Die RUMS-Kolumne von Ruprecht Polenz | Unsere gemeinsame Wirklichkeit

Porträt von Ruprecht Polenz
Mit Ruprecht Polenz

Guten Tag,

einen schönen Sonntag wünsche ich Ihnen.

Niemand zweifelt daran, dass heute Sonntag ist. Wir teilen eine gemeinsame Realitätsvorstellung. Deshalb können wir uns auf das Endspiel um die Fußball-Europameisterschaft freuen oder für den Abend etwas anderes planen. Mit Menschen, die fest davon überzeugt wären, heute sei schon Montag, könnten wir das nicht.

Auch für politische Diskussionen und politisches Handeln ist ganz entscheidend, dass wir von einer gemeinsamen Vorstellung dessen ausgehen, was ist. Nur so lässt sich vernünftig erörtern, was sein sollte und geschehen müsste.

Wer glaubt, es gäbe keine menschengemachte Erderhitzung, wird jede Maßnahme zum Klimaschutz ablehnen, weil sie als Belastung wahrgenommen wird. Wer meint, Corona sei nicht gefährlicher als eine Grippe gewesen, hat jede Einschränkung der Bewegungsfreiheit zur Bekämpfung der Pandemie als diktatorischen Eingriff empfunden. Wer glaubt, Russland führe keinen Angriffskrieg gegen die Ukraine, wird weder Waffenhilfe für die Ukraine noch eine Stärkung der deutschen Verteidigungsfähigkeit befürworten.

Aber es gibt den CO2-Ausstoß, der – verursacht durch menschliches Wirtschaften – zur Erderhitzung beiträgt. Die hohe Übersterblichkeit beweist, wie gefährlich das Corona-Virus in der Pandemie gewesen ist. Wir können froh und dankbar sein, dass wir uns dagegen impfen lassen können. Und Putin hat die Ukraine überfallen, weil er dem ukrainischen Staat das Existenzrecht abspricht und das ukrainische Volk auslöschen will, denn: „Es gibt keine Ukrainerinnen und Ukrainer. Wir sind alle Russen“. Er sagt ganz offen: Ich will eine neue Weltordnung, in der der Stärkere bestimmt, wo‘s langgeht.

Es fällt auf, dass es große Schnittmengen zwischen den gesellschaftlichen Gruppen gibt, die leugnen, dass es diese Krisen und Bedrohungen überhaupt gibt. Viele sind gleichzeitig Klimaleugner, Corona-Leugner und Putin-Versteher. Sie leben in einer anderen Realität.

Die AfD ist die verbindende Klammer

Die rechtsextremistische AfD macht ihnen ein politisches Angebot, denn auch sie leugnet die Wirklichkeit. Das hat sie mit anderen rechtsextremen und rechtspopulistischen Parteien in Europa und mit Donald Trump gemeinsam, der wahrscheinlich der nächste US-amerikanische Präsident wird. Und die AfD hat mit dieser Leugnung der Wirklichkeit Erfolg. Sie hat den Vorteil des Lügners auf ihrer Seite.

„Lügen erscheinen dem Verstand häufig viel einleuchtender und anziehender als die Wirklichkeit, weil der Lügner den großen Vorteil hat, im Voraus zu wissen, was das Publikum zu hören wünscht“, sagt Hannah Arendt in ihrem Essay über „Die Lüge in der Politik“.

Das Publikum möchte möglichst nichts hören, was von ihm anstrengende, auch unangenehme Veränderungen erfordern würde, um Gefahren einzudämmen und abzuwehren. Alles soll so bleiben, wie es ist. Oder, besser noch, wieder so werden, wie man sich die Vergangenheit vorstellt. Also verschließt man lieber wie kleine Kinder die Augen und träumt sich die Gefahren weg. Und die AfD steht am Bettchen und singt das Gute-Nacht-Lied.

In dieser geträumten Welt kann die AfD den Zorn und die Wut auf alle schüren, die wecken wollen und die Vorschläge machen, wie man der Erderhitzung oder der russischen Expansion und Aggression begegnen sollte.

Medienverdrossenheit schüren

Den Boden dafür hat sie mit ihrer „Lügenpresse“-Kampagne seit langem vorbereitet. Inzwischen glaubt tatsächlich jede und jeder Fünfte in Deutschland, dass die Medien uns systematisch belügen würden. Wer denkt, dass FAZ, SZ, ARD, taz, ZDF, Spiegel, Zeit, WDR, Deutschlandfunk und wie sie alle heißen, uns systematisch belügen, wird völlig orientierungslos.

Denn unser Weltbild beziehen wir zu vielleicht 5 Prozent aus persönlichen Erfahrungen. 95 Prozent unseres Weltbildes sind medienvermittelt. Wir sind davon überzeugt, dass wir uns ein einigermaßen zutreffendes Bild von der Wirklichkeit machen können, wenn wir Nachrichten hören, Tagesschau oder Heute journal sehen und die eine oder andere Zeitung lesen. Wer das nicht mehr glaubt, hat Nebel im Kopf.

Orientierung im Nebel ist schwerer als bei dunkler Nacht. Weil es im Nebel ungemütlich ist und man wieder unter Menschen sein will, spitzt man die Ohren und reißt die Augen auf. Man sieht zuerst das grellste Licht und hört den lautesten Schreihals, macht sich auf den Weg – und landet bei der AfD. Denn ihre Einteilung der Menschen in Freund oder Feind, ihr Schwarz-Weiß-Blick auf die Welt und ihre Sündenbock-Rhetorik für alles, was nicht so gut läuft, übertönen jedes abwägende Einerseits-Andererseits.

Was all das mit den Landtagswahlen im Osten zu tun hat

Mit Sorge schauen wir auf die Meinungsumfragen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg, wo im Herbst neue Landtage gewählt werden. Wenn sich bis zu den Wahlterminen nichts mehr ändert, wird es sehr schwer werden, Landesregierungen zu bilden, die sich auf eine von demokratischen Parteien gebildete Mehrheit im Parlament stützen können.

Selbst wenn das gelingen sollte, sind solche Allparteien-Koalitionen gegen die rechtsextremistische AfD aus zwei Gründen problematisch. Zum einen erleichtern sie der AfD ihre Propaganda gegen die sogenannten Altparteien, die sich angeblich nicht mehr voneinander unterscheiden, weshalb die AfD die einzig wirkliche Alternative sei. Zum anderen verhindert eine Allparteien-Koalition, dass die beteiligten Parteien ihr eigenes Profil deutlich sichtbar machen können. Schließlich müssen alle die gemeinsame Linie aus dem Koalitionsvertrag vertreten.

Wie kommt man aus diesem Dilemma wieder raus? Bernd Ulrich hat sich in einem sehr lesenswerten Kommentar in der Zeit mit dieser Frage beschäftigt. Er sagt:

„Der alte Westen ist in eine neue Epoche eingetreten, die durch zwei Krisen gekennzeichnet ist. Die eine ist die Übermachtkrise, die Phase westlicher Hegemonie geht zu Ende. Das hat ökonomische, politische, moralische und vor allem auch militärische Konsequenzen besonders in Europa. Das zweite ist die Nebenfolgenkrise. 70 Jahre lang konnten die Kollateralschäden unseres Tuns und Unterlassens weggeschoben werden: in die Zukunft, in die Meere, in die Atmosphäre, in den Globalen Süden. Jetzt kommen sie alle zurück. Der rechtspopulistische Aufstand richtet sich dagegen, dass es diese beiden offenkundigen Krisen überhaupt gibt….

Zunächst müssten sich die vernünftigen Parteien und die debattenbereiten Bürger darüber verständigen, dass die beiden großen aktuellen Krisen eine ganz neue Zeit einläuten. Erst auf der Basis einer solchen Verständigung über die Wirklichkeit können konservative, liberale, sozialdemokratische und grüne Parteien wieder verschieden sein, Wege vorschlagen, die zu ihrer jeweiligen Identität passen.“

Mit anderen Worten: Die Frage, dass man etwas gegen die Erderhitzung und die russische Aggression tun muss, sollte immer wieder von allen Parteien als unstrittig hervorgehoben werden, damit das zur allgemeinen Einsicht wird. Daneben kann und muss man darüber debattieren, was am besten getan werden soll. Es geht dann nicht mehr um das Ob überhaupt, sondern das Wie.

Niemand stimmt einer Operation zu, wenn er nicht davon überzeugt ist, dass sie notwendig ist, um wieder gesund zu werden.

Ich wünsche Ihnen eine erholsame und frohe Urlaubszeit. Und falls Sie verreisen: Kommen Sie gut wieder heim.

Herzliche Grüße
Ihr Ruprecht Polenz

Porträt von Ruprecht Polenz

Ruprecht Polenz

Viele Jahre lang war Ruprecht Polenz Mitglied des Rats der Stadt Münster, zuletzt als CDU-Fraktionsvorsitzender. Im Jahr 1994 ging er als Bundestagsabgeordneter nach Berlin. Er war unter anderem CDU-Generalsekretär, zwischen 2005 und 2013 Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags. Von 2000 bis 2016 war Ruprecht Polenz Mitglied des ZDF-Fernsehrats, ab 2002 hatte er den Vorsitz. Der gebürtige Bautzener lebt seit seinem Jura-Studium in Münster. 2020 erhielt Polenz die Auszeichnung „Goldener Blogger“.

Die Kolumne

Immer sonntags schicken wir Ihnen eine Kolumne. Das sind Texte, in denen unsere acht Kolumnistinnen und Kolumnisten Themen analysieren, bewerten und kommentieren. Die Texte geben ihre eigene Meinung wieder, nicht die der Redaktion. Mitgliedschaften in politischen Parteien oder Organisationen machen wir transparent. Wenn Sie zu den Themen der Kolumnen andere Meinungen haben, schreiben Sie uns gern. Wenn Sie möchten, veröffentlichen wir Ihre Zuschrift im RUMS-Brief. Wenn Sie in unseren Texten Fehler finden, freuen wir uns über Hinweise. Die Korrekturen veröffentlichen wir ebenfalls im RUMS-Brief.

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