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Die Kolumne von Marion Lohoff-Börger | Warum kennen wir den 13. Dezember nicht?
Guten Tag,
schon bevor ich 2020 den Antrag an das Land Nordrhein-Westfalen gestellt hatte, Masematte als immaterielles Kulturerbe zu verankern, war mein Credo: Masematte sollte für die münstersche Stadtgesellschaft ein lebendiges Sprachdenkmal werden.
Warum? Weil ich bei meinen vielen Gesprächen und den darauffolgenden Recherchen in Sachen Masematte herausgefunden hatte, dass man anhand unseres Spracherbes aus dem 19. Jahrhundert sehr viele aktuelle Themen bearbeiten kann. Auch heute möchte ich das in meiner Kolumne unter Beweis stellen, und zwar anhand des aktuellen und für alle schwierigen Themas Antisemitismus.
Was haben Antisemitismus und Masematte miteinander zu tun? Die kurze Antwort lautet: Vieles. Erst am vergangenen Wochenende auf dem Design Gipfel in der Mensa am Ring stand eine Kundin an meinem Stand, die mein Masematte-Quiz ratlos in den Händen hielt. Ihre Freundin klärte sie darüber auf, was diese Masematte sei: „Das ist dieses jüdische Platt aus Münster!“
Masematte ist weder jüdisch noch Dialekt
Mein viel zu lautes und heftiges „Nein, das stimmt nicht!“ verschreckte nicht nur die beiden Kundinnen, auch alle anderen Interessierten an meinem Marktstand verstummten. Ich war auch über mich selbst erschrocken, wie heftig und laut ich reagiert habe. Die beiden waren schnell verschwunden, wen wundert’s jetzt noch: Ich hatte sie vergrault und blieb hilflos und ratlos zurück. (Ein Zustand, in dem ich mich momentan häufiger befinde und damit bin ich sicherlich nicht allein.)
Nochmal zur Erinnerung: Masematte ist eine Sondersprache, deren Wortschatz zur Hälfte aus dem Jiddischen stammt. Aber sie ist weder „jüdisch“ noch ein „niederdeutscher Dialekt“. Allein das Wort „jüdisch“ oder „die Juden“ ist für mich viel zu pauschal und drückt Menschen einen Stempel auf, der von einer furchtbaren Geschichte und immer wieder neuen negativen Fremdzuweisungen geprägt ist.
Ich zucke jedes Mal innerlich zusammen, wenn ich Leute „die Juden“ sagen höre. Deswegen habe ich mir persönlich angewöhnt zu sagen: Menschen jüdischen Glaubens. Und konsequenterweise: Menschen muslimischen Glaubens, Menschen christlichen Glaubens, Menschen, einfach nur Menschen! Menschen, die an Menschen glauben oder verzweifeln, Menschen, die eine Geschichte haben, Menschen, die eine Sehnsucht haben und Menschen, die Fehler machen können, egal welchen Glaubens sie sind.
Aber bevor ich – hilflos und ratlos, wie ich mich fühle – sonntagmorgens versuche, die globalen Probleme mit sprachlichen Finessen zu lösen, schauen wir genauer auf die Masematte. Damit kenne ich mich ja aus.
Masematte ist sexistisch, homosexuellenfeindlich – aber nicht antisemitisch
Die Masematte hat sehr viele sexistische wie auch homosexuellenfeindliche Ausdrücke. Das ist nicht zu leugnen und kann bei allen Versuchen, das alte Sprachgut wiederzubeleben, nicht häufig genug betont werden. Und nein, ich werde keine Beispiele bringen, auch wenn das immer gerne an dieser Stelle von mir erwartet wird. Ich möchte den diskriminierenden Wortschatz in der Masematte nicht reproduzieren.
Bei Sexismus und Homosexuellenfeindlichkeit, so glauben wir gerne, ist Antisemitismus und Antiziganismus, also der Hass auf Sinti:zze und Rom:nja, nicht weit. Interessant ist die Frage demnach, ob die Masematte antisemitische Tendenzen aufweist. Nach meinem Kenntnisstand kann ich klar sagen, dass im derzeit bekannten Wortschatz keine antisemitischen Ausdrücke auftauchen.
Nach dem Standardwerk von Strunge und Kassenbrock „Masematte“ aus dem Jahr 1980 gibt es drei Wörter für Menschen jüdischen Glaubens (sic!): Einmal „beisrol“, was auf das Jiddische „bar jisroel“ zurückgeht und mit „Sohn Israels“ übersetzt werden kann. Das zweite, seltener gebrauchte Wort ist „matzeachiler“, also der, der das Matzenbrot isst. „Matze“ kommt aus dem Jiddischen „mazo“ und bedeutet „ungesäuertes Brot“. Das dritte Wort lautet „keimken“ und hat seinen Ursprung im Rotwelschen, der Sprache der Sinti und Roma. Dort wurden Menschen jüdischen Glaubens „chaim“ genannt, was sich wiederum aus dem Jiddischen Wort „Chajim“ ableitet. Das bedeutet „die Lebenden“.
Ob die ursprünglichen Masemattesprecher:innen, also diejenigen, die von 1850 bis 1945 lebten, eine antisemitische Gesinnung hatten, ist nicht nachzuweisen. Sie waren Normalos wie du und ich mit allen Facetten von Abneigungen und Vorurteilen, positiven wie negativen Ambitionen.
Auch in der Zeitspanne nach 1945 kann man nicht einschätzen, ob die Masematte dazu diente, antisemitisches Denken in diskriminierende Worte zu fassen. Zunächst wurde die Masematte als sogenannte „Speismakeimersprache“ (Maurersprache) auf dem Bau, später in den sechziger Jahren von Studierenden gesprochen. In den Siebzigern und Achtzigern wurde sie als Spaß- und Karnevalssprache missbraucht. Genug abfällige und verletzende Wörter stehen aus der Masematte aber ganz sicher zur Verfügung.
Wertung im Wörterbuch
Aufgefallen ist mir in dem gelben Wörterbuch von Klaus Siewert, dass einige Erklärungen von Begriffen nicht ganz frei von negativen Vorurteilen sind. Ein Beispiel ist die Erläuterung der Bedeutung des Wortes „bezinnum“. Es bedeutet „Wurst“ und das Wörterbuch führt die gewagte etymologische Auslegung an, dass bezinnum aus dem Hebräischen abgeleitet werden könne, was bedeute, dass a) „nur der Metzger wusste, was man (in die Wurst, Anm. der Verf.) hineintat“ und b) „vielleicht aber auch, weil der gläubige Jude die Wurst aus Schweinefleisch nur im Verborgenen aß.“ (Zitat: Siewert, Klaus: von achilen bis zulemann. Das große Wörterbuch der Masematte, Münster 2009, S. 46)
Das kommt meiner Meinung nach einer Verunglimpfung der Menschen jüdischen Glaubens (sic!) sehr nahe. Im Online-Wörterbuch Tackopedia findet sich eine neutrale Übersetzung und etymologische Herleitung des Wortes als „das Wurstende“, also der Zipfel. Das ist doch für uns alle etwas beruhigender.
Auch alte Wörterbücher müssen kritisch gesichtet, überarbeitet und den soziologischen und historischen Erkenntnissen angepasst werden, die das Denken in unserer Gesellschaft (Gott sei Dank!) verändern. Auch eine Aufgabe, die die Masematte der Stadtgesellschaft als lebendiges Sprachdenkmal gibt. Stichwort: Sprachsensibilität.
Der 13. Dezember 1941 in Münster
Springen wir zum nächsten Aspekt des lebendigen Sprachdenkmals Masematte, an dem wir die Geschichte Münsters reflektieren und die Vergangenheit bearbeiten und vielleicht sogar ein Stück bewältigen können. Es geht um den Holocaust.
In drei Tagen ist der 13. Dezember, ein für uns Münsteraner:innen bedeutender Gedenktag, denn vor genau 82 Jahren wurden nachts um die 400 Menschen (sic!) aus Münster und dem Münsterland in dem damaligen Gertrudenhof festgehalten. Sie wurden am Tag darauf vom Bahnhof aus nach Riga ins Ghetto deportiert. Der Gertrudenhof war eine Gaststätte, später auch ein Kino und stand an der Ecke Hohenzollernring/Warendorfer Straße. Dort ist 1991 auf Initiative der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit eine Gedenktafel mit einem Text aufgestellt worden.
Ja, es gibt auch den bundesweiten Holocaust-Gedenktag am 27. Januar, an dem wir der Befreiung von Ausschwitz gedenken. Es gibt den 9. November, an dem wir uns an die Pogromnacht erinnern. Wir in Münster haben auch noch den 13. Dezember, an dem die spezielle Geschichte Münsters bearbeitet werden kann. Darin sehe ich als Autorin und Masematte-Expertin eine große Chance, die ich in diesem Jahr umsetzen wollte. Wollte und nicht konnte.
Ich wollte dieses Jahr am 13. Dezember im Bennohaus am Rande des Masemattesprecher:innenviertels Mochum (auch bekannt als Klein-Muffi), einen Abend der Erinnerung veranstalten. Ich wollte alle Institutionen, die einen Bezug zum Holocaust haben, einladen. Ich wollte einen Vortrag über Masematte und Holocaust halten und dabei an die Familie Weinberg aus der Sonnenstraße erinnern.
Vor allem wollte ich von Siegfried Weinberg erzählen, einem jungen Mann, der am 13. Dezember 1941 deportiert wurde. Er überlebte nicht nur vier Jahre im KZ Riga, sondern später auch das russische Arbeitslager.
Siegfried Weinberg hatte sich 1945 in Moskau nach seinen Geschwistern erkundigt, die Ende der dreißiger Jahre in die USA ausgewandert waren. Damit rückte er in den Verdacht der Roten Armee, die ihn für mehrere Jahre ins Arbeitslager schickten. Winfried Nachtwei, ehemaliger grüner Bundestagsabgeordneter und Afghanistanexperte aus Münster, hat diesen außergewöhnlichen Menschen 1991 in den USA, wohin er Anfang der Fünfziger zu seinen dort lebenden Geschwistern auswanderte, persönlich treffen können. Von dieser Begegnung berichtet Winfried Nachtwei auf seiner Website.
Auch Siegfrieds Bruder Walter Weinberg, der es schaffte, rechtzeitig vor den Nazis in die USA zu fliehen, hat eine bewegende Geschichte. Er meldete sich bei der US-Army, um Deutschland von den Nazis zu befreien, und kam bei einem Luftangriff als Pilot in Frankreich ums Leben. Das alles wollte ich erzählen.
Und ich wollte auch einen Schreibmaschinenworkshop mit meinen 25 historischen Schreibmaschinen im Bennohaus anbieten. Die Teilnehmenden hätten dadurch ihre Gedanken und Emotionen zu den Geschehnissen des 13. Dezember 1941 zu Papier bringen können. Wir wollten von außen eine Lichtinstallation an das Bennohaus werfen, mit den Namen der Deportierten, die ich auf einer alten Schreibmaschine aus den dreißiger Jahren getippt hätte. Daraus hätte ein kurzer Film entstehen sollen.
Warum daraus nichts geworden ist? Weil mein Mitinitiator dieser Veranstaltung, Rayk Ahrens, Kulturmanager im Bennohaus, Anfang Oktober ganz plötzlich und viel zu jung verstorben ist. Allein habe ich mir diese große Aktion nicht zugetraut, vor allem nicht in diesen Zeiten, und ich bin auch, ganz ehrlich, immer noch viel zu traurig wegen des Verlustes dieses wunderbaren engagierten und liebevollen Menschen, der Rayk Ahrens war.
„Beseibelter Jif“
Und genau deswegen, weil ich diese Veranstaltung nicht durchgeführt habe, gehe ich heute zumindest in meiner RUMS-Kolumne auf Antisemitismus und Masematte ein. Meinen Text möchte ich mit einem Gedicht beenden, das ich 2018 geschrieben habe, als ich gerade anfing, mich mit der Masematte auseinanderzusetzen.
Das Gedicht heißt „Beseibelter Jif“, übersetzt schmutziger Schnee. „Beseibelt“ heißt genauer sogar „bepinkelt“, was die Sache gut auf den Punkt bringt. Ich finde, und das sage ich auch als Lyrikerin, dass die Masematte keine poetische Sprache ist und schon gar nicht sollte man auf Masematte reimen. Aber in diesem Fall habe ich nur einzelne kleine Masematte-Partikel benutzt, um der Identität der deportierten Menschen vom 13. Dezember 1941, eine besondere Nuance hinzuzufügen.
Bei meinen Lesungen und Vorträgen hat das Gedicht viele Menschen tief bewegt und ja, auch zum Weinen gebracht. Und das ist wirklich gut, möchte ich Ihnen heute sagen, einfach mal zu weinen. Denn Menschen, egal welchen Glaubens (sic!), müssen in diesen Zeiten auch mal hilflos und ratlos (siehe oben!) weinen dürfen über all das Leid um uns herum. Auch das ist eine Form der Bewältigung, der Bewältigung unserer Gegenwart und unserer Vergangenheit. Und das macht uns zu verletzlichen und verletzbaren Menschen. Allesamt (sic!).
Herzliche Grüße
Ihre Marion Lohoff-Börger
Beseibelter Jif
Aus den Vierteln der Stadt
wie Beheime, Vieh, zusammengetrieben
stehen sie zitternd an der Ecke
und warten.
Es ist kalt, nur der Wind pfeift laut.
Schwaches milchiges Licht
fällt trostlos
aus der Fenete der alten Katschemme.
Schneeregen meimelt auf sie herab.
Unheilvolle Stille. Schofle Stieke.
Furchterstarrter Frost.
Sie frieren. Sie frieren. Sie frieren.
Sie halten einander an den Fehmen.
Wissend oder nicht wissend,
was die Zukunft bringt.
Sie fragen nicht,
sie wagen nicht zu fragen:
Wohin geht die Reise?
Wird es die letzte sein?
Werden wir uns wiedersehen?
War hier unsere Heimat?
Nun ist solange schon Nacht.
Schutzlos, marole, müde, verloren
stehen sie zusammen
in unheilbringender Verlassenheit,
ihre Augen suchen Halt,
ihre Hände klammern fester und fester.
Ist es soweit?
Die Angst ist groß, sie hegen hamel more,
groß wie die traurigen Augen des Kindes,
das sich am Mantel der Mutter,
der Kowe der Alsche, festhält,
weitaufgerissene Augen, die fragen:
Was passiert mit uns?
Warum wir?
Warum hilft keiner?
Warum ist es so kalt?
Es ist soweit.
Von Ferne bedrohliches Dröhnen.
Die Lastwagen.
Der Mulopenk, der Todbringer, kommt.
Sie werden sie zum Güterbahnhof bringen.
Wie Beheime
eingepfercht in einen Güterwaggon,
werden
400 Menschen
aus Münster
am 14.12.1941
um 10 Uhr
deportiert worden sein.
Jetzt beten sie, schluchzen, schreien, klagen:
Warum hast du uns verlassen?
Dann sind sie fort.
Und zurück bleibt
in frosterstarrter Stille
beseibelter Jif
schmutziger Schnee.
Aus „Marion Lohoff-Börger: Mehr Massel als Brassel. Endlich Masematte verstehen und einen toften Lenz hegen. agenda Verlag, 2018“
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Ist die Frau mit der Masematte und den alten Schreibmaschinen. Auf letzteren schreibt sie Gedichte und verkauft diese in ihrem Atelier an der Wolbecker Straße 105 als Postkarten. Die Masematte möchte die freie Autorin in Münster zu einem lebendigen Sprachdenkmal machen und versucht, dieses mit Kursen, Vorträgen, Lesungen, Büchern und Artikeln für Zeitungen und Onlinemagazine umzusetzen. 2021 stellte sie beim Land Nordrhein-Westfalen den Antrag „Masematte als Immaterielles Kulturerbe“, der abgelehnt wurde mit dem Hinweis, die Stadtgesellschaft Münster müsse sich noch mehr für dieses Kulturgut engagieren.
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