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Die Kolumne von Ruprecht Polenz | Die Macht der Erinnerung
Guten Tag,
einen schönen Sonntag wünsche ich Ihnen.
Stellen Sie sich vor, Sie wären heute Morgen aufgewacht und könnten sich an nichts mehr erinnern. Das Schlafzimmer wäre Ihnen fremd, genauso wie die ganze Wohnung. Die Menschen, mit denen Sie gefrühstückt haben, kennen Sie nicht, obwohl es Ihre Familie ist. Über Nacht haben Sie Ihre Vergangenheit verloren. Ihnen fehlt auf einmal ein großer Teil IhrerPersönlichkeit.
Ohne Erinnerung wären wir andere. Das gilt nicht nur für jede und jeden von uns, sondern auch für unsere Gesellschaft. Der November ist, wie kein anderer im Jahr, ein Monat der Erinnerung. Wir erinnern uns an verstorbene Familienangehörige und Freunde. Und wir erinnern uns an prägende Ereignisse der deutschen Geschichte. Damit stellen wir uns bewusst in den Fluss der Zeit und gewinnen Perspektiven für die Gegenwart.
Am 2. November wurde Allerseelen gefeiert. Dieser Tag, auch bekannt als „Tag des Gedenkens an die verstorbenen Gläubigen“, wird von der katholischen Kirche begangen, um der Seelen der Verstorbenen zu gedenken. Traditionell besuchen Gläubige die Gräber ihrer Angehörigen, zünden Kerzen an und beten für ihre Erlösung.
Am 17. November ist Volkstrauertag. Er wurde 1922 auf Initiative des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge eingeführt, um der gefallenen deutschen Soldaten des 1. Weltkrieges zu gedenken. Heute ist der Volkstrauertag ein bundesweiter Gedenktag, der allgemein den Opfern von Krieg, Gewaltherrschaft und Terror gewidmet ist.
Mehrfacher Tag der Erinnerung
Am 24. November, dem letzten Sonntag des Kirchenjahres, ist Totensonntag. Er wird von den evangelischen Kirchen in Deutschland als Gedenktag für die Verstorbenen begangen. König Friedrich Wilhelm III. von Preußen hatte den Tag 1816 eingeführt. Gläubige besuchen die Friedhöfe, um Kerzen anzuzünden, die Gräber der Verstorbenen zu schmücken und für sie zu beten.
Gestern war der 9. November, ein mehrfacher Tag der Erinnerung:
Am 9. November 1938 schlug in der Reichspogromnacht die Diskriminierung, Diffamierung und Ausgrenzung der Jüdinnen und Juden in systematische, offene Gewalt um. Synagogen wurden in Brand gesteckt, Juden wurden geschlagen und ermordet, ihre Geschäfte verwüstet und geplündert. Und viele sahen zu.
Am 9. November 1989 fiel die Berliner Mauer. Dieses Ereignis symbolisiert das Ende der deutschen Teilung und den Sieg der friedlichen Revolution in der DDR gegen die SED-Diktatur.
71 Jahre vorher, am 9. November 1918, hat Philipp Scheidemann vom Balkon des Reichstags in Berlin die Republik ausgerufen. Reichskanzler Max von Baden hatte kurz zuvor die Abdankung von Kaiser Wilhelm II. verkündet, ohne dass dieser zugestimmt hatte. Nur zwei Stunden später rief Karl Liebknecht die „freie sozialistische Republik Deutschland“ aus.
Am 23. November 1923 versuchten Hitler und Ludendorff, die bayerische und die Reichsregierung zu stürzen, um eine nationalsozialistische Diktatur zu errichten. Der Putsch scheiterte, weil die bayerische Landespolizei den Marsch auf die Feldherrenhalle in München gewaltsam stoppte, wobei 20 Menschen starben.
Erinnern ist wichtig für jeden von uns. Unsere Identität wird davon bestimmt. Gleiches gilt für die Gesellschaft. Auch ihre Identität wird davon bestimmt, woran sie sich erinnert – und woran nicht.
Die Chinesische Kommunistische Partei (KPC) hat das verstanden. Sie hat bei harten Strafen verboten, über das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens auch nur zu sprechen.
In der Nacht vom 3. auf den 4. Juni 1989 war das chinesische Militär gewaltsam gegen Demonstranten vorgegangen. Studentinnen und Studenten hatten mehr Demokratie und Freiheit gefordert. Die chinesische Regierung verhängte das Kriegsrecht und setzte Panzer und scharfe Munition ein, um die Demonstration niederzuschlagen. Die genaue Zahl der Opfer ist unbekannt. Schätzungen gehen von tausenden Toten aus.
Darüber darf in China bis heute nicht gesprochen werden. Denn wenn über etwas nicht gesprochen werden darf, kann sich auch niemand erinnern. Und, so das Kalkül der KPC, woran sich niemand mehr erinnern kann, das hat auch nicht stattgefunden.
Auch Putin malt intensiv an dem Geschichtsbild, an das sich die Russen gefälligst erinnern sollen. Da haben die Verbrechen des Stalinismus keinen Platz. Sie könnten das Bild von der imperialen Bestimmung Russlands und seiner moralischen Überlegenheit über andere Nationen stören.
Bei uns entsteht das Geschichtsbild aus ständiger, wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Auseinandersetzung. Der Blick auf die Vergangenheit und die Bewertung historischer Ereignisse kann sich ändern. Aus diesem Diskurs ergibt sich unsere Erinnerungskultur. Mit anderen Worten: Wir müssen über unsere Vergangenheit sprechen, damit sich in unserem Gedächtnis keine blinden Flecken bilden. Es gibt auch so etwas wie eine historische Demenz. Das Gute daran: Sie ist heilbar.
Die Unterzeichnung steht aus
Zu den Ereignissen, an die wir uns erinnern sollten, gehört auch der Völkermord an den Herero und Nama, der vor 120 Jahren vom Deutschen Kaiserreich im damaligen Deutsch-Südwestafrika begangen wurde. Mit seinem Vernichtungsbefehl hatte der Befehlshaber der deutschen Schutztruppen, General Lothar von Trotha, am 2. Oktober 1904 den ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts ausgelöst.
Sein Befehl führte zur gezielten Verfolgung der Herero, die mit Frauen und Kindern in die wasserlose Omaheke-Wüste getrieben wurden, wo viele verdursteten. Andere kamen in den Konzentrationslagern um, die in Swakopmund, Lüderitzbucht (Haifischinsel) oder Windhuk (Alte Feste) eingerichtet wurden.
Die Bedingungen in den Lagern waren extrem hart. Viele Gefangene starben aufgrund von Zwangsarbeit, Krankheiten und Mangelernährung. Zwischen 1904 und 1908 kamen insgesamt 60.000 bis 80.000 Herero und Nama ums Leben.
Als Sondergesandter der Bundesregierung habe ich zwischen 2015 und 2021 mit der namibischen Regierung darüber verhandelt, was von Deutschland getan werden kann, um die bis heute vorhandenen Wunden dieser Verbrechen zu heilen.
Die Verhandlungen wurden am 21.Mai 2021 in Berlin mit der Paraphierung einer Gemeinsamen Erklärung erfolgreich abgeschlossen: „United in Remembrance of our colonial past, united in our will to reconcile, united in our vision of the future“.
Die Unterzeichnung der Gemeinsamen Erklärung durch die namibische Regierung steht noch aus.
Ein wesentliches Ziel der Verhandlungen war es, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass in beiden Ländern eine gemeinsame Erinnerungskultur entsteht: durch gemeinsame Schulbuchprojekte, Jugendaustausch, Veranstaltungen und angemessenes Gedenken im öffentlichen Raum. In Namibia ist die Erinnerung an den Völkermord überall zu spüren. Die Kolonialzeit sollte auch in der deutschen Erinnerung kein blinder Fleck sein.
Ich wünsche Ihnen eine gute Woche.
Herzliche Grüße
Ihr Ruprecht Polenz
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Ruprecht Polenz
Viele Jahre lang war Ruprecht Polenz Mitglied des Rats der Stadt Münster, zuletzt als CDU-Fraktionsvorsitzender. Im Jahr 1994 ging er als Bundestagsabgeordneter nach Berlin. Er war unter anderem CDU-Generalsekretär, zwischen 2005 und 2013 Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags. Von 2000 bis 2016 war Ruprecht Polenz Mitglied des ZDF-Fernsehrats, ab 2002 hatte er den Vorsitz. Der gebürtige Bautzener lebt seit seinem Jura-Studium in Münster. 2020 erhielt Polenz die Auszeichnung „Goldener Blogger“.
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