der Bevölkerung akzeptiert wird.
Auch die mittelfristigen Corona-Schutzregeln, so wie die Frage nach dieser „neuen Normalität“, die NRW-Ministerpräsident Armin Laschet formuliert, sind eine normative Frage, an der viele Emotionen und Lebensrealitäten hängen. Hier könnte Münster einen Schritt machen und für die Bestimmungen, über die die Stadt selbst entscheiden kann, Bürgerinnen und Bürger aus den verschiedenen Stadtteilen, Geschlechtern und Berufen zusammenlosen, um der Verwaltung offizielle Empfehlungen zu geben. Würde das so gemacht, wären die Schutzmaßnahmen mit einer viel größeren Akzeptanz verbunden, als wenn die Regeln von oben herab erlassen werden.
Wir können diese Welt nicht kontrollieren. Sie ist riesig und unüberschaubar. Aber innerhalb unserer Stadt können wir uns zusammensetzen und verantwortungsbewusst entscheiden, wie wir einander schützen wollen. Das beugt nicht nur Verschwörungsmythen vor. Es macht uns alle stärker.
Viele liebe Grüße
Marina Weisband
Marina Weisband
Marina Weisband ist Diplom-Psychologin und in der politischen Bildung aktiv. Beim Verein „politik-digital“ leitet sie ein Projekt zur politischen Bildung und zur Beteiligung von Schülern und Schülerinnen an den Regeln und Angelegenheiten ihrer Schulen („aula“). Außerdem ist sie Co-Vorsitzende des digitalpolitischen Vereins D64. Von Mai 2011 bis April 2012 war sie politische Geschäftsführerin der Piratenpartei Deutschland. Heute ist sie Mitglied der Grünen. Sie lebt in Münster.
Die RUMS-Kolumnen
Immer sonntags schicken wir Ihnen eine Kolumne. Das sind Texte, in denen unsere acht Kolumnistinnen und Kolumnisten Themen analysieren, bewerten und kommentieren. Die Texte geben ihre eigene Meinung wieder, nicht die der Redaktion. Mitgliedschaften in politischen Parteien oder Organisationen machen wir transparent. Wenn Sie zu den Themen der Kolumnen andere Meinungen haben, schreiben Sie uns gern. Wenn Sie möchten, veröffentlichen wir Ihre Zuschrift im RUMS-Brief. Wenn Sie in unseren Texten Fehler finden, freuen wir uns über Hinweise. Die Korrekturen veröffentlichen wir ebenfalls im RUMS-Brief.
Ihnen gefällt dieser Beitrag?
Wir haben Ihnen diesen Artikel kostenlos freigeschaltet. Doch das ist nur eine Ausnahme. Denn RUMS ist normalerweise kostenpflichtig (warum, lesen Sie hier).
Mit einem Abo bekommen Sie:
- 2x pro Woche unsere Briefe per E-Mail, dazu sonntags eine Kolumne von wechselnden Autor:innen
- vollen Zugriff auf alle Beiträge, Reportagen und Briefe auf der Website
- Zeit, sich alles in Ruhe anzuschauen: Die ersten 6 Monate zahlen Sie nur einen Euro.
Wir freuen uns sehr, wenn wir Sie ab heute in der RUMS-Community begrüßen dürfen!