Der Kultur-Brief von Christoph Tiemann | Woker Sinn am Kleinen Bühnenboden

Portrait Christoph Tiemann (Kultur-Kolumne)
Mit Christoph Tiemann

Guten Tag,

mit der Sturheit und dem Kampfgeist eines gallischen Dorfes hält sich seit mehr als 40 Jahren ein wackeres kleines Kammertheater an der Schillerstraße: Eine von unbeugsamen Künstlern bevölkerte Bühne hört nicht auf, den Widrigkeiten des freien Kulturbetriebs Widerstand zu leisten.

Aber jetzt spinnen sie, die Intendanten. Schon 14 Spielzeiten lang lenkt das Gespann aus Toto Hölters und Konrad Haller Geschicke und Geschichten des kleinen Bühnenbodens, im September haben sie feierlich Spielzeit Nummer 15 eröffnet. Seitdem schlägt jedem Besucher, der den Weg in den dramatischen Hinterhof findet, ein grellbuntes Banner entgegen. Schon bei der Farbgebung denkt manch einer an Erbrochenes: blassgrüne Schrift auf orangefarbenem Grund. Aber spätestens beim aufgedruckten Wort kommt es vielen hoch: WOKE.

Das ist die schrille Überschrift der Spielzeit 2025/26 am Kleinen Bühnenboden. Ausgerechnet woke, dieser ausgelutschte Kampf- und Inbegriff fürs links-grüne „übers-Ziel-Hinausschießen“, dieses Synonym für Bevormundungspolitik, für Regulierungswahn, Sprachpolizei und Meinungsdiktatur.

Von links ist „woke“ kaum noch zu hören, man geht eher in Deckung, wenn einem der Begriff von rechts um die Ohren gepfeffert wird. Donald Trump sagt, „die woken Zeiten sind vorbei“, Kriegsminister Peter Hegseth will keinen „woken Scheiß“ mehr in der US-Armee und auch Beatrix von Storch attestierte im Bundestag: „Der woke Wahnsinn, der geht nun langsam zu Ende.“

„Das ist mir alles schon zu woke“

Trumps Make-America-Great-Again-Bewegung hat vieles erreicht: In den letzten Jahren ist es den MAGAs gelungen, jedweden parteiinternen Widerstand zu brechen und so die Grand Old Party komplett zu übernehmen. Ich kann mir tatsächlich vorstellen, dass wir eine Umbenennung noch miterleben werden.

Die Trumpisten haben es geschafft, das Vertrauen in die Gerichte, in die Presse und in die Wahlen nachhaltig und in ihrem Sinne zu erschüttern – und sie haben einen vormals positiv besetzten Begriff erfolgreich diskreditiert, umgewertet und zum toxischen Kampfmittel im Kulturkampf gemacht.

Dass man heute schon in der politischen Mitte beim Wort woke die Augen verdreht oder beim Versuch, auch Minderheiten in der Sprache zu repräsentieren, abwinkt mit den Worten „Puh, das ist mir alles schon zu woke“ – das ist der Erfolg der MAGAs und ihrer europäischen Geschwister.

Der Begriff woke ist mit knapp 90 Jahren viel älter als die aktuelle Diskussion vermuten lässt. Einer, der ihn prägte, war der Bluesmusiker Hudson Ledbetter (*1888), besser bekannt unter seinem Künstlernamen Leadbelly. In den 1930ern machte ein Folklorist für seine Forschungen zur amerikanischen Musik Aufnahmen von Leadbelly und befragte ihn bei dieser Gelegenheit auch nach seiner Inspiration für seine Texte.

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Leadbellys Song „Scotssboro Boys“ handelt von den neun jungen Afroamerikanern, die 1931 der Vergewaltigung beschuldigt wurden und innerhalb nur eines Prozesstages von einer ausschließlich aus Weißen bestehenden Jury für schuldig befunden und zum Tod verurteilt wurden. In seinem Song erzählt Leadbelly, wie leicht junge Schwarze unter falschem Verdacht verhaftet würden.

„I advise everybody to be a little careful when you go along, keep your eyes open, stay woke.“

„Ich rate allen, vorsichtig zu sein, wenn sie unterwegs sind, die Augen offen zu halten und wachsam zu bleiben.“

„Stay woke! – Bleibe wachsam!“ wurde ein Mantra gegen die ständige Polizei-Willkür, die gerade im Süden der USA herrschte. Leadbellys Rat drang ins kollektive Gedächtnis der schwarzen Amerikaner, hallte nach bis ins Jahr 2013: das Jahr, in dem der Highschool-Schüler Trayvon Martin von einem Mann der Nachbarschaftswache erschossen wurde – weil er einen Hoodie trug.

Der Ruf wurde zum Credo

Das Echo wurde lauter, als im darauffolgenden Jahr zuerst der asthmakranke Eric Garner im Würgegriff eines Polizisten starb („I can’t breathe“) und wenige Wochen darauf der Schüler Michael Brown von einem Polizisten in Ferguson, Missouri erschossen wurde.

Die Menschen gingen auf die Straße und riefen nicht nur „Black Lives Matter“, auch Leadbellys Rat wurde zum Mantra der Bewegung: stay woke – bleibe wachsam!

Der Ruf wuchs in den nächsten Jahren zu einem Credo, zum Versprechen wachsam zu sein – nicht nur bei rassistischer, sondern auch bei sexistischer Diskriminierung oder sozialer Benachteiligung – bis es dem Begriff so erging wie schon dem „Gutmenschen“ vor ihm. 
„Woke“ wurde von rechts vereinnahmt und vergiftet, auf alles geklebt, was im Weltbild der gar nicht mehr so neuen Rechten „linker Unsinn“ war, auf Gendersternchen, Veggie-Würste, feministische Außenpolitik, Klimaschutz. Die Wachsamkeit wurde verhöhnt, verspottet, abgewertet.

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Mit großem Erfolg, denke ich immer wieder, wenn vernunftbegabte Menschen aus meinem Umfeld finden, „… dass das auch irgendwie überhand nimmt und man ja immer aufpassen muss, was man sagt, jetzt, wo alle plötzlich so schrecklich woke sind.“

Toto Hölters und Konrad Haller haben sich des geschundenen Begriffs angenommen. Mutig schreiben sie das Wort, das keiner mehr so richtig leiden kann, auf ihre Theaterwand und über ihren Spielplan.

„Ich wollte Liebe und lernte hassen“ macht die Zuschauenden wach für Menschen, die in sozialer Isolation leben, „Prima Facie“ schaut auf die patriarchalen Strukturen der Justiz, Bertha von Suttners Monolog „Rebellischer Friedensengel“ rüttelt uns auf, damit wir bei all der einlullenden Propaganda nicht vergessen, wie grauenhaft der Krieg ist.

Hinsehen, wo Unrecht geschieht

Dazu noch „Odysseus‘ letzter Weg“ als Uraufführung, die uralte Geschichte eines Mannes, der seine Welt nicht mehr versteht – wie passend in diesen Tagen – und der Klassiker „Biedermann und die Brandstifter“, der jetzt gerade richtig kommt, wo Biedermänner unsere Regierung und Brandstifter die größte Oppositionspartei bilden.

Das grelle Plakat, die Überschrift über der Spielzeit, ist ein kleiner, tapferer Versuch, den Begriff woke zurückzuerobern, ihm seine ursprüngliche Bedeutung zurückzugeben. Toto und Konrad schreiben:

„Woke … bedeutet, wach für andere zu sein. Hinzusehen, wo Unrecht geschieht. Hinzuhören, wenn jemand an seine Grenzen stößt. Mitzufühlen, statt wegzusehen. Verantwortung zu übernehmen – statt sich hinter Ignoranz zu verstecken.“

Welch wack‘res kleines Theater, das solche Intendanten hat!

Herzliche Grüße

Ihr Christoph Tiemann

Portrait von Christoph Tiemann

Christoph Tiemann

ist Schauspieler, Kabarettist, Autor und Moderator. Aufgewachsen ist er in Selm. Zum Studium kam er 1998 nach Münster. Seit über 20 Jahren arbeitet er regelmäßig als Autor und Sprecher für den WDR. 2010 gründete er das Ensemble Theater „ex libris“, mit dem er Literaturklassiker wie „Die drei ???“, Sherlock Holmes und Dracula als multimediale Live-Hörspiele auf die Bühne bringt. Für seine Arbeit hat er viele Preise bekommen.

Der Donnerstags-Brief

Jeden zweiten Donnerstag schicken wir Ihnen im Wechsel den Preußen-Brief von Carsten Schulte und den Kultur-Brief von Christoph Tiemann.

Wenn Sie in unseren Texten Fehler finden, freuen wir uns über Hinweise. Die Korrekturen veröffentlichen wir im RUMS-Brief.

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