Der Preußen-Brief von Carsten Schulte | Der Blick aufs Ganze

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Mit Carsten Schulte

Guten Tag,

„Fickt euch alle.“ Darf man so etwas eigentlich zum Start einer Kolumne schreiben? Das sollten Sie in keinem Fall persönlich nehmen, Sie sind vermutlich nicht gemeint. „Fickt euch alle“: So stand es im Oktober 2015 auf einem Banner in der Ostkurve des Preußenstadions.

Ringsherum brannte es lichterloh, wörtlich wie im übertragenen Sinn. Pyrotechnik hier, Ärger dort. Der SC Preußen Münster befand sich an einem Tiefpunkt, einem von vielen in den vergangenen Jahrzehnten, in denen es oft abwärts ging, seitwärts, nur nicht voran.

In den schlechten alten Zeiten wechselte der SCP stets zum Winter den Trainer, fand sich oft im Abstiegskampf wieder oder verspielte Aufstiegschancen. Und immer wieder gab es Stress zwischen Klub und Fans oder zwischen den Fans selbst. Ältere Fans werden sich an Zeiten erinnern, in denen zwei Ultra-Gruppierungen existierten, die nicht gemeinsam in der Kurve standen, sondern separiert voneinander.

Heimblöcke vom SC Preußen Münster wurden nach verschiedenen Vorfällen gesperrt, die Kurve blieb immer mal wieder leer. Im Jahr 2011 sprach der Deutsche Fußball-Bund sogar ein Verbot für mehrere Auswärtsspiele der Preußen aus. Kurzum: Der SC Preußen gab ein bedauernswertes Bild ab, wurde sogar zum Gespött gegnerischer Fans. Tenor: „Alle gegen jeden.“

Das war ziemlich genau die Stimmung. Das eher grobe Banner stand für eine Art Grundverzweiflung. Eine fast hilflose Reaktion auf alles. Das letztmögliche Mittel der Fans. Feuer und Wut.

Ein anderer Verein

Gerade zehn Jahre ist das her und vor allem im Rückblick wirkt der SC Preußen Münster heute wie ein anderer Verein. Vermutlich, weil es so ist. Seit 2018 ist der Verein offiziell nicht mehr Heimat der ersten Mannschaft. Die spielt in einer GmbH & Co. KGaA, einer Kapitalgesellschaft.

Die Ausgliederung, im Jahr 2016 mit dem Einstieg von Christoph Strässer als Präsident angestoßen, hinterließ in der Fanszene zunächst Verletzungen. Manche Anhänger aus der sogenannten aktiven Szene verabschiedeten sich angesichts der neuen Rahmenbedingungen. Es dauerte, ehe etwas Neues entstand. Dann schlug Corona ein, es folgten endlose Spiele ohne Zuschauer, ohne das Herz der Kurve. Der Torjubel verhallte vor leeren Rängen.

Man muss sich diese Entwicklung vor Augen führen, um zu verstehen, mit welcher Wucht der Doppelaufstieg den gesamten Klub erwischt hat. Warum sich die Euphorie hält, während der SCP aktuell im Abstiegskampf der 2. Bundesliga bitterhart um jeden mickrigen Punkt kämpft und sich dabei so unglaublich schwer tut. Ohne Pfiffe, ohne Theater.

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Wie das am Ende ausgeht? Das weiß niemand. Nicht einmal der Norddeutsche Rundfunk, der deswegen die Künstliche Intelligenz angeworfen hat. Sie berechnet nach jedem Spieltag, wie die Abschlusstabelle der 2. Bundesliga aussehen wird.

Die Künstliche Intelligenz verwendet den sogenannten Performance Score. Vereinfacht gesprochen, erstellt sie für jeden Spieler ein Datenmodell, das auf messbaren Leistungswerten basiert. Daraus entsteht eine Teamwertung und daraus wiederum eine Tabelle und in der wiederum wird der SC Preußen Münster am Saisonende auf Platz 15 landen. Das ist ein Nichtabstiegsplatz. Dort steht der Klub auch in dieser Woche.

Ich bin mit dieser Prognose einverstanden und wohl auch nicht der Einzige, dem das so geht. Die Preußen sind gekommen, um zu bleiben, nun, da man es 33 Jahre nach dem Abschied 1991 fast versehentlich wieder zurückgeschafft hat.

Hier und da war im Verlauf der Hinrunde zu lesen, dass man jedes Spiel genießen müsse, schließlich könne es für die nächsten 33 Jahre schon wieder das letzte sein. Ich weiß das, weil ich so etwas Ähnliches auch schon geschrieben habe.

Wenig Ansprüche, viel Hoffnung

Der SC Preußen Münster, hier die dafür zuständige Sportclub Preußen Münster 06 GmbH & Co. KGaA, hat sich demütig genug geäußert. Große Ansprüche werden in Münster sicher nicht formuliert, eher schon Hoffnungen. Gleichzeitig mühen sich die in der Kapitalgesellschaft angestellten Geschäftsführer Markus Sass und Ole Kittner, keine falschen Zungenschläge ins Thema zu bringen.

Befragt nach den Chancen für den Klassenerhalt, muss Kittner erst einmal durchatmen und lehnt dann „Netto-Botschaften“ ab. Gemeint ist: Zu viele Variablen und Abzüge spielten hinein, als dass ein Ziel sicher zu formulieren sei. Dabei hat Kittner diese Variablen im Winter selbst verändert. Zwei Winterneuzugänge hat der SC Preußen verpflichtet. David Kinsombi kam leihweise aus Paderborn. Florian Pick fest aus Nürnberg.

Beide tragen längst ihren Teil dazu bei, das sportliche Niveau der Mannschaft noch mehr an das raue Zweitligaklima anzupassen. Welchen Unterschied diese beiden Spieler machen können, hatten sie im Januar angedeutet. Pick traf bei seinem Debüt direkt zum 2:2 in Hannover. Und Kinsombi sorgt im Mittelfeld für noch mehr Ordnung, erzielte dann in Kaiserslautern ebenfalls seinen ersten Treffer.

„Es war eine gute Momentaufnahme“, sagt Kittner nüchtern. Man bekommt ihn nicht so einfach aus der Deckung, was beim SC Preußen Münster ohne jeden Zweifel eine sehr angenehme Abwechslung ist. Ganz vorsichtig formuliert er nur: „Wir haben definitiv die Chance, die Klasse zu halten. Die Zuversicht ist allemal gewachsen.“ Daran ändern auch die Niederlagen gegen Topklubs wie Kaiserslautern, HSV und Paderborn wenig. Auch nicht die verlorenen Spiele beim FC Schalke oder zuletzt gegen Nürnberg.

Kittner wählt die Zurückhaltung bewusst, aber man sollte sie keinesfalls mit Gleichgültigkeit verwechseln. „Wir sind nicht angetreten, um nur mitzuspielen. Wir wollen das Maximum unserer Leistung abrufen, zugleich dürfen wir den Blick aufs Ganze nicht verlieren und müssen unsere Bodenständigkeit behalten.“

Schritt für Schritt, nicht im Stakkato

Kittner sagt: „Der Blick aufs Ganze.“ Das ist einer dieser seltsam klugen Gedanken, die der SC Preußen Münster in den vergangenen Jahren immer häufiger entwickelt hat. Der mittlerweile in Bremen tätige Ex-Sportchef Peter Niemeyer verpasste dem SC Preußen nach dem Abstieg 2020 ein neues „Mindset“. Die Sehnsucht nach Erfolg, vor allem aber die Überzeugung, Erfolg durch Arbeit erreichen zu können.

Mit Bedacht, Schritt für Schritt, nicht im Stakkato. Das klingt banal, war aber ein neues Gefühl beim SCP. Der ganze Klub blieb in den vergangenen Jahren eher bei sich, arbeitete nach innen, veränderte interne Strukturen und Abläufe. Die Idee dahinter ist simpel: Damit es auf dem Platz funktioniert, muss es drumherum funktionieren.

Und so findet sich der SC Preußen in der ganz ungewohnten Situation, dass die Aussichten insgesamt rosig sind. Das Thema Stadion ist auf dem Weg, auf den Resten der alten Westkurve entstehen dieser Tage die Fundamente für die erste neue Tribüne. Der Verein, der noch vor wenigen Jahren mühsam auf die symbolische Marke von 1.906 Mitgliedern hinarbeitete, kratzt nun an der Marke von 9.000 Mitgliedern.

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Neue Geldgeber haben sich anstecken lassen von der Aussicht auf Wertsteigerung ihrer Anteile in der Kapitalgesellschaft, die Mannschaft schlägt sich in der 2. Liga wehrhaft. Sogar das jüngste Minus von zwei Millionen Euro nahm die Mitgliederversammlung Mitte Januar ohne Grummeln zur Kenntnis, weil dahinter ein umso höheres Plus beim Eigenkapital steckt.

Diese gewachsene Sicherheit, das neue Selbstverständnis des SC Preußen Münster, das war viele Jahre lang nicht vorhanden. „Typisch Preußen“ sei heute, erfolgreich zu sein, sagt Ole Kittner. Eine ganze Generation Fans habe den Klub nur aufstrebend kennengelernt. Das ganze alte Gerede über „die wollen ja gar nicht aufsteigen“ wirkt heute entrückt, abseitig.

Dazu gehört eine weitere Facette: Der SC Preußen wird nämlich nicht zusammenbrechen, falls es am Ende doch nicht zum Klassenerhalt reichen sollte. „Wir haben einen Kader mit einer Struktur aus aktuellen Leistungsträgern, der auch im Abstiegsfall bestehen bleiben würde“, sagt Kittner. Und weil man an der Hammer Straße den Blick aufs Ganze behalten will, wurde ein Abstieg auch in die Mittelfristplanungen eingepreist.

„Wir könnten bis zur Fertigstellung des Stadions auch in der 3. Liga einen wettbewerbsfähigen Etat stellen“, betont Markus Sass. Er ist als Geschäftsführer unter anderem für Finanzen und das Großthema Stadion zuständig. Beides ist eng miteinander verknüpft, aber nicht voneinander abhängig. Das vorhandene Eigenkapital ist ausreichend stabil, um die Zeit bis zur Eröffnung des Stadions überbrücken zu können, sagt er.

Das Mantra: alle zusammen

In der tieferen Spielklasse könnte der SCP ohne das neue Stadion zwar noch keine „schwarze Null“ erwirtschaften, aber immer noch einen Etat für das Mittelfeld der Liga stellen. Wobei hier anzumerken wäre, dass es der SCP mit so einem Mittelfeld-Etat in die 2. Bundesliga geschafft hat. Manches mag planbar sein im Fußball, aber am Ende hat der Sport seinen eigenen Kopf

Das neue Stadion werde den SC Preußen ab Mitte 2027 nachhaltig wettbewerbsfähig machen, weil es über mehr Plätze verfügt, vor allem aber über ganz neue Vermarktungsmöglichkeiten, wie Sass sagt. Spätestens ab 2027 will der SC Preußen damit ligaunabhängig wettbewerbsfähig sein und aus eigener Kraft einen ausgeglichenen Haushalt stellen können. Sass: „Dann beginnt eine neue Zeitrechnung.“

Bis dahin muss der schlimmste Fall eingerechnet werden, der aber so schlimm nicht ausfallen würde. Zumal ein Abstieg in die 3. Liga von der Deutschen Fußball-Liga (DFL) finanziell abgefedert würde. Der sogenannte „Rettungsschirm“ sieht eine Sonderzahlung von 500.000 Euro für die Zweitliga-Absteiger vor, die allerdings zweckgebunden für die jeweiligen Nachwuchs-Leistungszentren gedacht ist.

Das soll in Münster zwar erst zum 1. Juli an den Start gehen und käme auf dem Papier zu spät, doch gibt es die Zusage der DFL, dass auch der SC Preußen auf diesen Rettungsschirm zugreifen könnte. Weitere, mindestens 600.000 bis 900.000 Euro erhielte der SCP aus einem gemeinsamen Solidar-Topf aller Zweitligisten.

Doch mindestens so wichtig wie das Geld ist etwas anderes. Es ist das neue Gefühl, das rund um den SC Preußen Münster entstanden ist. Das Gefühl, das sich nicht nur auf sportlichen Erfolg stützt, sondern auf das gemeinsame Erlebnis. „Alle zusammen für Preußen Münster“ ist das Mantra.

Man fühlt das im Preußenstadion, aber auch im Berliner Olympiastadion, im Volkspark, in Hannover, auf Schalke. Es ist ein starker Herzschlag des Klubs. Vielleicht war er zuletzt in den Fünfzigerjahren so spürbar und das waren die guten alten Zeiten. Aber weil der Fußball eben seltsam ist, steckt der SC Preußen Münster heute mittendrin in seinen guten alten Zeiten.

Herzliche Grüße

Ihr Carsten Schulte

Portrait von Carsten Schulte

Carsten Schulte

…stammt aus dem Münsterland, hat mal Buchhändler gelernt, arbeitet aber seit fast 20 Jahren als Journalist für verschiedene Medienhäuser. Den SC Preußen Münster begleitet er mittlerweile mit seinem eigenen Magazin preussenjournal.de. Von ihm sind auch einige Bücher und Magazine über den Klub erschienen.

Der Donnerstags-Brief

Jeden zweiten Donnerstag schicken wir Ihnen im Wechsel den Preußen-Brief von Carsten Schulte und den Kultur-Brief von Christoph Tiemann.

Wenn Sie in unseren Texten Fehler finden, freuen wir uns über Hinweise. Die Korrekturen veröffentlichen wir im RUMS-Brief.

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