Ruprecht Polenz’ Kolumne | Wählen mit 16

Porträt von Ruprecht Polenz
Mit Ruprecht Polenz

Einen schönen Sonntag wünsche ich Ihnen.

In vier Wochen wird Melanie 16 Jahre alt. Einen Tag später, am 13. September, darf sie mit allen Gleichaltrigen den Oberbürgermeister von Münster mitwählen und darüber entscheiden, wie der Rat und die Bezirksvertretungen für die nächsten fünf Jahre politisch zusammengesetzt sind. Doch nächstes Jahr, bei den Bundestagswahlen im Herbst, ist sie wieder außen vor.

Denn um an Bundestagswahlen teilnehmen zu können, muss man 18 Jahre alt sein. Diese Grenze wurde nach langer Diskussion vor genau 50 Jahren festgelegt. Ich war damals als Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Studentenschaften (ADS) zu einer Anhörung des Deutschen Bundestages eingeladen, bei der ich mich für eine Senkung des Volljährigkeitsalters – und damit verbunden des Wahlrechts – von 21 auf 18 Jahre ausgesprochen habe. Unser Hauptargument: Wenn man wegen der Wehrpflicht mit 18 Jahren alt genug ist für die Bundeswehr, ist man auch alt genug, den Bundestag mitzuwählen.

Wahlrecht ab Geburt

Seit 1970 heißt es in Artikel 38 Absatz 2 des Grundgesetzes: „Wahlberechtigt ist, wer das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat…“ In Absatz 1 spricht Artikel 38 vom Wahlgrundsatz der „allgemeinen“ Wahl. Das bedeutet eigentlich ein Wahlrecht ab Geburt für jede/n deutsche Staatsbürger:in. Nun können Säuglinge nicht wählen, und ihre Eltern dürfen sie beim Wählen auch nicht vertreten. Die Wahlentscheidung muss höchstpersönlich getroffen werden.

Weil Wählen offenkundig eine gewisse Reife und Einsichtsfähigkeit voraussetzt, hat Absatz 2 deshalb das Wahlrecht auf 18 Jahre festgesetzt. Rechtssystematisch ist das eine Ausnahme. Die Argumentationslast liegt also streng genommen bei denjenigen, die an dieser Altersgrenze festhalten wollen, und nicht bei denen, die sie stärker in Richtung des Grundsatzes einer allgemeinen Wahl bewegen wollen.

SPD, Grüne, Linkspartei und FDP fordern jetzt, das Wahlalter auf 16 Jahre zu senken. Aber dafür müsste der Artikel 38 geändert werden. Die dafür erforderliche Zweidrittel-Mehrheit ist ohne die Stimmen der Unionsparteien nicht erreichbar.

CDU und CSU zögern vor allem deshalb, weil nach ihrer Ansicht Volljährigkeit, Geschäftsfähigkeit und Wahlrecht zusammengehören. Nur wer geistig reif dafür sei, alle Verträge abschließen zu können, sei auch reif genug, den Bundestag mitzuwählen. Ich hatte früher auch so gedacht. Aber inzwischen habe ich meine Meinung geändert.

Unsere Gesetze trauen Jüngeren auch vor der Volljährigkeit schon einiges zu. Es beginnt mit zwölf Jahren. Ab dann dürfen Kinder nicht mehr zu einem bestimmten religiösen Bekenntnis gezwungen werden. Mit 14 Jahren dürfen sie über ihre Religion ganz allein bestimmen. Mit 16 dürfen Jugendliche Wein und Bier trinken, sie dürfen in eine politische Partei eintreten und den Jugendjagdschein machen. Mit 17 darf man in der Begleitung eines Erwachsenen Auto fahren. Die Verknüpfung des Wahlalters mit der Volljährigkeit ist also keineswegs zwingend. Man kann anders entscheiden.

Dann müsse aber ab 16 auch das Erwachsenen-Strafrecht gelten, lautet ein häufig vorgebrachter Einwand. Weit hergeholt, wie ich finde. Denn auch jetzt werden Heranwachsende sogar bis 21 in aller Regel nach dem Jugendstrafrecht beurteilt.

Zukunftsbetroffenheit rechtfertigt Mitsprache

Mein wichtigstes Argument für Wahlalter 16: Unsere Gesellschaft wird immer älter. Wir müssen junge Menschen mitentscheiden lassen, denn es geht vor allem um ihre Zukunft.

Es gibt ca. 61,5 Millionen Wahlberechtigte in Deutschland. Davon sind 21 Millionen über 60, aber nur 9 Millionen unter 30. Das ist eine Schieflage, die sich durch die steigende Lebenserwartung noch weiter verschärfen wird. Wenn die 1,5 Millionen Jugendlichen zwischen 16 und 18 mitwählen dürften, würde sich das Gewicht wenigstens etwas zu Gunsten der Jüngeren verschieben.

Natürlich mache ich mir als 74-Jähriger auch Sorgen über die Erderhitzung. Aber ich denke dabei vor allem auch an unsere Kinder und Enkel. Im Unterschied zu mir würden sie die Katastrophen miterleben, wenn wir es bis 2050 nicht schafften, die Ziele des Pariser Klimaabkommens zu erreichen. Ich finde, diese Zukunftsbetroffenheit rechtfertigt Mitsprache.

Es ist ja auch nicht so, als würden wir diesen Jugendlichen eine verantwortungsvolle Teilnahme an Wahlen grundsätzlich nicht zutrauen. In elf der 16 Bundesländer ist das aktive Wahlalter bei Kommunalwahlen auf 16 Jahre festgelegt. In Bremen, Hamburg, Schleswig-Holstein und Brandenburg dürfen 16-Jährige auch den Landtag mitwählen. Mir hat noch nie eingeleuchtet, warum Kommunal- oder Landtagswahlen anders behandelt werden sollten, als eine Bundestagswahl.

Worum es bei Wahlen geht, ist genauso schwer oder leicht zu verstehen, egal um welche politische Ebene es geht. Für unser alltägliches Leben sind gut ausgestattete Schulgebäude (Sache der Stadt), moderne Lehrpläne und gute Lehrer:innen (Sache des Landes) nicht weniger wichtig als ein gerechtes Steuersystem (Sache des Bundes). Programme politischer Parteien lesen sich ähnlich trocken, unabhängig davon, ob ein Stadtrat gewählt wird, oder der Bundestag. Und bei allen Wahlen sollte man sich ein Bild von den Kandidat:innen machen.

Jugendliche seien leichter verführbar; sie neigten eher zu politisch extremen Ansichten, so ein weiteres Gegenargument. Aber wenn man sich Pegida oder die so genannten Hygiene-Demos ansieht, hat man eher den Eindruck, dass dort vor allem die über 50-jährigen Männer besonders stark vertreten sind.

Die Wahlen als Thema in den Schulen

Eine Studie von zwei Politikwissenschaftlern der Freien Universität Berlin hat Erkenntnisse aus aktuellen Landtagswahlen vorgelegt. Sie deuten darauf hin, dass Zweifel an der politischen Reife 16-Jähriger kein guter Grund sind, ihnen das Wahlrecht zu verwehren.

Auch das Kommunalwahlrecht mit 16 war anfangs umstritten. Die gemachten Erfahrungen sprechen aber nicht dagegen. Denn von anschließenden Beschwerden ist nichts bekannt. Das gilt auch für Österreich, wo 16-Jährige schon seit langem den Bundestag mitwählen dürfen. Und wenn es nach den Jüngeren gegangen wäre, gäbe es keinen Brexit und Großbritannien wäre weiter in der EU.

Viel spricht dafür, dass 16-Jährige besonders gut auf ihre erste Bundestagswahl vorbereitet werden können. Die Wahlen werden jedes Mal ein großes Thema in den Schulen sein. Man kann die Wahlprogramme der Parteien im Unterricht analysieren und Podiumsdiskussionen mit den Kandidat:innen organisieren. Bundestagswahlen wären ein zusätzlicher Hebel, um Schüler:innen für politische Diskussionen zu interessieren und die Demokratie zu stärken.

Dass wir Probleme im Bildungswesen haben, liegt auch daran, dass wir die Interessen junger Menschen zu wenig berücksichtigen. Dürften sie wählen, dann würde die kaputte Schultoilette, der Lehrer:innenmangel oder die Ausbildungsförderung eine größere Rolle spielen.

Bei jeder Änderung des Wahlrechts fragen sich die politischen Parteien verständlicherweise, was das für ihr Ergebnis bedeuten könnte. Ich denke, das hängt vor allem von ihnen ab. Auch 16-Jährige werden danach schauen, welche Partei ihre Interessen am besten vertritt, so wie das alle anderen Altersgruppen auch machen. Es liegt also an den Parteien selbst, ob sie bei den jungen Wähler:innen Erfolg haben.

Ihnen noch einen schönen Sonntag und eine gute Woche. Bleiben Sie gesund.

Ihr

Ruprecht Polenz

Porträt von Ruprecht Polenz

Ruprecht Polenz

Viele Jahre lang war Ruprecht Polenz Mitglied des Rats der Stadt Münster, zuletzt als CDU-Fraktionsvorsitzender. Im Jahr 1994 ging er als Bundestagsabgeordneter nach Berlin. Er war unter anderem CDU-Generalsekretär, zwischen 2005 und 2013 Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags. Von 2000 bis 2016 war Ruprecht Polenz Mitglied des ZDF-Fernsehrats, ab 2002 hatte er den Vorsitz. Der gebürtige Bautzener lebt seit seinem Jura-Studium in Münster. 2020 erhielt Polenz die Auszeichnung „Goldener Blogger“.

Die Kolumne

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