Die Kolumne von Ludwig Lübbers | Der Sozialstaat braucht Inklusion

Porträt von Ludwig Lübbers
Mit Ludwig Lübbers

Guten Tag,

Mitte August, beim CDU-Landesparteitag in Niedersachsen, stellte Bundeskanzler Friedrich Merz fest: Der Sozialstaat, „wie wir ihn heute haben“, sei nicht mehr mit dem finanzierbar, „was wir volkswirtschaftlich leisten“. Hat der Kanzler recht oder gibt es doch Alternativen?

Zurzeit erleben wir wohl die Vorboten dessen, was die demografischen Probleme aufgrund der Altersstruktur in der Bevölkerung und der immense Verlust der Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands für Folgen für unseren Sozialstaat haben werden. Zur Diskussion stehen aktuell die Abschaffung des ersten Pflegegrades in der Pflegeversicherung, Verlängerung des Renteneintrittsalters auf 70 Jahre, Kürzungen beim Bürgergeld.

Das sind nur einige Hiobsbotschaften über zukünftige Einschnitte, die wahrscheinlich viele Menschen in unserem Land hart treffen werden. Zudem scheinen sich die Krisen in der Welt weiter zu verschärfen. Sie scheinen weitere finanzielle Mittel des Staates (zum Beispiel für Rüstungsausgaben) zu binden, die dann an anderen Stellen fehlen.

Sozialabbau gefährdet die Demokratie

Die Inflation der letzten Jahre hat dazu geführt, dass das Leben spürbar für alle teurer geworden ist – insbesondere für marginalisierte Gruppen: Rentnerinnen und Rentner, Geringverdienende, Studierende sowie Menschen mit Behinderungen. Sie beziehen kleine Renten oder arbeiten in Behindertenwerkstätten zu Löhnen, die geradeso ein Existenzminimum ermöglichen.

Auch die Miet- und Wohnungspreise sind stark gestiegen. Und es sind weitere Einschnitte bei den Sozialleistungen zu erwarten. Insgesamt besteht die Gefahr, dass die soziale Ungleichheit in unserem Land drastisch zunimmt und der Sozialstaat erodiert. Mit weitreichenden Folgen: Die Unzufriedenheit in der Bevölkerung wird weiter anwachsen und extremistische Parteien wie die AfD gewinnen weiter an Zulauf. Insgesamt steht also mehr auf dem Spiel, als uns allen wahrscheinlich lieb ist. Denn ein nicht funktionierender Sozialstaat bedeutet auch insgesamt eine Gefahr für die Demokratie!

Gute Wirtschaftspolitik ist gute Sozialpolitik

Wenn man sich nüchtern aus sozialwissenschaftlicher Perspektive die Zahlen anschaut, sprechen diese leider eine eindeutige Sprache. Laut Statistischem Bundesamt werden bis 2039 rund 13,4 Millionen Menschen das gesetzliche Renteneintrittsalter von 67 Jahren überschritten haben. Eine gewaltige Zahl. Schlüsselindustrien wie die Automobilindustrie und deren Zulieferer stehen unter massivem Wettbewerbsdruck, weil die Billigkonkurrenz aus China zulegt.

Angesichts einer alternden Gesellschaft und des zunehmenden Wettbewerbsdrucks in der Wirtschaft bleibt dem Staat offenbar nur die Wahl zwischen Sparmaßnahmen und einer steigenden Verschuldung.

Das war viele Jahre anders. Die Industrie war Garant für Wohlstand und Wertschöpfung in unserem Land. Der Staat war somit in der Lage, sozialpolitische Projekte eher umzusetzen als zu verhindern. Die Politik konnte aus dem Vollen schöpfen. Der Kuchen, den es zu verteilen gab, war immer noch groß genug. Das sicherte auch die Wiederwahl der politischen Mandatsträger.

Jedoch haben sich die Rahmenbedingungen in den vergangenen Jahren gravierend geändert. Die Mechanismen von damals scheinen heute nicht mehr zu greifen. Das trifft, so glaube ich zumindest, den gegenwärtigen wirtschaftlichen und sozialpolitischen Zustand unseres Landes ganz gut.

Mit neuen Ideen raus aus dem Dilemma

Derzeit befinden sich die politischen Akteure daher wohl in einer Zwickmühle. Höhere Steuern und Sozialabgaben sind Gift für die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands – und damit auch für die Wirtschaft und den Wohlstand. Immer mehr Schulden führen auf Dauer auch nicht dazu, den Wohlstand eines Landes zu mehren. Denn wie wir gerade in Frankreich sehen, schränkt ein riesiger Schuldenberg nur die Handlungsspielräume künftiger Entscheidungsträger ein. Eine weitere Staatsverschuldung ist daher keine Lösung, da sie die Probleme weiter in die Zukunft verschiebt, und zwar zu Lasten der folgenden Generationen.

Es braucht neue, frische und kreative Ideen, um unseren Wirtschaftsstandort und Sozialstaat wieder auf Vordermann zu bringen. Nur so lässt sich Armut wirksam bekämpfen. Sonst riskieren wir eine weitere Spaltung der Gesellschaft.

Doch gibt es politische Handlungsalternativen, die dem Sozialstaat helfen könnten und die Abwärtsspirale stoppen? Insbesondere für Menschen in unserem Staat, die im Hintergrund zu wenig Lobbyisten haben?

Ich glaube schon, dass es noch unentdeckte Handlungsalternativen und Potenziale für die Politik gibt, die auch mit unseren Wertevorstellungen korrelieren. Eine Alternative könnte in einer beherzten und nachhaltig umgesetzten Inklusion liegen.

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Inklusion mit dem Ziel von mehr Barrierefreiheit könnte, ähnlich wie im Straßenbau, ein sinnvolles Konjunkturprogramm sein. Zudem dürfte ein solches Programm die Zukunftskosten des Sozialstaats verringern und dazu beitragen, die Lebensarbeitszeit von Menschen zu verlängern. Des Weiteren könnten Menschen zum Beispiel länger in ihren eigenen vier Wänden bleiben, wären eigenständiger, glücklicher und gesünder, da sie weiterhin aktiv am Leben teilhaben können.

Weniger Barrieren würden auch den Arbeitsmarkt zugänglicher machen für Menschen mit Behinderungen. Menschen, die in Behindertenwerkstätten arbeiten, hätten erheblich größere Chancen, den ersten Arbeitsmarkt zu erreichen. Zudem verhindert mehr bauliche und gesellschaftliche Barrierefreiheit die Vereinsamung von Menschen.

Denn Einsamkeit ist teuer und schadet der Gesundheit. Eine Studie aus Großbritannien in PLOS One beziffert die Mehrkosten auf jährlich 900 Pfund pro Person (rund 1000 Euro). Nicht nur ältere Menschen, sondern auch junge Erwachsene leiden wortwörtlich unter ihrer Einsamkeit.

Im Kranken- und Pflegesystem in Deutschland dürften die Zahlen ähnlich aussehen. Denn auch hier suchen einsame und alleingelassene Menschen wesentlich häufiger Ärzte auf und leiden auch öfter an psychischen Erkrankungen, deren Behandlungen sehr kostenintensiv sind. Wenn man Inklusion auf dieser Ebene denkt, müssten sich also erhebliche Kosten einsparen lassen.

Von Inklusion profitieren alle

Hier ist aber auch die Gesellschaft und nicht nur die Politik gefordert. Mehr Aufmerksamkeit, Solidarität und ein respektvolles Miteinander sind hier die Schlüsselwörter. In der Soziologie versteht man unter dem Begriff „Gesellschaft“ ein System, in dem das Individuum Halt und Orientierung findet. Ohne die Gesellschaft kann der Einzelne seine Ziele und Bedürfnisse nicht erreichen. Daher sollte die Politik alles dafür tun, Rahmenbedingungen zu schaffen, um gesellschaftliche Prozesse wieder in Gang zu setzen, um zu mehr gemeinsamen Austausch und zu gemeinsamen Zielen zu kommen.

Das Ziel von „mehr“ Inklusion ist nur ein Beispiel dafür. Eine nachhaltig und mit Elan umgesetzte Inklusion bedeutet im Prinzip einen universellen Lobbyismus für alle Menschen in der Gesellschaft. Sie versucht, jeden mitzunehmen auf dem Weg zu mehr Teilhabe und Pluralismus. Im Mittelpunkt sollte dabei eher das „Wir-Gefühl“ und ein starker Kollektivismus stehen.

Ein Beispiel hierfür wäre die Frage: Wie können wir junge und alte Menschen besser vernetzen. Schulen könnte hier eine wichtige Rolle zukommen, indem Schülerinnen und Schüler regelmäßig Alten-, Pflege- sowie Behinderteneinrichtungen besuchen. Auch sollten reiche Menschen den Blick auf die Hilfsbedürftigen nicht verlieren und mit ihrem Vermögen verantwortungsvoll umgehen. Denn auch reiche Menschen in Deutschland brauchen eine verlässliche Sozialstruktur wie zum Beispiel ein funktionierendes Gesundheitssystem.

In der derzeitigen Politik bekommt man leider nur Aufmerksamkeit für solche Prioritäten, wenn genügend Lobbyisten am Werk sind. Und hier scheint es derzeit einen Mangel für eine bestimmte Zielgruppe zu geben.

Die öffentliche und politische Wahrnehmung für diese Interessen scheint ausbaufähig zu sein, wenn man nur einen Blick auf die Lokalpolitik hier in Münster wirft. Das Ziel Barrierefreiheit ist hier lange noch kein Selbstläufer, sondern ein Ringen um jeden Zentimeter. Das habe ich als Mitglied der Kommission zur Förderung der Inklusion (KIB) von Menschen mit Behinderungen der Stadt Münster in den letzten fünf Jahren erleben dürfen.

Beim diesjährigen Oktoberfest in Münster gab es zum Beispiel zu Beginn des Festes weder Behindertenparkplätze in der Nähe des Festgeländes, noch gab es Informationen zur Barrierefreiheit der Veranstaltung auf der Homepage des Veranstalters. Auch die Lokalpresse berichtete nicht darüber, wie Menschen mit Behinderungen am Oktoberfest hätten teilnehmen können. Bei einer Begehung von Mitgliedern der KIB im letzten Jahr wurden diese Mängel gegenüber dem Veranstalter angemahnt.

Die Kommission hat in diesem Zusammenhang auch einen Ratgeber entwickelt mit dem Titel „Feste feiern in Münster – Tipps für die barrierefreie Gestaltung von (Open Air) Veranstaltungen“. Leider gewinne ich erneut den Eindruck, dass sich die Betreiber von Festen in Münster nicht an diese Empfehlungen halten.

Doch Informationen in der Öffentlichkeit über die Barrierefreiheit von Veranstaltungen und Festivitäten entscheiden auch indirekt darüber, in welcher Höhe Sozialkosten in der Gegenwart und Zukunft entstehen. Denn Inklusion ermöglicht Teilhabe und mehr soziale Kontakte. Eine inklusive öffentliche Berichterstattung signalisiert, dass die Veranstaltung inklusiv gedacht ist und unterschiedliche Bedürfnisse berücksichtigt werden. Informationen zu barrierefreien Wegen, Behindertenparkplätzen, Sanitäranlagen, Sitzplätzen und Hilfsmitteln helfen Besuchern, ihren Besuch besser zu planen und sicherer zu gestalten. Zudem gewinnen Städte und Veranstalter Vertrauen, wenn sie Transparenz zur Barrierefreiheit zeigen.

Aus früheren Versäumnissen lernen

All das ist beim Oktoberfest oder auch bei anderen Festivitäten und Veranstaltungen in Münster häufig versäumt worden. Menschen mit Behinderungen wurden womöglich damit vom Fest ausgeschlossen und indirekt diskriminiert.

Es braucht wohl noch einen lauten Weckruf, damit alle Bürgerinnen und Bürger der Stadt verstanden haben, dass alle für Inklusion aktiv einstehen müssen – insbesondere auch vor dem Hintergrund der demografischen Altersentwicklung.

Das große Ziel von Inklusion ist, den Zusammenhalt in der Gesellschaft zu stärken sowie einen breiten sozialen Austausch zu ermöglichen. Erst mit dieser Voraussetzung kann sich dann auch eine sozialpolitische Verantwortung entwickeln sowie ein Lobbyismus entstehen, der uns wahrscheinlich allen gut tun würde und dem klammen Sozialstaat helfen könnte. Denn wenn man etwas verändern möchte, sollte man vor der eigenen Haustür anfangen und nicht mit dem Finger nur auf Berlin oder einen anderen Dritten zeigen.

Also zurück zur Ausgangsfrage: Hat der Kanzler nun Recht? Wenn man sich die Zahlen, Daten, Fakten anschaut, schon. Es sind Reformen notwendig. Allerdings sollte Kanzler Merz zur Kenntnis nehmen, dass in der Umsetzung von Inklusion auch eine echte Chance besteht, die Probleme im Sozialstaat anzugehen.

Herzliche Grüße
Ihr Ludwig Lübbers

PS

Übrigens finden am 18. November 2025 um 17:00 Uhr im Stadtweinhaus von Münster die Wahlen zu den Mitgliedern der Kommission zur Förderung der Inklusion von Menschen mit Behinderungen der Stadt Münster statt. Es würde mich freuen, wenn viele Leser:innen meiner Kolumne zu den Wahlen erscheinen würden, um politische Verantwortung zu zeigen, wenn es um die Umsetzung und Erlebbarkeit von Inklusion in unserer Stadt geht. Ich bewerbe mich als Sprecher der Arbeitsgruppe 5, die für Stadtplanung und Verkehr zuständig ist. Aber auch jeder andere kann sich wählen lassen, um an diesem gemeinsamen Ziel mitzuarbeiten, um die Stadt inklusiver und barrierefreier zu gestalten.

Porträt von Ludwig Lübbers

Ludwig Lübbers

… hat an der Uni Münster Mathematik und Sozialwissenschaften studiert und anschließend das Referendariat absolviert. Heute arbeitet er als Lehrer am Freiherr-vom-Stein-Gymnasium. Von 1997 bis 2000 initiierte und betreute er das Projekt „Handicap im Internet“, eine Plattform, auf der sich Menschen mit Behinderung vernetzen und austauschen konnten. In der städtischen Kommission zur Förderung der Inklusion (KIB) setzt er sich heute für die Interessen von Menschen mit Behinderungen in Münster ein. 2021 veröffentlichte er sein erstes Buch: „L’Ultima Spiaggia – Meine letzte Hoffnung“. In seinen RUMS-Kolumnen schreibt er über Barrieren und Barrierefreiheit, über den Alltag von Menschen mit Behinderung und über Inklusion in Münster.

Die Kolumne

Immer sonntags schicken wir Ihnen eine Kolumne. Das sind Texte, in denen unsere acht Kolumnistinnen und Kolumnisten Themen analysieren, bewerten und kommentieren. Die Texte geben ihre eigene Meinung wieder, nicht die der Redaktion. Mitgliedschaften in politischen Parteien oder Organisationen machen wir transparent. Wenn Sie zu den Themen der Kolumnen andere Meinungen haben, schreiben Sie uns gern. Wenn Sie möchten, veröffentlichen wir Ihre Zuschrift im RUMS-Brief. Wenn Sie in unseren Texten Fehler finden, freuen wir uns über Hinweise. Die Korrekturen veröffentlichen wir ebenfalls im RUMS-Brief.

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